Nach der bitteren Niederlage beginnen bei den Sozialdemokraten die Grabenkämpfe. Müntefering will (noch) Parteichef bleiben, Steinmeier die Fraktion führen.
Rücktritt? Zumindest nicht sofort. Diese Woche auch nicht mehr. Und in der nächsten? Mal sehen. Was Franz Müntefering gestern nach der Vorstandssitzung im Willy-Brandt-Haus aufführte, erinnerte stark an eine politische Variante des Katz-und-Maus-Spiels. Eine Andeutung, zu mehr wollte der SPD-Vorsitzende sich nicht bereit erklären: Auf die Frage, ob es richtig sei, dass er auf dem Parteitag im November nicht erneut antreten wolle, sagte der 69-Jährige: "Sie können davon ausgehen, dass Sie nahe an der Wahrheit sind mit Ihren Worten."
Nah an der Wahrheit zu sein scheint im Moment unmöglich in der SPD. Es ist ein Kleinkrieg der Parteiflügel über die Deutungshoheit und die notwendigen Folgen des katastrophalen Wahlsonntags ausgebrochen. Und Franz Müntefering, man darf ihn ab jetzt wohl den Noch-Vorsitzenden nennen, wirkt nur noch wie ein unbeteiligter Zuschauer.
Zwei konkrete Rücktrittsforderungen habe es in der Vorstandssitzung gegen ihn gegeben, sagte er gestern knapp. "Ich habe darauf nicht reagiert." Der Parteivorsitz sei eine Sache, "die nicht morgen erledigt werden muss", sondern "in einem geordneten Prozess" spätestens in zwei Wochen. Aber Frank-Walter Steinmeier in der Doppelrolle als Fraktionschef im Bundestag und als Parteichef, das sei für ihn sofort akzeptabel. Steinmeier habe als Kanzlerkandidat an Statur gewonnen, und dessen Bewerbung als Oppositionsführer sei "von allen begrüßt" worden. Müntefering hätte es kaum deutlicher sagen können, wie er sich die Zukunft der Partei und seine persönliche vorstellt. Wenn Steinmeier auch als Parteichef gesichert ist, will er abtreten. Vorher nicht. Doch macht das die Partei so mit?
Der Tag eins nach der schlimmsten Wahlnacht aller Zeiten für die deutsche Sozialdemokratie war kein Müntefering-Tag. Und er begann für den SPD-Chef schon am frühen Morgen mit giftigen Worten. Berlins Regierender Bürgermeister Klaus Wowereit meldete sich - wie schon am Sonntag - als Erster zu Wort. "Wir brauchen eine Aufstellung mit neuen Kräften. Auf dem Dresdner Parteitag im November müssen neue Akzente gesetzt werden", gab Wowereit im Deutschlandradio Kultur die inhaltliche Marschrichtung für den Tag vor. Der rot-rote Bürgermeister sieht offenbar seine Chance gekommen, in der Bundespolitik noch etwas werden zu können. "Wir müssen uns inhaltlich aufstellen - da müssen Tabus weg", sagte er noch. Er musste nicht mehr darauf hinweisen, dass er persönlich gern und beispielhaft mit der Linkspartei in der Hauptstadt regiert. Die Bewerbung für den Parteivorsitz war hörbar genug.
Aber Wowereit war noch nicht am Ende: In der Opposition habe die SPD nun die Möglichkeit, sozialdemokratische Politik "ohne Kompromisse" zu betreiben. Dann stellte er die Rente mit 67 infrage - dieser Beschluss der Großen Koalition sei emotional keinem Bürger zu vermitteln gewesen.
Auch Johannes Kahrs hatte Wowereits Äußerungen am Morgen gehört. Der Hamburger SPD-Abgeordnete konnte kaum verhehlen, dass sie ihm auf die Nerven gingen. "Wir sollten eine Woche abwarten und ganz in Ruhe über mögliche Konsequenzen nachdenken", sagt er dem Abendblatt. "Radikale Erneuerungsprozesse bringen nur etwas, wenn man sie nicht überstürzt." Kahrs gehört als Sprecher des konservativen Seeheimer Kreises zum rechten Flügel der SPD. Der linke Flügel bezeichnet ihn als Agenda-Politiker, also den Typ SPD-Politiker, der Hartz IV und die Rente mit 67 für richtig und notwendig hält. Kahrs hat seinen Wahlkreis Hamburg-Mitte eindeutig gewonnen. Aber nun, einen Tag nach diesem Erfolg, musste sich Kahrs ausgerechnet von Wowereit, dessen Berliner Landesverband hinter CDU und Linkspartei auf Platz drei gestürzt ist, anhören, was man in der Partei alles falsch gemacht habe.
