Rotherbaum. Der Hamas-Terror hat Hass und Hetze befeuert. Wie es Mitgliedern der Jüdischen Gemeinde geht – und worauf sie hoffen.
Der Sichtschutz ist als Idyll verkleidet: Zeichnungen von Kindern auf weinroten Schaukeln, eine Sonne und Regenbögen zieren die weiße Plane entlang des Zauns, mit dem die Joseph-Carlebach-Schule im Grindelviertel ihre 220 Schülerinnen und Schüler abschirmt. Darüber hängen Überwachungskameras. Früher kam es vor, dass Unbekannte von außen fotografierten, heißt es aus der Jüdischen Gemeinde in Hamburg, die das Bildungszentrum trägt und dort auch ihren Sitz hat.
Im Innenhof tollen Mädchen und Jungen durch das letzte Herbstlaub. Es ist große Pause an einem Tag Ende November. Der erste Schnee rieselt – trotzdem kommen fünf Teenager beim Fußball mit Kapuzenpullis und T-Shirt aus; einer trägt seine Kippa.
Antisemitismus in Hamburg: Jüdische Schule seit 16 Jahren unter Polizeischutz
Wer diese Gemeinschaft besuchen möchte und die Erlaubnis erhält, geht vorbei an Beamten mit Maschinenpistolen, klingelt neben der Pforte an der Gegensprechanlage, betritt eine gläserne Schleuse und wartet, bis die Schiebetür aufgleitet. In dem roten Backsteingebäude befand sich bis 1939 die Talmud-Tora-Realschule. Auf einer Gedenktafel im Aufgang steht: „Erde, bedecke nicht ihr Blut“, ein Satz aus dem Buch Hiob. Darunter sind Hunderte Namen der jüdischen Schüler und Lehrer eingraviert, die von den Nationalsozialisten deportiert und umgebracht wurden.
Seit 2007 findet wieder Unterricht statt in dem Haus, das nach dem im Holocaust ermordeten Hamburger Oberrabbiner Joseph Carlebach benannt ist. Die Lehrkräfte der privaten Grund- und Stadtteilschule wollen ihre Schülerschaft ermutigen, Mitgestalter einer Zukunft zu werden, in der Toleranz und Offenheit herrschen. „Im besten Fall entlassen wir mündige junge Leute ins Leben, die keinen Unterschied machen zwischen jüdisch und nicht jüdisch, ohne Berührungsängste und Hemmungen gegenüber anderen Religionen und Kulturen“, sagt Stefanie Szczupak (57), Vorstandsmitglied der Jüdischen Gemeinde.
Hamas-Überfall auf Israel hat die Jüdische Gemeinde in Hamburg schockiert
Etwa die Hälfte der hier lernenden Kinder und Jugendlichen sind nicht jüdisch, gehören anderen Glaubensrichtungen an; auch einige muslimische Kinder sind darunter. Zwar gilt in der Schule für alle der jüdische Ritus: Sie lernen lesen und schreiben auch auf Hebräisch, orientieren sich am jüdischen Kalender, feiern das Lichterfest Chanukka. „Aber die Schüler werden hier nicht zum Beten erzogen – es zählt der Mensch“, sagt ein Mitglied der Elternschaft, das anonym bleiben möchte.
Die kleinen und großen Menschen hier treffen sich nur unter Polizeischutz. In der Welt jenseits des Schulzauns sind gegenseitiger Respekt und friedliches Miteinander allerorten unabhängig von religiöser Orientierung eine Utopie – erst recht seit dem Massaker vom 7. Oktober, als die Terrororganisation Hamas den jüdischen Staat Israel überfiel, dort etwa 1200 Menschen tötete und 240 als Geiseln nahm. Die Bilder und Nachrichten aus Nahost haben Jüdinnen und Juden in Hamburg tief erschüttert – und natürlich reichen die Schockwellen auch bis in die Gemeinschaft der Joseph-Carlebach-Schule.
Am „Tag des Zorns“ kamen nur 40 von 220 Kindern in die Joseph-Carlebach-Schule
In der ersten Woche nach dem Überfall ließen viele Eltern ihre Kinder nicht in den Unterricht. Am 13. Oktober – die Hamas hatte zu einem „Tag des Zorns“ und zur Gewalt gegen Israel aufgerufen – kamen nur 40 von 220 Kindern in die Schule, sagt David Rubinstein (39), Geschäftsführer der Jüdischen Gemeinde.
