Piraten-Prozesse haben in Hamburg Tradition. Morgen entscheidet sich, ob nach 400 Jahren erstmals wieder Seeräuber vor Gericht stehen.
Hamburg. Die Beweismittel für den großen Prozess liegen bereits bei der Staatsanwaltschaft in Hamburg: Fünf Maschinenpistolen vom Typ Kalaschnikow AK 47, zwei Raketenwerfer, ebenfalls aus osteuropäischer Produktion, reichlich Munition und zwei Enterleitern mit Drillingshaken an ihren Enden. Damit hatten zehn somalische Piraten Ostern den Hamburger Containerfrachter "Taipan" im Indischen Ozean überfallen. Die Besatzung konnte sich aber in einem gepanzerten Schutzraum in Sicherheit bringen und die Maschine abstellen. Niederländische Marine-Soldaten enterten das Schiff der Reederei Komrowski und nahmen die Seeräuber gefangen. Jetzt steht ihre Auslieferung von Holland nach Hamburg bevor.
+++ Somalische Piraten: Lieber sterben als nach Hamburg +++
Morgen gegen Mittag will ein niederländisches Gericht über das Gesuch der Hamburger entscheiden. "Und selbst wenn es dann noch eine Anfechtung durch die Anwälte gibt, gehen wir davon aus, dass sie bald kommen und hier vor Gericht stehen werden", sagt Oberstaatsanwalt Wilhelm Möllers.
Es wäre der erste größere Piratenprozess in der Hansestadt und in Deutschland nach gut 400 Jahren. Das längst zum Mythos verklärte Seeräuber-Phänomen ist plötzlich aus dem Dunkel der Vergangenheit zurückgekehrt - nachdem in Hamburg bis Anfang des 17. Jahrhunderts etliche solcher Prozesse geführt worden waren.
Doch mit dem massiven Aufflammen der Piraterie am Horn von Afrika und einer zunehmenden Zahl von Attacken auf Hamburger Schiffe war es offenbar nur eine Frage der Zeit, wann hier wieder Piraten vor ihren Richtern stehen werden. Zumal ein Abkommen mit Kenia abgelaufen ist, wohin Deutschland vor Somalia gefangene Piraten bisher ausliefern ließ. "Wir sind seit 2008 auf einen solchen Prozess in Hamburg vorbereitet", sagt Oberstaatsanwalt Möllers und klingt dabei recht entschlossen.
Vermutlich werden die zehn Piraten aus dem vom Bürgerkrieg zerrissenen Somalia daher in den nächsten Wochen vor dem Strafjustizgebäude am Sievekingplatz ankommen. 1879 wurde es gebaut, im norddeutschen Renaissance-Stil. Ein wuchtiger Bau aus Sandstein und hellroten Ziegeln. Ins Innere geht es nur durch enge Sicherheitsschleusen: Selbst das Handy muss man bei der Kontrolle abgeben. Säulen und Stuck prangen im riesigen Treppenhaus. Auf knarrenden Holztreppen mit Geländern aus dunklem Marmor geht es hoch zu den Sälen der Großen Strafkammern. Die ganze Macht des Staates und einer reichen Kaufmannsstadt strahlt das Gebäude aus, in dem dann gegen die Männer wegen "Menschenraubs" und "gefährlichen Eingriffs in den Seeverkehr", wie es die Juristen nennen, verhandelt wird. Zehn bis 15 Jahre Haft erwartet die Piraten bei einer möglichen Verurteilung, der wohl etliche Verhandlungstage vorausgehen dürften. Möglicherweise müssen auch noch Gutachten eingeholt werden, Seefahrts-Experten und Psychologen zu Wort kommen.
Etwas anders ging es im 14. und 15. Jahrhundert bei den großen Seeräuber-Prozessen in Hamburg zu, bei denen der Legende nach 1401 auch die Piraten Klaus Störtebeker und Goedeke Michels verurteilt worden waren: "men scholde en ere hovede afhowern und negele se uppe den stok" - so hieß auf Niederdeutsch die klare Ansage in den Hansestädten, wie man mit Seeräubern umzugehen habe. Eben Kopf ab und dann den Schädel auf einen Stock genagelt.
20, 30 und manchmal auch 40 solcher Köpfe prangten in diesen Jahren auf einer sandigen Halbinsel vor den Toren der Stadt. Etwa dort, wo heute der Senat Millionen von Euro in die Elbphilharmonie verbaut (manchmal auch etwas kopflos), war lange Jahre der Hinrichtungsplatz der Hamburger. Ein schauriger Ort, auf dem die verwesten Schädel mit hohlen Augen auf die Elbe blickten. "Die ausgestellten Köpfe waren Warnung, wie hier mit Seeräubern verfahren wurde", sagt Ralf Wiechmann, Mittelalter-Experte im Museum für Hamburgische Geschichte.
Bis vor Kurzem war ein reichlich gut erhaltener Schädel samt riesigem Nagel noch in dem Haus am Holstenwall ausgestellt. Man hatte ihn 1878 beim Ausbaggern des Grasbrookhafens gefunden; kürzlich wurde er aus der Ausstellung gestohlen und durch eine Replik ersetzt. Weil der Nagel offensichtlich sehr penibel und ohne Zertrümmerungsbrüche hineingerammt worden war, vermuten Historiker, dass es sich um den Kopf eines besonderen Seeräubers gehandelt haben muss, dessen Schädel wie eine Beute dort auf den Stock genagelt worden war. Möglicherweise war es sogar der von Störtebeker. "Doch mit Störtebeker war die Zeit der Seeräuber nicht vorbei, es gab auch danach viele Anführer", sagt Wiechmann.
