Hamburg. Freier Eintritt unter freiem Himmel: Der scheidende Hamburg-Ballett-Intendant zeigte mitten in der Stadt Ausschnitte aus seinem Werk.
„Meine Welt ist Tanz“, beschreibt John Neumeier das Motto des Abends. Der im Sommer 2024 scheidende Hamburg-Ballett-Intendant hat am Sonntag zur Saisoneröffnung auf den Rathausmarkt geladen, zu einer Gala bei freiem Eintritt unter dem Titel „The World Of John Neumeier“.
So ist zwar auch ein Festival bezeichnet, das der heute 84-Jährige regelmäßig im Festspielhaus Baden-Baden veranstaltet, aber das kennt in Hamburg nicht jeder, und inhaltlich passt das natürlich: „Die Welt des John Neumeier“, eine Welt, die aus Tanz besteht, da lassen sich Ausschnitte aus den mittlerweile über 170 Balletten des Meisters unterbringen, und weil Neumeier als Moderator auch ein charmanter Plauderer ist, stellt er diese auch über seine Biografie in einen sinnvollen Zusammenhang. „Meine Welt ist Tanz“.
Neumeier erzählt also: wie er in den 1940ern im Mittleren Westen der USA aufgewachsen sei, in Milwaukee. Eine Provinzjugend, in der man wenig Tanz sehen konnte. Was aber ging: Musicalfilme, Gene Kelly. Weswegen der Abend mit einer musicalhaften Ensemblenummer beginnt, „Candide Ouverture“ zur Musik Leonard Bernsteins, gefolgt von einem Pas de deux mit Ida Praetorius und Alexandr Trusch aus „Shall We Dance?“ zur Musik George Gershwins.
John Neumeier: Schmissige Eröffnungsnummern auf dem Rathausmarkt
Schon der Einstieg zeigt, wie klug dieser Choreograf ein Galaprogramm aufzubauen versteht: mit schmissigen Eröffnungsnummern, die das Publikum mitnehmen, dabei aber inhaltlich vollkommen stimmig eingesetzt werden. Und Neumeier wandert durch seine Choreografie, wagt selbst ein paar Schritte, wird einmal sogar vom Ensemble in die Luft gehoben und auf Händen getragen: der staunende Bewunderer einer Kunst, die zu ihm gehört und bei der er doch immer ein wenig außen vor bleibt.
Und zwar im doppelten Sinne: Neumeier selbst steht meist am Bühnenrand und erklärt (manchmal ein bisschen zu ausführlich), was die gerade gezeigte Szene nun mit „seiner Welt“ zu tun hat. Und währenddessen tanzt ein Doppelgänger mit: Christopher Evans, ebenso wie sein Chef mit weißem Hemd, weißer Hose und locker gebundener schwarzer Krawatte, ist Teil des Geschehens, als junger Tänzer, der die Welt erst entdeckt und sich von der Leidenschaft dieser Welt immer wieder tänzerisch mitreißen lässt.
Evans ist entsprechend auch die Figur, die einen in den Tanz hineinzieht, er entdeckt das Ballett als Ort, an dem die Tradition in die Gegenwart geholt werden kann (von Olivia Betteridge, Alessandro Frola, Xue Lin und Matias Oberlin in „Der Nussknacker“), als Ort, an dem Liebesbeziehungen verhandelt werden (von Azul Ardizzone und Louis Musin jugendlich-unsicher in „Romeo und Julia“, von Ida Praetorius und Jacopo Bellussi erwachsen-abgeklärt in „Die Kameliendame“), als Ort, an dem man sich an Vorbildern abarbeitet (Alexandre Riabko und Edvin Revazov in der Maurice-Béjart-Hommage „Opus 100 – für Maurice“, Alexandr Trusch in „Nijinsky“).
Wobei gerade „Nijinsky“ zeigt, dass der Abend auf dem Rathausmarkt nicht nur leichte Kost ist. Aleix Martínez legt eine dramatisch-quälerische Selbstentäußerungsperformance hin, mit der der Erste Solist am Haus seinen Ruf bestärkt, so körperlich-expressiv leiden zu können wie kaum jemand sonst.
Choreografisch lässt Neumeier hier die Konventionen der Neoklassik weit hinter sich, erweist sich als der Revolutionär, der sein großes Vorbild Vaslaw Nijinsky um die Jahrhundertwende für das klassische Ballett war, und wirft sein Ensemble in albtraumhafte Kriegsbilder zu harschen Klängen Dmitri Schostakowitschs.
Und wie der Abend im Anschluss den Umschwung zu den Liebenden „Romeo und Julia“ hinbekommt, das zeigt auch, wie geschickt Neumeier Übergänge choreografieren kann. Überhaupt wirkt „The World Of John Neumeier“ an keiner Stelle wie ein Greatest-Hits-Sammelsurium, das zweistündige Programm ist ein dramaturgisch geschlossenes Stück aus einem Guss.
John Neumeier in Hamburg: einer der wichtigsten Choreografen der Gegenwart
Rein ballettästhetisch kann man die Open-Air-Präsentation kritisieren – wenn man weiter vorn sitzt, hat man vor allem die Bühnenrampe im Blick, die diffizile Fußarbeit des Ensembles sieht man kaum. Und wer hinten sitzt, für den bleiben nur die (allerdings gestochen scharfen) Videowände.
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Aber darum geht es nicht: Der Abend ist vor allem ein eindrucksvoller Beweis, dass Ballett nicht wie oft behauptet eine elitäre Veranstaltung sei. Immerhin sind nicht nur die Stuhlreihen voll besetzt, auch außerhalb der Absperrung sammeln sich im Laufe der zwei Stunden immer mehr Menschen und schauen zu, sodass der Rathausmarkt am Ende, zu einer mitreißenden Ensembleszene aus „Beethoven-Projekt II“, voller Menschen ist, die einen der wichtigsten Choreografen der Gegenwart sehen konnten. Und neoklassisches Ballett für alle, das zeigt dann eben nicht zuletzt, welche Strahlkraft Neumeiers Kunst auch für ein Publikum jenseits der eingeweihten Kreise hat