Hamburg. Schauspieler Markus Schöttl hat die Titelrolle in der Großproduktion am Mehr!Theater gekündigt – für eine winzige Off-Bühne.
Die „Selbstbedienungs-Bar“ besteht im Wesentlichen aus zwei Kühlschränken und einem handgeschriebenen Schild: „Trink … was du willst“ steht darauf und „Zahl … was du willst“. Unter der improvisierten „Garderobe“ daneben, die auf keinen Fall genug Platz für die Jacken aller Zuschauerinnen und Zuschauer bietet, ist während der Probe der Staubsauger abgestellt. Beides zusammen, „Bar“ und „Garderobe“, teilen sich eine enge Abseite in Hamburgs kleinster Off-Bühne – dem Horner Theater Das Zimmer.
Das ehemalige Ladenlokal an der Washingtonallee macht seinem Namen alle Ehre: Einen Vorhang gibt es nicht in diesem einzigen, schwarz getünchten Raum, und die maximal 40 dicht aufgereihten Plätze sind so nahe an und neben der Bühne, dass man im Publikum jedes Augenlidzucken der Schauspieler so klar wahrnimmt wie die Detailaufnahme auf einer Kinoleinwand.
Womit das Theater Das Zimmer den vermutlich größtmöglichen Kontrast bieten dürfte zu jener Hamburger Bühne, auf der die beiden aktuellen Hauptdarsteller sich kennengelernt haben: das Mehr! Theater auf dem Großmarktgelände. Seit Dezember 2021 läuft dort die weltweit einzige deutschsprachige Fassung der Großproduktion „Harry Potter und das verwunschene Kind“. Bis zu 1670 Zuschauer pro Vorstellung, mehr als eine halbe Million verkaufte Karten seit der Premiere. Und allein 25.000 Schokofrösche gingen bis heute über die Foyer-Theken.
Markus Schöttl spielte die Titelrolle in „Harry Potter und das verwunschene Kind“
Markus Schöttl sitzt in Hamburg-Horn entspannt auf einer Art Sims, die den Bühnen-Part des Raumes noch einmal in zwei jeweils schmale Ebenen teilt, und lächelt. „Ja, hier geben sich wirklich zwei Welten die Hand!“ Schöttl selbst ist ein Wanderer zwischen diesen Welten. Noch. Der österreichische Schauspieler hat, wenn man den Probenbeginn 2019 und die ersten Testaufführungen vor der Corona-Pandemie dazuzählt, in der Fortsetzung der berühmten siebenbändigen Roman-Saga von J.K. Rowling fast vier Jahre lang die Titelfigur gegeben, zuletzt in der radikal gekürzten Neufassung.
Jetzt ist er erneut in einer Deutschen Erstaufführung zu sehen – aber eben abseits des enormen Apparats, am Theater Das Zimmer. „Trümmer“ heißt das Zweipersonenstück des jungen britischen Dramatikers Tom Ratcliffe, das hier im Rahmen der Hamburg Pride Week zu sehen sein wird. Als „Harry Potter“ hat Markus Schöttl gekündigt, die Vorstellungen in dieser Woche sind seine letzten am Mehr! Theater.
Harry Potter in Horn: „Mein Loslassprozess wird so ein bisschen abgefedert“
Und so kommt es zu der kuriosen Konstellation, in der Schöttl innerhalb weniger Tage eine Low-Budget-Premiere an einer winzigen Independent-Bühne feiert und seinen finalen Vorhang als festangestellter Darsteller in einem aufwendigen En-suite-Betrieb. Sein Nachfolger im Zaubereiministerium ist bereits der Öffentlichkeit vorgestellt, die Rolle offiziell übergeben worden.
Markus Schöttl hätte weitermachen können, „die haben sich schon sehr um mich bemüht“, erzählt der Schauspieler in einer Horner Probenpause zwei Tage vor der Premiere von „Trümmer“. Aber es sei Zeit gewesen. „Das war so eine privilegierte Position bei ,Harry Potter’, ich musste da einfach irgendwann raus“, sagt Schöttl aufgeräumt. „Man muss sein Werkzeug ja auch weiter schärfen, mein kreativer Muskel brauchte neue Reize.“
Zwar habe er auch nach all den Monaten keine Routine verspürt („Zuletzt hatte ich durch Neubesetzungen fast jeden Abend einen anderen ,Sohn’ an meiner Seite, da bleibt man schon wach“), aber seine künstlerische Reise müsse weitergehen. Auch wenn sie ihn erst einmal nur ein paar Kilometer weiter führt. „Es ist schön, dass das zeitlich so eng beieinanderliegt. Mein Loslassprozess wird so ein bisschen abgefedert.“ Zumal es auch im Stück selbst um Verlust und Abschied geht, wenn auch auf einer ganz anderen inhaltlichen Ebene.
Mit Schöttl steht Felix Radcke im Theater Das Zimmer auf der Bühne. Die beiden Schauspieler kennen sich gut und waren, obwohl sie nur durch einen Zufall vom gemeinsamen Vorsprechen erfuhren, auch deshalb die Wunschpaarung des Hamburger Regisseurs Sven Niemeyer: Radcke war in „Harry Potter und das verwunschene Kind“ die Erstbesetzung des älteren Potter-Sohnes James und stand bis zum vergangenen Winter auch als Cedric Diggory und James Potter Senior auf der Besetzungsliste. Auch er kennt nun beide Facetten des Theaterbetriebs.