Jetzt sollen bitte keine Journalisten mit der Schülerschaft sprechen. Die ohnehin schon abgeschirmten Mädchen und Jungen sollen nicht unnötig beschwert werden, sondern hier einfach Kind sein dürfen, soweit das in der angespannten Lage möglich ist – mit dieser Vorgabe haben Rubinstein, Szczupak und ein Mitglied der Elternschaft einem Treffen mit dem Abendblatt zugestimmt. Sie möchten zeigen, dass die Jüdische Gemeinde trotz allem nahbar ist.
Sie sitzen in einem Gebäude neben dem Schulhof, die Fenster sind geschlossen, trotzdem dringt Kinderlachen herein. Über die aktuellen Sicherheitsmaßnahmen wollen die drei aus nachvollziehbaren Gründen nicht sprechen, nur so viel: Die Schülerschaft sei gebeten worden, vor dem Gebäude „ihr Umfeld nicht auszublenden“ und dort nicht in Gruppen stehen zu bleiben.
Aus Furcht: 42 Gemeindemitglieder wollen Zeitschrift nicht mehr per Post erhalten
Zuletzt, sagen sie, habe die Anspannung ein wenig abgenommen. Nach den Herbstferien seien die meisten Mädchen und Jungen wieder in den Unterricht zurückgekehrt. „Vorsichtig sein, aber nicht hysterisch“, laute das Motto. Die Eltern gingen davon aus, dass es auf dem Gelände sicher genug sei – zu Recht. „Wir sind zur Normalität zurückgekehrt“, sagt Stefanie Szczupak, hält kurz inne – und präzisiert: „zu unserer Normalität“.
Ob das von der gesamten Schulgemeinschaft so empfunden wird, lässt sich für Außenstehende nicht nachvollziehen. In der Jüdischen Gemeinde mit ihren etwa 2300 Mitgliedern kann von einer Entspannung kaum die Rede sein: 42 Mitglieder haben seit dem 7. Oktober darum gebeten, ihnen möge das Gemeindeblatt „Ha Yom“ nicht mehr per Post zugestellt werden, weil der Absender sie als Menschen jüdischen Glaubens erkennbar machte, erzählt David Rubinstein.
In der jüngsten Ausgabe mit dem Titel „Stand with Israel“ schreibt die Gemeindespitze, es erreichten sie „vermehrt sorgenvolle Anrufe zu der aktuellen Sicherheitslage von unseren Gemeindemitgliedern“. Vorstand, Geschäftsführung und Sicherheitsleitung seien im „ständigen Austausch“ mit den Behörden, reagierten „ruhig und besonnen auf Entwicklungen, falls diese für uns relevant sind“. Die Thora, der erste Teil der Heiligen Schrift des Judentums, lehre, „dass das Licht sich gegen die Dunkelheit durchsetzen wird“.
Landesrabbiner Shlomo Bistritzky stößt zu unserem Gespräch hinzu. Er schrieb am 28. Oktober auf X (vormals Twitter): „Wieder hat mich ein jüdischer Patient im Krankenhaus gebeten, ihn nicht zu besuchen, weil er Angst hat, dass man erfährt, dass er Jude ist.“ Den Bräuchen des orthodoxen Judentums folgend, trägt Bistritzky einen langen Bart, außerdem meist einen schwarzen Anzug und Hut. Er berichtet, dass zwei Gemeindemitglieder nicht mit ihm am Krankenbett gesehen werden wollten – und dass einer sogar seine Familie anwies, nicht einmal koscheres, also den jüdischen Speisegesetzen entsprechendes, Essen in die Klinik mitzubringen. Der andere Patient, sagt Bistritzky, habe schließlich doch noch zugestimmt, von ihm besucht zu werden.
Was viele Jüdinnen und Jüdinnen in der Diaspora umtreibe: Israel galt ihnen als Rückversicherung, als von einer Hightech-Armee geschützter Zufluchtsort – diese Annahme habe der Hamas-Überfall erschüttert. „Das hat große Ängste ausgelöst.“
Ist es gefährlich, die Chanukkia zu zeigen?
Das Lichterfest Chanukka erinnert an Ereignisse, die für die Selbstbehauptung des jüdischen Volkes stehen: Die Befreiung des Tempels in Jerusalem im Jahr 164 vor unserer Zeitrechnung von den griechischen Besatzern und dessen Wiedereinweihung. Für Jüdinnen und Juden bedeutet es, sich nicht unterdrücken zu lassen; man kann Chanukka auch als Fest der Religionsfreiheit verstehen.
