Hamburg. Das Schauspielhaus und das Thalia Theater schicken je eine der zehn „bemerkenswertesten Inszenierungen“ nach Berlin.
„Was heißt schon Wahrheit in diesem Haifischbecken aus Perspektiven, Interpretationen und Manipulationen?“ Nein, in diesem Satz geht es gar nicht um die Jury-Entscheidungen für das des Berliner Theatertreffen. Beschrieben wird eine Produktion, die es geschafft hat: „Slippery Slope“ vom Berliner Maxim Gorki Theater, „fast ein Musical“ laut Untertitel, und für die Jurorinnen und Juroren bemerkenswert genug, um Teil der diesjährigen Bestenauswahl zu sein.
Denn das ist das Kriterium: Die zehn bemerkenswertesten Inszenierungen werden zu den Berliner Festspielen gebeten, eine Einladung, die in der deutschsprachigen Theaterlandschaft einer Auszeichnung gleichkommt. Perspektiven und Interpretationen spielen dabei eine Rolle. Zeitpunkte womöglich auch. Aber dazu später.
540 Inszenierungen in 63 Städten hat sich die Jury aus unabhängigen Kritikerinnen und Kritikern angesehen. Aus Sicht der Theaterstadt Hamburg ist ihre gestern bekannt gegebene Auswahl unbedingt Grund zu großer Freude: Beachtliche sieben Hamburger Arbeiten haben es unter die letzten 32 diskutierten geschafft, mehr als aus jeder anderen Stadt. Und Hamburg wird doppelt vertreten sein, beide große Sprechbühnen sind dabei.
Schauspielhaus und Thalia: Hamburg doppelt beim Theatertreffen
Das Thalia Theater schickt „Doughnuts“, eine filigran komische, körperliche Inszenierung des japanischen Theatermachers Toshiki Okada aus der Gaußstraße, die erst vor wenigen Tagen zum Auftakt der Lessingtage ihre Uraufführung erlebte und andere Favoriten womöglich auf den letzten Metern überholte. „Beckett trifft auf Sartre, Buñuel auf Sophia Coppola“, beschreibt Juror Sascha Westphal seinen Eindruck von diesem „Ausflug ins absurde Theater der Hochmoderne“, das eine Gruppe von Wartenden in einem Hotelfoyer versammelt. Sie kreisen um eine Leere wie der süße Krapfen um seine Auslassung: „Drumherum viel und in der Mitte ein Loch – eine glänzende Metapher für vieles, was uns derzeit umtreibt!“ freut sich Thalia-Intendant Joachim Lux.
Ob auch ihn trotzdem eine Leerstelle beschäftigt, verrät das nicht – warum allerdings Kirill Serebrennikovs „Der schwarze Mönch“ nicht auf der Einladungsliste steht, bleibt das Geheimnis der Jury. Immerhin: Diskutiert worden ist der Abend, wie die Shortlist jener 32 Arbeiten zeigt, die in der engeren Auswahl standen. Viel bemerkenswerter, viel gegenwärtiger als diese internationale Inszenierung kann eine Produktion kaum sein, sowohl künstlerisch als auch politisch. Gespielt wurde sie nur ein einziges Mal, zur Premiere. Direkt danach sorgte die Corona-Infektion eines Darstellers für die Absage der Folgevorstellungen – vielleicht reichte die Zeit nicht, um ausreichend Fürsprecher zu finden. Auch ein Theater-Spielplan kann in Pandemie-Zeiten zur „Slippery Slope“ werden, zur plötzlichen Rutschpartie.
Deutsches Schauspielhaus ist mit „Die Ruhe“ in Berlin
Dafür ist auch das Deutsche Schauspielhaus beim Theatertreffen erneut dabei. Nachdem Karin Beier im vergangenen Jahr ihr „Reich des Todes“ noch als Livestream präsentieren musste, hofft das Haus diesmal besonders auf eine Präsenzvorstellung: „Die Ruhe“, eine fünfeinhalbstündige Performance-Installation der Gruppe SIGNA, hatte im November Premiere im Altonaer Paketpostamt, das für jeweils nur eine kleine Gruppe von Zuschauerinnen und Zuschauern zum „Erholungsinstitut Hamburg“ erklärt wurde.
„Mit diesem hochimmersiven Setting kann das Publikum am eigenen Leib erleben, wie leicht es ist, sich in einem (Verschwörungs-)Kult zu verlieren“, schwärmt die Jury. Die aufwendige Performance nach Berlin zu transferieren, dürfte logistisch eine Herausforderung werden. Als Favorit gehandelt wurde auch am Schauspielhaus eine andere Arbeit: Das furiose „Richard the Kid & the King“ von Karin Henkel mit Lina Beckmann in der Hauptrolle schaffte es zwar in die größere Endrunde, aber nicht in die Top Ten.
Wohlvertraute Regisseure für das Hamburger Publikum
Zu den Auserwählten gehören indes Regisseurinnen und Regisseure, die dem Hamburger Publikum wohlvertraut sind – vornehmlich durch das Thalia Theater: Christopher Rüping, der hier schon „Panikherz“ und „Paradies“ inszenierte, fährt mit einer Produktion des Schauspielhaus Bochum nach Berlin: „Das neue Leben/Where do we go from here“ – frei nach Dante Alighieri, Meat Loaf und Britney Spears. Für Rüping ist es bereits die fünfte Einladung. Die israelische Regisseurin Yael Ronen, die am Alstertor „(R)Evolution“ zeigte, ist für das schon erwähnte Fast-Musical „Slippery Slope“ verantwortlich, die polnische Theatermacherin Ewelina Marciniak, die zuletzt die opulenten „Jakobsbücher“ (die es ebenfalls in die Diskussionsauswahl schafften) auf die Thalia-Bühne brachte, ist mit „Die Jungfrau von Orleans“ vom Nationaltheater Mannheim eingeladen.
Außerdem dabei: „All right. Good night. Ein Stück über Verschwinden und Verlust“ von Helgard Haug (Rimini Protokoll), Volker Löschs Dresdner Inszenierung „Der Tartuffe oder Kapital und Ideologie“, Lukas Holzhausens Romanbearbeitung „Ein Mann seiner Klasse“ vom Schauspiel Hannover, Claudia Bauers „humanistää! eine abschaffung der sparten“ vom Volkstheater Wien und eine knallbunte Inszenierung der Münchner Kammerspiele: „Like Lovers Do“ von Sivan Ben Yishai.
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Für Theatertreffenleiterin Yvonne Büdenhölzer wird es das letzte Mal sein, dass sie das Festival verantwortet. Und für die eingeladenen Bühnen nach zwei pandemiebestimmten Jahren hoffentlich das erste, das in Berlin wieder vor Ort und mit Publikum stattfinden kann.
„Doughnuts“, Thalia/Gaußstraße, wieder am 3. und 17. Februar sowie am 3., 11., 12. und 28. März jew. um 20 Uhr Für „Die Ruhe“ gibt es derzeit keine Termine