Die Daten sind im Internet nicht sicher. Das Projekt der elektronischen Gesundheitskarte ist ein Milliarden-Flop, warnt eine Hamburger Hausärztin.
Hamburg. Seit 2006 sollte sie jeder schon im Portemonnaie haben: die elektronische Gesundheitskarte (e-Card). Eine Milliarde Euro wurde dafür ausgegeben, auf das angebliche Wunderwerk warten wir noch. Das Zauberkärtchen sollte das Gesundheitswesen revolutionieren und alles besser und billiger machen: Das versprach Ulla Schmidt (SPD) 2006. Es folgte eine Galavorstellung aus der Reihe Pleiten, Pech und Pannen.
Alle Patientendaten sollten übers Internet geleitet, auf Internetservern in zentralen Patientenakten gespeichert werden, zwei Millionen "Teilnehmer am Gesundheitswesen" jederzeit darauf zugreifen können. Rezepte sollten nur noch auf der Karte gespeichert und durch die Notfalldaten auf dem kleinen Kärtchen jeder im Notfall auf der Stelle gerettet werden können.
Angebliche Einsparungspotenziale in Milliardenhöhe pro Jahr standen als Ergebnis unter Fantasie-Kalkulationen wegen der Vermeidung angeblich überflüssiger "Doppeluntersuchungen". Daneben sollte die deutsche Wirtschaft von diesem "weltgrößten IT Projekt" direkt aus der Steuer- und Krankenkassenschatulle profitieren. Was kommt jetzt, Ende 2011? Eine Gesundheitskarte, die nur noch ein digitales Gerippe ist. Selbst die Krankenkassen sind von dem Projekt nicht mehr überzeugt. Mit der Androhung von Millionenstrafen für die gesetzlichen Kassen soll es ab Oktober durchgesetzt werden.
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Das neue Kärtchen kann nicht mehr als die jetzige Versichertenkarte, aber ist viel teurer. Es gab aufwendige Tests, in denen e-Rezept und Handhabung getestet wurden. Die Ergebnisse waren niederschmetternd. Nichts hat funktioniert. Statt dass die neue Technik Ärzten die Arbeit erleichterte, passierte das Gegenteil. Die Abläufe in den Praxen verlangsamten sich, das e-Rezept legte die Praxisarbeit lahm. Patienten wie Ärzte hatten die sechsstelligen PIN-Nummern stets vergessen. Nicht mehr, sondern weniger Gesprächszeit beim Arzt war das Ergebnis.
Der "Notfalldatensatz" auf der Karte ist ein weiteres Beispiel für eine fehlerhafte Argumentation. In allen Akzeptanzumfragen der Industrie wird suggeriert: Wollen Sie im Notfall gerettet werden, weil Ihre Blutgruppe auf Ihrer Karte steht? Wer will da Nein sagen?
Dabei ist der Industrie-Lobby bekannt, dass jeder im akuten Notfall erst eine Art Standardblutkonserve bekommt und im Krankenhaus die Blutgruppe stets neu getestet werden muss.
Ein anderes Beispiel für die irreführende Werbung: Durch das Foto auf der Karte soll der Missbrauch gestoppt werden. Nach den EU-Datenschutzrichtlinien müsste die Übereinstimmung von Foto und Versichertem geprüft werden . Das geschieht nicht. Wer es darauf anlegt, reicht ein falsches Foto ein und kann ungehindert betrügen. Kassen und Gesundheitsökonomen wie Prof. Jürgen Wasem warnen außerdem, dass das Projekt ein ökonomischer Flop ist. Datenschützer sind alarmiert, weil niemand die Gesundheitsdaten im Internet vor Hackern und anderem Missbrauch sichern kann. Normalerweise sollte dies alles zur Einstellung des Mammutprojekts führen.
Aber hier geht es um zu viel Geld für die IT-Industrie, die offensichtlich gute Drähte nach Berlin hat: Sprach sich Gesundheitsminister Daniel Bahr vor der Wahl vehement gegen die Karte aus, setzt sein Ministerium nun die Industrieforderungen in Gesetze um.
Steigende Zusatzbeiträge hin oder her: Nun also müssen die Kassen gezwungenermaßen an zehn Prozent ihrer Versicherten bis Jahresende die e-Cards mit Foto ausgeben, ob sie wollen oder nicht.
Bis zu 14 Milliarden soll der digitale Transrapid kosten. Geld, das nutzlos verbrannt wird - und das anschließend da fehlt, wofür die Bürger es zahlen: für die Patientenversorgung.
Dieser Unsinn gehört auf den Müllhaufen der Gesundheitspolitik. Die Milliarden müssen dort eingesetzt werden, wo sie wirklich gebraucht werden: in der Finanzierung eines guten Gesundheitswesens für jeden Bürger, in Medizin auf hohem Niveau für die Menschen. Gesundheit ist keine Ware, Medizindaten sind kein Geschäftsfeld. Und: Krankheitsdaten gehören nichts ins Internet.
Dr. Silke Lüder, 58, ist Allgemeinmedizinerin in Hamburg-Bergedorf