Hamburg. Das Thalia Theater zeigt eine junge, maximal gelungene Premiere des Bestsellers von Benjamin von Stuckrad-Barre.

„Koksen, kotzen, koksen, kotzen ...“ sind die ersten Worte, die vom Band vernehmbar durch den Nebel dringen. Da weiß man also schon, wo diese Reise hingeht. Ein jüngerer und ein alter Mann betreten die Bühne, der Jüngere (Sebastian Zimmler) im koksweißen Jörg-Fauser-Gedächtnisanzug, der Alte (Peter Maertens) in Meertürkis, mit Hut und Lolli. Keine Sonnenbrille, obwohl die beiden – der weise Udo Lindenberg und der an dieser Stelle seines Lebens zur Umkehr bereite Benjamin von Stuckrad-Barre – im kalifornischen Chateau Marmont einchecken. Sich auschecken. Das eigene Leben aus der Distanz abchecken. Zimmler zitiert das udohafte Tänzeln, das In-die-Knie-Sacken, kurz die Körperspannung loslassen, sich lässig wieder einfangen. Typisch lindenbergscher Move, das. Dabei sind die Rollen so eindeutig gar nicht verteilt in dem achtköpfigen Ensemble, das der Regisseur Christopher Rüping für seine Dramatisierung des Bestseller-Memoirs „Panikherz“ auf die Bühne des Thalia Theaters bringt.

Stuckrad-Barres Text ist zunächst der Star

Der Text ist zunächst einmal der Star, Stuckrad-Barres 2016 erschienene schonungslose Selbstbespiegelung, die vom Aufstieg des Pop-Literaten („Soloalbum“) und vom Absturz erzählt, vom Absturz vor allem. Zwar ist Zimmler am eindeutigsten Stuck­rads spätes Alter Ego, der Abgeklärte, Abhängige, vielleicht Geläuterte, aber auch die anderen sind Ich-Erzähler. Pascal Houdus zum Beispiel als noch rührend „rumpubertierender“ Pastorensohn mit Benjamin-Augenaufschlag. Aber „Stucki“, dessen echte Stimme tatsächlich immer wieder eingespielt wird (Achtung: wahre Geschichte!), will nach „Hamburg, Hamburg, Hamburg, das gelobte Land“.

Schnell gelingt es Rüping, den großen Überwältigungswunsch, der den jungen Stuckrad-Barre ausmacht, auch beim Publikum zu entfachen. Es lässt sich mitreißen, im Parkett ist man direkt bereit, auf die Bühne zu stürmen, aber darf noch nicht, erst später. Zur musikalischen Erweckung des Helden fallen hübsche Gaga-Sätze wie „Put the Blockflöte down. Now.“

Mitten hinein ins Gefühl – und das Gefühl stimmt

Rüping lässt seine Spieler weniger in die eigentliche Handlung springen, als vielmehr mitten hinein ins Gefühl. Und das Gefühl stimmt, es stimmt tatsächlich den gesamten, mit Pause mehr als dreistündigen Abend hindurch. In keinem Moment irritiert die Vielstimmigkeit der Protagonisten, die durch den reichlich ausgeschwenkten Nebel hibbeln und tanzen und immer wieder lebenshungrig an eines der vom Schnürboden baumelnden Mikrofone stürzen. Die Figuren entstehen durch Stuckrads Text, natürlich, aber eben auch durch eine ganz bewusste, ekstatische Körperlichkeit des mit spürbarer und sich übertragender Lust agierenden Ensembles. Rüping schafft Wahrhaftigkeit.

Es ist toll, wie Bernd Grawert als Provinz-Feuilletonist peinlich überdreht, wie vor allem Houdus, aber auch Julian Greis und Franziska Hartmann sich verausgaben, wie Oda Thormeyer und Peter Maertens Melancholie schaffen. Kostümbildnerin Anna-Maria Schories steckt Julian Greis in einen Flitter-Fatsuit – ein gutes, absurdes, auch trauriges Bild für den essgestörten Glamour-Sturm-und-Dränger. Der erste Teil der Inszenierung: ein Rausch. Oben blinkt knallbunte Leuchtschrift (Bühne: Jonathan Mertz) ihren Kommentar zum Augenblick: „VERWEILE DOCH! DU BIST SO SCHÖN!“ und zitiert damit auch optisch das Cover des Bestsellers.

Immer wieder Zwischenapplaus

Zwischenapplaus gibt es immer wieder, besonders heftig, als Sebastian Zimmler, dem es übrigens gnadenlos gut gelingt, zwischen Charme und Schmerz, Unsicherheit und Abgefucktheit zu balancieren, seine komische Floskel-Suada zum imaginierten Klassentreffen herunterrattert. Gelegentlich scheint Udos Silhouette wie ein Schutzengel auf oder eher: wie ein verstehender Udo-Buddha (alternierend verkörpert von Wenyen You und Chen Ding), der ab und an vorbeischneit, um nach dem Rechten zu schauen.

Visuell besonders stark gelingt ein Rückblick, in dem ein Ausschnitt aus der Fernsehshow „Zimmer frei!“ auf Unmengen von Nebel projiziert wird. Stuck­rad-Barre, überlebensgroß und im Ungefähren zugleich. Verschwommen flackernde Bilder eines Haltlosen und die launig anmoderierte, aber ernsthaft bange Frage, die sich auch der echte Stuckrad-Barre stellt: Was wird wohl aus ihm? Ein Weltstar oder ein Drogensüchtiger? Endgültig geklärt, das zeigen sowohl das Ende vom Buch als auch vom Stück, ist diese Frage eher nicht.

Hätte schiefgehen können. Geht aber nicht schief

Der Abend ist die pure emotionale Manipulation, auch wenn Rüping dem vermeintlich Naheliegenden, der Illus­tration durch Lindenberg-Songs nämlich, weitgehend widersteht. Musikalisch unterstützt wird er von Christoph Hart am Mischpult, während der Zuschauer zwischen Euphorie und Angefasstheit schwankt. „Sensibel, draufgängerisch, kitschmutig an den richtigen Stellen“ – was Stuckrad-Barre für das perfekte Mixtape konstatiert, gilt ebenso für Rüpings Inszenierung, er traut sich Infantilität und Exzess. Hätte schiefgehen können. Geht aber nicht schief. Nur die Pause, in die das Publikum mit einem ordentlichen Schwung Goldflitter entlassen wird, stört den Flow ein wenig. Anschließend dürfen zwei Zuschauerinnen auf die Bühne, Tuchfühlung und Sektchen, die Musik wird analog. Runterkommen vom Trip.

Auf dem Heimweg fährt die S-Bahn an dem gelben Schriftzug unterhalb der Kunsthalle vorbei, den der Autor im Buch beschreibt, „die eigene ­GESCHICHTE“. Wie geht es eigentlich Benjamin von Stuckrad-Barre?

„Panikherz“, nä. Vorst.: Mi 21.3., Fr 23.3., Sa 7.4., jew. 20.00, Thalia, (U/S Jungfernstieg), Alstertor, Karten 7,50-52,-: T. 32 81 44 44