Hamburg. Theaterserie am Schauspielhaus, Bestseller am Thalia, John Malkovich und Geheimtipps – ein Überblick über die Spielzeit 2023/24.
Am Thalia Theater begann die Spielzeit mit der Inszenierung eines Bestsellers – eine Aufführung, die immerhin der Autor zum Niederknien fand. Es war der Saison-Startschuss – einen Tag, bevor auf der Hamburger Theaternacht 8000 Besucherinnen und Besucher die Bühnenlandschaft feierten. 30 Theater haben zum Spielzeitauftakt exklusive Kostproben kommender Premieren gegeben und Einblicke hinter die Kulissen gewährt. Das Programm ist in diesem Jahr besonders vielseitig, die Stadt ist groß, wie soll man da den Überblick behalten?! Brauchen Sie nicht – wir übernehmen das für Sie. Die wichtigsten Fragen, die deutlichsten Antworten, bitte sehr:
Theater Hamburg: Was muss man in dieser Saison gesehen haben?
Unbedingt die Antikenserie am Schauspielhaus. Hausherrin Karin Beier bringt in „Anthropolis. Ungeheuer. Stadt. Theben“ ab dem 15. September die großen antiken Mythen in einer fünfteiligen Fortsetzungsserie heraus. Die Klassiker von Aischylos, Sophokles und Euripides dürften darin nicht nur dank der modernen Übertragung von Autor Roland Schimmelpfennig sehr heutig klingen. Und das ganze Ensemble macht mit: von Lina Beckmann bis Dauergast Devid Striesow.
Um Macht und ihren Missbrauch dreht sich auch oben erwähnter Bestseller, Benjamin von Stuckrad-Barres Roman „Noch wach?“, an dem man im Frühjahr einfach nicht vorbeikam. Regisseur Christopher Rüping braucht für seine Bühnenversion im Thalia Theater mehr als drei Stunden, sein Schauermärchen hat allerdings Lust am Schrillen, hält trotzdem auch die Widersprüchlichkeiten aus und hat noch Kürzpotenzial, aber auch einige ziemlich kurzweilige Momente. Wiederaufgenommen wird am Thalia der Stuckrad-Bestseller-Vorgänger „Panikherz“. Lohnt sich!
Und allen, die internationale Theaterkunst schätzen, sei der Besuch eines raren Gastes empfohlen: Simon McBurney und seine legendäre Company Complicité schauen am 27. und 28. Oktober mit dem Bühnenkrimi „Drive Your Plow Over The Bones of The Dead” im Thalia Theater vorbei. Im nächsten Frühjahr kommt dann sogar John Malkovich ans Thalia Theater: „In the Solitude of Cotton Fields“ heißt sein Gastspiel – zuletzt hatte Malkovich 2017 in Hamburg in der Elbphilharmonie Theater gespielt.
Immer stark gefragt sind die Produktionen der Theatergruppe Signa. Der Vorverkauf für die neue Schauspielhaus-Theaterinstallation „Das 13. Jahr“, die die Besucher ins Geschehen hineinzieht und – Achtung! – zu Beteiligten macht, läuft – und es ist bereits nahezu ausverkauft.
Und im Musiktheater? Was darf ich nicht verpassen?
Wenn Altmeister Frank Castorf Hand anlegt, ist Gesprächsstoff garantiert. Abwarten, ob Mussorgskys „Boris Godunow“ über eine zerfallende Ordnung in Russland ab dem 16. September in der Staatsoper für einen Aufreger sorgt. Sitzfleisch ist dabei ganz sicher gefragt.
Mit der allseits gefeierten litauischen Sopranistin Asmik Grigorian ist zudem ab dem 29. Oktober ein echter Superstar in Richard Strauss‘ „Salome“ zu erleben.
Ich mag Tanz. Wo bin ich da besonders gut aufgehoben?
Man hat schon nicht mehr daran geglaubt, aber nun tritt der ewige Intendant des Hamburg Balletts, John Neumeier, mit der 51. tatsächlich auch die letzte Saison seiner Intendanz an. Die Neumeier-Ära erzählt eine Erfolgsgeschichte, die weltweit Ihresgleichen sucht. Darum unbedingt noch mal hingehen! Es ist egal, ob zum Repertoire oder zum Beispiel zur Wiederaufnahme von „Endstation Sehnsucht“ nach Tennessee Williams ab dem 17. September. In wechselnden Besetzungen tanzen unter anderem Anna Laudere und Ida Praetorius die Rolle der Blanche.
