Hamburg. Das „musikalische Manifest“ des russischen Exil-Regisseurs „BAROCCO“ ist am Thalia eine Revue der ununterdrückbaren Gefühle.

Was für ein poetisches und gleichzeitig politisches Bild, dieser stolze Widerstand durch und mit Musik. Auf der abgedunkelten Bühne nur ein Flügel. Der Pianist, symbolträchtig in Weiß und anonymisierend abgewandt, ist mit seiner Rechten an einen vermummten Staatsmacht-Schergen gekettet. Und spielt Bach: Brahms‘ Bearbeitung der d-Moll-Chaconne für die linke Hand. Spielen, was rausmuss, solange es nur – selbst so – irgendwie geht.

In diesem zeitlosen, 303 Jahre alten Stück, das im Original für Violine zum Allerheiligsten gehört, wird der Themengedanke einer Bassfigur wieder und wieder variiert. Das muss man nicht als Günter-Jauch-Knopfdruck-Wissen parat haben, denn zu fühlen ist es ja auch ohne Musikwissenschaftsstudium. 32-mal wird mit nur einer Hand ein Weg nach vorn gesucht, nach oben, ein Ausweg, ein Lichtstrahl. Diese eine Lücke zum selbstbestimmten Weiteratmen. Und gleichzeitig, am anderen Ende der Handschellen, steht da dieser uniformierte Ork in Schwarz, raucht eine und wartet gelangweilt, während der Gefangene wortlos, unbeugsam und mit seinen Mitteln des Humanismus gegen unmenschliche Behandlung protestiert.

Ein Spiel mit dem Feuer

Nur eine der vielen starken Szenen, mit denen Kirill Serebrennikov in seiner wild in die Extreme gehenden Widerstands-Gala „BAROCCO“ im Thalia Theater einem kurz den Atem zu rauben vermag. Der Pianist ist Daniil Orlov, sein Kapellmeister, der die disparaten Einzelteile aus Streicherquintett vor dem Bühnenrand und Freistil-Band auf dem Set klug zusammenfügt.

Tilo Werner kann so ziemlich alles spielen. Und auch Geige.
Tilo Werner kann so ziemlich alles spielen. Und auch Geige. © Fabian Hammerl

Auf beeindruckend gewagte Weise verbindet Serebrennikov, wieder einmal, realpolitischen Protest mit lebensbejahend überbordender künstlerischer Fantasie. Gewidmet ist dieses Projekt allen, die von politischen Systemen unterdrückt werden; daran erinnert am Ende eine riesige Texteinblendung, kurz nach dem sarkastischen Fast-Schluss-Kommentar „SCHÖNE NEUE WELT“. Neu ist sie. Schön längst nicht immer. Die erste „BAROCCO“-Version entstand 2018 noch in Serebrennikovs Moskauer Theater, danach: Klage, Hausarrest in Moskau, Fuß fassen im Westen, Weitermachen, der Invasionskriegsbeginn am 24. Februar 2022. Exil. Weitermachen.

Maßarbeit fürs Ensemble

Die Einschläge des Jetzt kommen näher, signalisiert das Tempo dieser in jeder Hinsicht großartigen Inszenierung. Dafür geht der Regisseur satt in die Vollen: Kostüme, Tanz, Video, Licht und Schatten, Clowneskes und Tragisches. Hin und wieder schrammt er dabei knapp am Kitsch vorbei, einige der Party-Pop-Tanz-Szenen muten wie eine Dosis ESC-Methadon an. Doch immer wieder bekommt das Stück die Kurve zurück zum Thema.

Funktionieren kann dieser Abend eben nur, weil er auch eine Maßarbeit für Spielerinnen und Spieler ist, die so viel mehr können als nur ihren Text abliefern. Felix Kopp tobt wie ein Ganzkörper-Flummi durch seine Szenen; Yang Ge schafft es, ob auf einem riesigen Schwebebalken oder kopfüber in eine Ballett-Gruppe eingepasst, dennoch weiterzusingen. Nicht wenige Profi-Ensembles trauen sich lieber nicht an das Haupt- und Nebenstimmen-Labyrinth in Monteverdi-Motetten. Dieses schon. Der Countertenor Odin Biro knackst mit Monteverdis „Pur ti miro“ schon sehr früh am Abend die ersten Herzen an.