Harry Potters Neustart: „Mein Gehirn wurde schon ganz anders angekurbelt“
Statt monatelang, wie bei „Harry Potter“, hatte das kleine Team in Horn nur vier Wochen zum Proben, Wochen, in denen Schöttl zudem fast jeden Abend Vorstellung am Mehr! Theater hatte. Empfinden sich die Darsteller in der Intimität der begrenzten Bühne als andere Schauspieler im Vergleich zur durchchoreografierten Großproduktion? „Ich mache hier nichts anders als dort. Mir geht es um Wahrhaftigkeit, darum, die Figur und den Autor bestmöglich zu vertreten“, sagt Markus Schöttl. „Aber mein Gehirn wurde schon ganz anders angekurbelt.“ Es klingt nicht, als habe er die Doppelbelastung als eine unangenehme Erfahrung empfunden.
Felix Radcke, der schon im November bei „Harry Potter“ ausgestiegen ist, wird deutlicher: „Ich habe dort einen viel größeren Druck empfunden, mich einer Form anzupassen. Ich freue mich, mitgewirkt zu haben, aber hier in ,Trümmer’ habe ich die viel größere Aufgabe, mehr Text, ich zeige viel mehr von mir. Und ich bin sehr gespannt auf die Nähe zum Publikum. Darauf, wirklich im Fokus zu sein.“
Theater Das Zimmer: keine Schokofrösche, keine Tricks. Aber trotzdem: Magie
Zwei Tage später ist es voll im Zimmertheater. Und warm. Das Publikum – auch ein Kollege aus dem „Harry Potter“-Ensemble ist gekommen – besetzt fast jeden Zentimeter, der nicht zwingend für das Spiel gebraucht wird. Die Bühne ist simpel, intim, eine kleine Anhöhe, eine schwarze Folie, ein paar Polaroids an der Rückwand. Keine weiteren Requisiten, kein Glamour, kein aufwendiges Lichtdesign. Keine Schokofrösche, keine Tricks. Aber trotzdem: Magie.
Denn es braucht nicht mehr als diese beiden Schauspieler, um Tom Ratcliffes komplexen, dicht gebauten, durchaus fordernden Dialog zum Leben zu erwecken. „Wreckage“ heißt das Stück im Original, das vor einem Jahr auf dem Fringe Festival im schottischen Edinburgh uraufgeführt wurde. Markus Schöttl und Felix Radcke spielen Noel und Sam, ein schwules Paar, das sich ein gemeinsames Leben aufbaut, ein Haus, eine Katze, eine große und berührende Liebesgeschichte, trotz des Altersunterschieds. Bis die Beziehung jäh abbricht. Erst nach und nach begreift der Zuschauer die Zusammenhänge, versteht die Zeitsprünge, erkennt die Erinnerungen und Flashbacks.
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Aus Schlaglichtern und Momentaufnahmen, die Regisseur Niemeyer sensibel und ungemein genau gearbeitet hat, entsteht nicht nur eine Paarbeziehung, sondern eine weitaus vielschichtigere Handlung, die die Themenfelder Schuld und Trauer umfasst, in denen es um das Zulassen und insbesondere um das Loslassen geht.
Schöttl und Radcke, deren Entwicklung man zunehmend atemlos folgt, tragen die Emotion wahrhaftig, charmant und gänzlich unkitschig über die gesamte Strecke. Sie geben ihren Figuren Glaubwürdigkeit, Brüchigkeit, eine große Kraft und Verletzlichkeit und zugleich eine nicht selbstverständliche Leichtigkeit.
Nach der Premiere: Nicht wenige wischen sich Tränen aus den Augen
Als das Saallicht nach rund 75 Minuten erlischt, braucht das Publikum einen kurzen Moment, um sich zu sammeln. Dann bricht der Applaus heftig los, so heftig, wie es bei 40 Zuschauerinnen und Zuschauern eben möglich ist. Nicht wenige wischen sich Tränen aus den Augen. Da „Trümmer“ keine Pause hat, wird erst jetzt die „Selbstbedienungs-Bar“ angesteuert, dieser Abend ist keiner, den man allein abhakt. Nach Hause, so scheint es, möchte erst einmal kaum jemand. Zehn Vorstellungen hat „Trümmer“ am Theater Das Zimmer vor sich, und diese Inszenierung ist unbedingt eine Reise in die Abgeschiedenheit der Hamburger Theaterlandschaft wert.
Den Zauberstab von Harry Potter wird Markus Schöttl am Sonntag, kurz nach der Nachmittagsvorstellung in Horn, zum letzten Mal in den Händen halten. Zum letzten Mal dem Schmerz der Voldemort-Narbe nachspüren. Und wenn bald beides abgespielt ist, was kommt dann? „Urlaub“, sagt er und lacht. „Endlich!“
„Trümmer“, wieder 28.–30.7., 4.–6.8. und 11.–13.8., jew. 20 Uhr bzw. sonntags 16 Uhr im Theater Das Zimmer, Karten und Infos unter theater-das-zimmer.de