Ein Jubiläum feiert derzeit auch die Berliner Choreografin Sasha Waltz. Seit 30 Jahren behauptet sie sich mit ihrer weltweit gefeierten, freien Tanzkompanie. Auch Kampnagel gratuliert, und zwar im April 2024 mit „Beethoven 7“ von Sasha Waltz & Guests.
Theater Hamburg: Abgesehen von Premieren, was sind echte Knaller im Programm?
Kirill Serebrennikovs „Barocco“ am Thalia Theater ist hochmusikalisches und bildgewaltiges Überwältigungstheater. Karin Henkels Shakespeare-Auslegung „Richard the Kid & the King“ glänzt mit einer präzisen Analyse des Bösen, in der Titelrolle grandios verkörpert von Lina Beckmann. Dem Ernst Deutsch Theater ist ein mutiger Start in die neue Saison geglückt. Bis zum 22. September zeigt Regisseur Elias Perrig die gelungene Inszenierung „Am Ende Licht“ des britischen Dramatikers Simon Stephens.
Sehr gute Unterhaltung liefert verlässlich die Neuinszenierung der „Dreigroschenoper“ im St. Pauli Theater. Karten gibt es wieder für den 2. bis 6. Oktober. Und Dörte Hansens „Altes Land“ läuft im Ohnsorg Studio noch einmal im Dezember.
Ich würde gern mal wieder lachen. Wo muss ich hin?
Hier muss man eine Juristenantwort geben: Das kommt darauf an. Auf den Humor natürlich. Der lustigste Stücktitel ist vielleicht dieser: „Die Schattenpräsidentinnen Oder: Hinter jedem großen Idioten gibt es sieben Frauen, die versuchen, ihn am Leben zu halten“. Premiere ist am 6. April 2024 am Schauspielhaus. Zu erwarten ist in der Regie von Claudia Bauer eine turbulente Farce, die dem Patriarchat gnadenlos den Spiegel vorhält.
Anne Lenk wiederum inszeniert am Thalia Theater auch Klassiker wie „Drei Schwestern“ so, dass sie mit origineller Situationskomik für viele Lacher sorgen. „Drei Schwestern“ wird am 7. Oktober wieder aufgenommen, im Juni 2024 folgt Lenks Version von „Emilia Galotti“. Eigentlich eine Tragödie. Man wird sehen. Das komödiantische Erfolgsduo Peter Jordan/Leonhard Koppelmann bringt ab dem 1. März 2024 „Marie Antoinette – oder: Kuchen für alle!“ unter anderem mit Anna Thalbach an ungewohntem Ort, nämlich in der Komödie Winterhude, heraus.
Auch das Ernst Deutsch Theater setzt auf einen unterhaltsamen Klassiker. Ab dem 30. November stellt hier „Cyrano de Bergerac“ seine Dichtkunst in den Dienst eines jungen Verehrers, der, wie er selbst, die junge Roxane begehrt.
Und apropos Präsidentinnen: „Die Präsidentinnen“ im Malersaal ist in der Regie von Viktor Bodo und mit Lina Beckmann, Ute Hannig und Bettina Stucky ein wirklich skurriler, liebevoll durchgeknallter Dauerbrenner. Läuft wieder am 8. Oktober und gleich zweimal an Silvester.
Alles schon gesehen, alles schon vorgemerkt. Gibt es noch einen Geheimtipp?