Seit 1359 hatten die Hamburger das Recht vom Kaiser, selbst Piraten zu jagen und abzuurteilen. Es war für die damals meist küstennahe Schifffahrt eine gefährliche Zeit. Durch die ersten Pestzüge gab es viele Verwerfungen, Männer hatten Familie, Haus und Hof verloren, viele Menschen waren völlig entwurzelt, hatten nichts zu verlieren als ihr Leben. Ein Nährboden für das Seeräubertum - vergleichbar vielleicht mit dem Somalia von heute. Denn es lockten Freiheit, Abenteuer und natürlich Reichtum. Störtebekers Piraten waren Likedeeler - Gleichteiler. Jeder erhielt einen gleich großen Anteil an der Prise. Auf Nord- und Ostsee und selbst auf der Elbe gab es etliche Überfälle. Wehe, wenn ein Handelsschiff bei Niedrigwasser auf dem Watt fest kam - es war schnell ein Opfer von Räubern.
Doch die wussten auch, dass bei einer Gefangennahme wenig Gnade zu erwarten war. Zwischen 1390 und 1550 gab es nach Chronik-Recherchen Wiechmanns 485 Hinrichtungen in Hamburg. 97 Prozent davon von Piraten, deren Schädel dann aufgenagelt wurden. Dabei galt die Kopf-ab-Methode noch als eine eher ehrenwerte Art des Sterbens. Hängen oder Scheiterhaufen drohten bei anderen schweren Vergehen. Der offene Kampf der Räuber mit Armbrüsten und Schwertern wurde noch anders angesehen als ein heimtückischer Mord oder Diebstahl in der Nacht. "Das Lübsche Recht dieser Zeit war noch sehr im germanischen Recht verwurzelt, Auge um Auge, Zahn um Zahn, war ein Prinzip", sagt Wiechmann. "Kopf ab" stand da nur den Seeräubern zu, die auf frischer Tat erwischt worden waren. In den Chroniken sind für manche Jahre wenige, dann wieder für andere Jahre etliche Hinrichtungen verzeichnet - oft nachdem ein komplettes Piratenschiff aufgebracht worden war.
Es gab danach viel zu tun für den Scharfrichter, der dafür gut trainiert sein sollte. Er musste dazu seinen Körper wie ein Golfspieler weit dehnen können, um mit einem Schlag des Richtschwertes sauber den Kopf vom Rumpf zu trennen. Nicht selten übten die Scharfrichter vorher mit Schweinen oder auch mit anderen Verurteilten. Sie wurden sehr gut bezahlt, waren aber sozial isoliert - kaum jemand sollte etwas mit dem Henker zu tun haben.
Vor der Hinrichtung gab es natürlich eine Gerichtsverhandlung. Am Marktplatz am Nicolaifleet stand dazu das Niedergericht mit weit geöffneten Fensterläden - sodass jedermann zuschauen konnte. Zwei Richter leiteten die im Vergleich zu heute sehr viel kürzeren Prozesse. Die Schöffen urteilten. Sie waren meist Kaufleute und daher schon nicht gut auf Seefahrer zu sprechen, die ihre Schiffe überfielen.
Ab 1600 wurden immer weniger Piraten-Prozesse geführt in Hamburg. "Über ähnlich große Verhandlungen wie im 14. und 15. Jahrhundert ist in der Literatur nichts zu finden - die Zeit der großen Piratenprozesse war da sicher vorbei", sagt Historiker Wiechmann.
Zudem hatte sich die Schifffahrt weiterentwickelt, Hamburger Schiffe segelten nun nicht mehr nur an nordeuropäischen Küsten. Bis nach Amerika und ins Mittelmeer gingen nun die Fahrten. Und damit tauchte ein neues Problem auf - das dem Piratentum von heute wohl eher vergleichbar war. Muslimische Seeräuber aus Nordafrika raubten nun Hamburger Schiffe aus und nahmen die Besatzungen gefangen, um Lösegeld zu erpressen. Mitunter bis zur Elbmündung drangen diese Piraten vor. Mancher Seemann wurde so zum Sklaven, nicht selten auf einem Basar Afrikas wie Vieh verkauft. Mit Sklavenkassen und speziellen Versicherungen versuchten sich die Seeleute zu schützen und fanden Regelungen zum Freikauf.
1668 dann ersann Hamburg eine andere Methode - die an heutige Marineeinsätze erinnert. Man baute prächtige Schlachtschiffe, die sogenannten Konvoischiffe, die die Handelschiffe begleiteten und schützten. Von den berühmtesten wie der "Wapen von Hamburg" gibt es prächtige Modelle im Museum. Geschrieben wurde der Name nur mit einem P. "Wapen" - das niederdeutsche Wort stand für Waffen.
Doch nach einigen Jahrzehnten schon erschien dieser Schutz der im Vergleich zu Nationalstaaten recht kleinen Freien und Hansestadt zu teuer und man ließ sich auf Geschenke und Geldzahlungen als eine Art Schutzgeld ein. Aber erst 1830 mit der Kolonisierung Nordafrikas durch Frankreich und dem Frieden von Algier fanden die Überfälle von Piraten ein Ende. Bis sie nun am Horn von Afrika wieder so aufgeflammt sind und auch Hamburger Schiffe überfallen werden - und Seeräuber nun auch in Hamburg wieder vor Gericht stehen werden. Um ihren Kopf müssen sie allerdings nicht mehr fürchten. Ein wenig hat sich dann doch verändert im Vergleich zum Mittelalter. Nicht nur bei der Bewaffnung der Piraten.