Der Talmud, eines der bedeutendsten Schriftwerke des Judentums, lehrt: Während des Lichterfests ist die Chanukkia, ein neunarmiger Leuchter, draußen hinzustellen oder in ein Fenster zur Straße hin. Stefanie Szczupak erzählt, ihr Kind habe sie darum gebeten, dem Gebot dieses Mal nicht Folge zu leisten. „Aber den Leuchter in den Flur zu stellen – das kann ich doch nicht machen“, dachte Szczupak. Ihr polnischer Vater überlebte das Konzentrationslager Auschwitz, seine KZ-Hose hat sie aufbewahrt.
Schließlich entschieden Mutter und Kind, die Chanukkia doch an ein Fenster zur Straße zu stellen. Jeden Abend zündeten sie eine Kerze an – „aber jedes Mal mit einem merkwürdigen Gefühl“.
Hamburger Forscherin: „Antisemitismus droht ins Private einzudringen“
Man stelle sich vor, wie es wäre, beim Schmücken des Weihnachtsbaums eine Gefahrenabwägung vorzunehmen: Soll die Tanne wirklich dort stehen, wo sie jeder von draußen sehen kann?
Durch die historische Erfahrung von Verfolgung reagierten Jüdinnen und Juden ohnehin sensibler auf potenzielle Bedrohungen, sagt Kim Wünschmann, Direktorin des Instituts für die Geschichte der deutschen Juden in Hamburg. Seit dem 7. Oktober komme hinzu: „Der Antisemitismus hat sich in Teilen so radikalisiert, dass er droht, ins Private einzudringen.“ Wünschmann spielt an auf Vorfälle wie in Berlin, wo Davidsterne auf Hauseingänge geschmiert wurden, wo Anhänger des israelfeindlichen Netzwerks Samidoun den Hamas-Überfall mit Süßigkeiten auf der Straße feierten.
Antisemitismus in Hamburg: Senatorin Fegebank startet neue Studie
Die Spitzen der Hamburger Politik haben sich klar positioniert. „Die Angriffe der Hamas auf Israel sind menschenverachtender Terror“, sagte Bürgermeister Peter Tschentscher (SPD) auf dem Landesparteitag der Sozialdemokraten Anfang November. „Da gibt es kein Ja, aber.“ Vor dem Hintergrund der deutschen Geschichte ergebe sich eine besondere Verantwortung, jüdisches Leben zu schützen und zu fördern.
Hamburgs Zweite Bürgermeisterin Katharina Fegebank, zuständig für jüdisches Leben, startete schon im Juni eine Studie zu Hass und Hetze gegen Juden in Hamburg und erklärte: „Mit den Ergebnissen werden wir gezielte Strategien entwickeln und dafür eintreten, dass Hamburg eine Stadt ist, in der Antisemitismus keinen Platz hat.“
Unbekannter behauptet, er habe Sprengstoff in der Synagoge platziert
Doch noch ist dafür Platz – es gibt Anlässe für die Verunsicherung und Furcht bei Menschen jüdischen Glaubens und für die staatliche Bewachung jüdischer Einrichtungen. Der jüngste Vorfall liegt erst wenige Wochen zurück.
11. November: Vor dem Jüdischen Bildungszentrum an der Rothenbaumchaussee hat ein unbekannter Mann per App ein Taxi bestellt; über die Chatfunktion schickt er dem Fahrer mehrere Nachrichten, behauptet unter anderem, er habe Sprengstoff in der Synagoge Hohe Weide platziert; er spricht von angeblichen erfolgten Straftaten, droht Taten an. Der Taxifahrer alarmiert die Polizei.
Auf dem von der Polizei bewachten Gelände der Synagoge befindet sich zu dieser Zeit eine kleine Gruppe jüdischer Menschen; sie verbringen nach Abendblatt-Informationen eine Stunde voller Angst in einem Keller, bis die Polizei Entwarnung gibt. Rabbiner Shlomo Bistritzky wird über den Vorfall telefonisch informiert – er befindet sich auf einer Tagung in New York. Es hätten sich keine Hinweise auf „konkrete Gefährdungssituationen“ ergeben, teilt die Polizei auf Anfrage mit. Gleichwohl laufen strafrechtliche Ermittlungen, geführt von der Staatsschutzabteilung des Landeskriminalamts.