Für alle mit Vorurteilen: das Ohnsorg Theater. Hier gibt es tatsächlich echte Entdeckungen zu machen, verstaubt und trutschig geht es am Heidi-Kabel-Platz schon lange nicht mehr zu. Am 5. November zum Beispiel bringt Regisseurin Nora Schumacher „Eine Stunde Ruhe“ auf Platt- und Hochdeutsch heraus, eine Komödie des französischen Autors Florian Zeller, dessen Erfolgsstücke sonst am St. Pauli Theater laufen. Im Ohnsorg nennt es Oberspielleiter Murat Yeginer salopp „Erkkis Stunde Ruhe“ – Publikumsliebling Erkki Hopf spielt die egozentrische Titelfigur. Noch mal Ohnsorg: Die Heimat-Komödie „Sommerfest“ nach dem Roman des Bochumer Autors Frank Goosen wird untermalt mit dem Sound der 80er. Regie führt Yeginers Tochter Ayla Yeginer – sie wiederum wird 2025 Co-Intendantin des Ernst Deutsch Theaters.
Wir waren außerdem zuletzt sehr angetan von verschiedenen Produktionen an Hamburgs kleinster Bühne, dem Theater Das Zimmer in Horn. Hier soll in dieser Spielzeit erneut Mares-Preisträger Jascha Schütz auf der Bühne stehen, nämlich in „Die Leiden des jungen Werther“. Wem Horn zu weit ist: Jascha Schütz spielt auch den John Lennon im Beatles-Musical „Backbeat“ am Altonaer Theater.
Und das Thalia in der Gaußstraße ist zwar ganz sicher kein Geheimtipp mehr, aber doch unbedingt ein Juwel im Ottenser Hinterhof mit starkem Programm, guter syrischer Gastro – und mit der neuen S-Bahn-Station „Ottensen“ auch viel besser zu erreichen als je zuvor. Mit „Doughnuts“ inszenierte der Japaner Toshiki Okada hier erstmals am Thalia Theater und wurde prompt zum Berliner Theatertreffen 2022 eingeladen. Mit „No Horizon“ kommt am 2. Dezember seine neue Uraufführung. Auch wenn man mit diesem Titel also zunächst nichts anfangen kann – das „Risiko“ lohnt sich.
Theater Hamburg: Wohin mit Kindern und Jugendlichen?
Am besten zu Oma und Opa. Nein, im Ernst: Vielversprechend ist immer das Junge Schauspielhaus. Die Produktionen der Regisseure Alexander Riemenschneider und Klaus Schumacher kann man quasi blind empfehlen, aber auch der Ort an ist sich einen Besuch wert: Schon im Foyer der Bühne am Barmbeker Wiesendamm ist die Welt poetisch auf den Kopf gestellt. In der vergangenen Saison war dort übrigens „Das jüngste Gericht“ (ab 8 Jahren) toll: dank Kindern, die einfach mal die Regeln der Welt in ihre klugen Hände nehmen. Läuft wieder am 7. und 8. Oktober. Wieder aufgenommen werden außerdem die Dauerbrenner „Romeo und Julia“ (ab 13 Jahren) und „Subjekt Woyzeck (Into The Void)“ (ab 14 Jahren).
Ins Ohnsorg Studio kommt vom 1. Oktober bis zum 20. November eine plattdütsch-hochdeutsche Bühnenversion der originellen Hamburger Kinderbuch-Reihe „Die Muskeltiere – Een för all, all för een“ von Ute Krause (ab 6 Jahren). Wenn wir uns etwas wünschen dürften, wäre es im selben kleinen Bühnenraum die Wiederaufnahme von Kirsten Boies Jugendstoff „Ringel Rangel Rosen“, in der uns besonders die junge Hamburger Schauspielerin Sofie Junker auffiel.
Und wenn ich aber eigentlich viel lieber netflixe, als ins Theater zu gehen…?
Leute, das echte Leben ist da draußen. Und gegen den Netflix-Sog hilft nur die volle Dröhnung: Binge-Watchen kann man in dieser Saison schließlich auch am Schauspielhaus. Intendantin und Regisseurin Karin Beier inszeniert die alten Griechen als Antiken-Serie. Alle zwei Wochen ein neuer Teil und schon jetzt gibt es Termine für Marathon-Wochenenden (17. bis 19. November, 8. bis 10. Dezember, 12. bis 14. April 2024, 24. bis 26. Mai 2024), an denen man alle fünf Teile hintereinander wegsuchten kann. Gegen die Sippenverstrickungen in „Ödipus“ und „Antigone“ sind „Succession“ und „House of Cards“ die reinsten Kindergeburtstage.