Es sind Begebenheiten wie diese, die die Zerrissenheit der SPD sichtbar machen. Dabei scheint die Richtung, in die die Partei gehen muss, um überhaupt noch eine Machtoption zu besitzen, glasklar. An der Linkspartei führt kein Weg mehr vorbei. Das sah auch Müntefering gestern ein. Fast schon entschuldigend sagte er, dass es jetzt keine Zusammenarbeit gegeben hätte, aber "auf der mittleren Distanz" durchaus. Die nächste mittlere Distanz endet vorerst 2013. Rot-Rot-Grün im Bund wird dann nicht mehr eine Option sein, sondern die einzige Möglichkeit, als potenzielle Regierungspartei zu überleben.
Aber zuerst stellen sich andere, bittere Fragen: Ab welcher Prozentzahl darf sich eine Partei noch Volkspartei nennen? Ist die SPD noch eine Volkspartei, wenn sie gerade 8,4 Prozentpunkte vom neuen Juniorpartner der Union trennen? Oder in Münteferings Worten: "Was ist da eigentlich los?" Im Präsidium soll es gestern weder Kritik am Regierungsprogramm noch am Grundsatzprogramm gegeben haben.
Die Partei ist schon in Ordnung so, war man sich einig. Woran lag es also, dass fast zwei Millionen Wähler, die vor vier Jahren noch SPD gewählt hatten, dieses Mal zu Hause geblieben waren? Vielleicht waren elf Jahre an der Regierung dem Wähler einfach genug. "Noch einmal SPD" hätte "noch einmal Große Koalition" bedeutet, versuchen sich einige Genossen zu erklären.
Die beinahe unheimliche Ratlosigkeit in der Parteizentrale braucht ein Ventil. Vor der nun beschworenen Erneuerung der Partei wird vor allem kluges Krisenmanagement gefragt sein. Der Krisenmanager soll Steinmeier heißen, der Diplomat. Er wird eine neue Mannschaft zusammenstellen müssen, die ihn stützt. Aber wen soll er einbinden? Die Personaldecke ist ausgedünnt. Und die bisher genannten Namen Andrea Nahles, Klaus Wowereit, Sigmar Gabriel und Olaf Scholz wecken kaum Aufbruchstimmung. Die Partei hat keinen Star und keine Galionsfigur. Sie hat im Moment keine Alternative zu Steinmeier. Seine Wahl zum Fraktionschef gilt als sicher. Aber nicht um jeden Preis. Eine Abkehr von den Sozialreformen werde er nicht mittragen.
Unumstritten ist Steinmeier nicht. Dem sonst bundesweit kaum wahrnehmbaren SPD-Fraktionsvorsitzenden in Mecklenburg-Vorpommern, Norbert Nieszery, platzte gestern angesichts Steinmeiers Kandidatur der Kragen: "Herr Steinmeier steht für die SPD, die über die Maßen Glaubwürdigkeit bei den Menschen verspielt hat." Der Anspruch auf die Fraktionsführung sei "sehr bedenklich". Es gebe andere, die den Posten übernehmen könnten. Er habe kein Problem mit einer Kampfabstimmung. Es gibt Stimmen, die mehr Gewicht haben und die ihre Wirkung entfalten werden. Noch warnen SPD-Vize Nahles und Bundesumweltminister Gabriel vor Streit in den eigenen Reihen. "Was wir jetzt nicht gebrauchen können, ist, dass unsere Partei auseinanderfällt", sagte Nahles der ARD. Gabriel fügte im "Spiegel" hinzu: "Wir haben alle zusammen verloren. Ich halte nichts von Schuldzuweisungen." Nahles und Gabriel werden Steinmeier als Oppositionsführer im Bundestag unterstützen. Darüber, wer die Partei führen soll, sagten sie lieber nichts.