Demonstrant in Harburg: „Ich bin für Hitler, Adolf Hitler“
Knapp drei Wochen zuvor, am Abend des 23. Oktobers: Auf dem Harburger Ring haben sich etwa 80 Jugendliche entgegen des städtischen Verbots zu einer pro-palästinensischen Demonstration versammelt; sie werfen Böller auf die Straße, besprühen Wände mit Hassparolen wie „Fuck Israel“. Die Polizei schreitet mit einem Großaufgebot ein, spricht 31 Platzverweise aus. Gefilmt von einem freien Journalisten, erklärt einer der Randalierer, Israel sei eine „Terrororganisation“, dann ruft er: „Ich bin für Hitler, Adolf Hitler. Vergast die Juden.“ Der junge Mann sei identifiziert worden, nun ermittele der Staatsschutz, so die Polizei.
Allein im laufenden Jahr haben die Beamten in Hamburg bis zum 5. Dezember 90 antisemitische Straftaten registriert, davon 37 (rund 40 Prozent) seit dem 7. Oktober. Bei der Mehrzahl aller Fälle habe es sich um Volksverhetzung gehandelt, so die Polizei. Es ist ein Anstieg gegenüber dem Vorjahr: 2022 verzeichneten die Beamten 73 antisemitische Straftaten in der Hansestadt. Wie aus der Senatsantwort auf eine Kleine Anfrage der CDU-Fraktion Mitte November hervorgeht, kam es an Hamburger Schulen im Zusammenhang mit dem Nahost-Konflikt zu vier Bombendrohungen. Diese seien von der Polizei aber als „keine Gefährdungslage“ eingestuft worden.
Hamburg hat erst seit 2021 einen Antisemitismusbeauftragten: Stefan Hensel. Er arbeitet ehrenamtlich. Neben den polizeilich erfassten Straftaten gebe es ein „großes Dunkelfeld“, sagt Hensel. Seit dem 7. Oktober erhalte er täglich Meldungen von jüdischen Menschen, die ihm von mitunter wüsten Beleidigungen und abwertenden Äußerungen berichteten sowie von unerbetenen Vorträgen über Israel – beim Arzt, in Bars, Sportvereinen und auf Online-Plattformen. Hensel hilft, Anzeigen zu formulieren, wenn nötig; er kommt gerade nicht hinterher.
Jüdischer Student vor Synagoge Hohe Weide angegriffen
Aber auch schon lange vor dem 7. Oktober konnten sich die schätzungsweise 5000 bis 8000 Jüdinnen und Juden in Hamburg nicht akzeptiert und sicher fühlen. 4. Oktober 2020: Ein 24 Jahre alter jüdischer Student mit Kippa will die Synagoge Hohe Weide betreten, in der anlässlich des Laubhüttenfests Sukkot ein Gottesdienst stattfinden soll – da trifft ihn ein Spatenhieb auf den Kopf. Schwerverletzt kommt er ins Krankenhaus. Der 29 Jahre alte Täter trägt einen militärischen Tarnanzug; in seiner Hosentasche steckt ein Zettel mit einem aufgemalten Hakenkreuz. Das Hamburger Landgericht verurteilt den Mann wegen versuchten Totschlags in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung zur dauerhaften Einweisung in eine psychiatrische Klinik. Der Beschuldigte leide unter Wahnvorstellungen, die sich gegen das Judentum richteten, erklärt die Vorsitzende Richterin.
Die Tat ereignet sich ein Jahr nach dem Anschlag von Halle: Dort hatte der schwer bewaffnete Rechtsextremist Stephan B. am 9. Oktober 2019 versucht, in die Synagoge im Paulusviertel von Halle einzudringen, in der sich 52 Menschen befanden – scheiterte aber. Anschließend tötete er vor dem Gebäude eine Passantin und den Gast eines Imbisses und verletzte zwei weitere Menschen. So wütete er am Versöhnungsfest Jom Kippur, dem höchsten jüdischen Feiertag. Das Oberlandesgericht Naumburg verurteilte ihn zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe mit Sicherungsverwahrung.
Hamburg, 21. September 2019: Landesrabbiner Shlomo Bistritzky und Eliezer Noe, ein Vorstandsmitglied der Jüdischen Gemeinde, kommen aus dem Rathaus, als sie von einem 45-jährigen Mann bepöbelt und bespuckt werden – die Polizei schreitet ein. Vor Gericht entschuldigt sich der Mann später immerhin.