Jovey, ein Straßensänger aus Brasilien, den Serebrennikov in Berlin gehört und von der Kreuzung weg in seinen Cast engagiert hat, übernimmt den Rest. Und dann: Tilo Werner! Als wäre es das Einfachste von der Welt, kaspert er sich stilistisch polyglott (und mit mehreren Instrumenten) durch eine an sich dröge Passacaglia über das Sterben, brüllend komisch – und mit Zaubertricks.

Ikonische Momente

Der Soundtrack ist eine ziemlich treffsichere Collage aus Früh- bis Spätbarock, Hits wie Purcells „Music for a While“ oder Exemplarisches von Vivaldi, Rameau und Händel steht neben Unbekanntem von Stradella oder Zelenka. Was kein Problem ist, denn ebenso, wie damals funktionierende Bravour-Arien von einer Oper in die andere umgetopft wurden, nutzt Serebrennikov das pure Affektpotenzial der Musik. Wut bleibt Wut, sagt das, egal gegen wen. Wenn sich die großartige Nadezhda Pavlova in einer Händel-Arie ihre Empörung über das Schicksal aus dem Leib singt und funkelnde Spitzentöne abfeuert, braucht es keine Untertitel oder eine historisch korrekte Rahmenhandlung. Die dreht große Kreise um das Leitmotiv, blendet mal ins Jahr 1968, zu den Pariser Studentenprotesten und 1969 nach Prag; zu der Frau, die auf Andy Warhol schoss; zu Menschen, die in ihrer Verzweiflung über ihre Ohnmacht nicht weiter wussten, als sich selbst anzuzünden.

Eine der vielen energiegeladenen Tanzszenen am Thalia in Hamburg
Eine der vielen energiegeladenen Tanzszenen am Thalia in Hamburg © Fabian Hammerl | Fabian Hammerl

Die ikonischen Momente in dem Hollywood-Klassiker „American Beauty“, in denen eine Plastiktüte schmetterlingsgleich durch den Alltag fliegt, inszeniert Serebrennikov hier fein nach, als Pas de deux mit einer Tänzerin und zwei Ventilatoren, und Felix Knopp, wie immer mindestens drei Schauspieler in einem, zitiert dazu aus dem Film: „Es gibt manchmal so viel Schönheit auf der Welt, dass ich sie fast nicht ertragen kann. Und mein Herz droht dann daran zu zerbrechen.“ Knopp trägt eine der Hauptrollen, als Journalist, dem das Schreiben über Unterdrückung und Krieg den Boden unter den Füßen wegzieht. Und Purcells „Cold Song“, im „King Arthur“-Original eine Frost-Szene, wendet die Regie mit starken Bildern ins genaue Gegenteil. Ständig darf und muss man staunen, über die clever genutzten Möglichkeiten zwischen den Notenzeilen und die Eleganz, mit der gearbeitet wird.

„Musikalisches Manifest“

Ein „musikalisches Manifest“ sollte dieser Abend werden, und das ist ihm geglückt, als Revue der nicht ewig unterdrückbaren Gefühle. Anschauungsmaterial dafür, dass sich die Demo-Parolen und die Gründe fürs aufbäumende „Dagegen!“ und „Dafür“ im Laufe der Zeitläufte durchaus ändern können, ihre Richtigkeit aber nicht. Und dass genau deswegen das Feuer der Leidenschaften wirkt und am Ende siegen soll, im Privaten und der Intimität sich lieben wollender Menschen wie im Gesamtgesellschaftlichen. Es geht ja doch immer nur um nichts weniger als Freiheit und Liebe, das Leben und den Tod. Riesiger Jubel. Pflichtstück.

Weitere Vorstellungen: 28. / 29. / 30.5. 25. / 26. / 27.6. Thalia Theater. Die Musik-Originale sind in einer „BAROCCO“-Playlist auf Spotify zu hören. Karten unter T. 328 14-444 und www.thalia-theater.de