Holocaust-Allianz: Antisemitismus benutzt „unheilvolle Stereotype“
Antisemitismus, so lautet die Arbeitsdefinition der von 35 Staaten getragenen International Holocaust Remembrance Alliance (IHRA), ist eine bestimmte Wahrnehmung von Jüdinnen und Jüdinnen, die sich ihnen gegenüber als Hass ausdrücken kann – in Taten, aber auch in Worten, die gegen Einzelpersonen und deren Eigentum und gegen jüdische Gemeindeinstitutionen oder religiöse Einrichtungen gerichtet sind. Dazu zählen der Aufruf zur Tötung oder Schädigung von Jüdinnen und Juden im Namen einer radikalen Ideologie oder einer extremistischen Religionsanschauung, die Beihilfe zu solchen Taten oder ihre Rechtfertigung.
Antisemitisch ist der IHRA zufolge auch die Anschuldigung, die Juden betrieben eine gegen die Menschheit gerichtete Verschwörung und seien verantwortlich dafür, dass „die Dinge nicht richtig laufen“; Antisemitismus benutze „unheilvolle Stereotype“ und unterstelle „negative Charakterzüge“.
Im Joseph-Carlebach-Bildungshaus erzählt Gemeinde-Geschäftsführer David Rubinstein von einem Erlebnis im Hamburger Umland. Dort will die Jüdische Gemeinde eine Immobilie verkaufen. Unter den Kaufinteressenten sei eine ältere Dame gewesen. Sie habe im Haus diverse Schubladen geöffnet, unter dem Teppich nachgesehen, die Scheune sehen wollen, bis er sie fragte: „Was suchen sie eigentlich?“ Darauf sie: „Ich weiß nicht, vielleicht gibt es hier ja noch Gold. Wir können das Grundstück auch nicht kaufen, wenn hier vielleicht noch Leichen sind.“ So schildert es Rubinstein. „Zunächst habe ich das noch weggelächelt.“
Die Dame habe weitergesucht – irgendetwas müsse es hier doch geben. „Beim dritten Mal hatte ich es satt“, sagt Rubinstein. Er reagierte mit Zynismus: „Wir sind doch die Jüdische Gemeinde – wenn, dann hätten wir das Gold schon längst aus unserem Keller geholt und die Leichen noch tiefer verscharrt.“
Rubinstein und Stefanie Szczupak haben noch andere „Anekdoten“ parat. „Klassiker“, die sie schon mehrfach bei Treffen mit anderen Menschen erlebt hätten: „Du bist Jüdin? So siehst du gar nicht aus.“ Oder: „Sie sind jüdisch? Dafür sprechen sie aber gut deutsch.“ Szczupak kam vor 57 Jahren in Hamburg zur Welt und wuchs hier auf; Rubinstein (39), geboren in Charkiw in der Ukraine, lebt seit 29 Jahren in der Hansestadt.
Stefan Hensel: Viele jüdische Schüler erzählen nicht von ihrem Glauben
Ob hier geboren oder nicht: In Hamburger Schulen hätten schon vor dem 7. Oktober viele jüdische Kinder nicht erzählt, dass sie aus jüdischen Familien kommen, „weil sie und ihre Eltern Angst haben, Judenhass zu erleben“, sagt Hamburgs Antisemitismusbeaufragter Stefan Hensel. Frage man Schulleiter, ob es an ihrer Schule jüdische Kinder gebe, heiße es meistens: nein. „Dabei gibt es diese jüdischen Schülerinnen und Schüler natürlich.“
Rebecca Vaneeva wollte ihren Glauben nicht verborgen halten, so erzählt sie es. Die 22-Jährige kam in Hamburg zur Welt; ihre Eltern stammen aus Russland, wie die meisten Mitglieder der Jüdischen Gemeinde in Hamburg. Sie wuchs in Billstedt auf. An ihrem Gymnasium habe sie sich zu ihrer Religionszugehörigkeit bekannt und damit überwiegend positive Erfahrungen gemacht, erzählt Vaneeva. Doch einige Male hätten sich Schüler mit muslimischem Hintergrund abfällig geäußert. So habe ein Zehntklässler ihr gegenüber etwa erklärt, sie solle Coca-Cola boykottieren, da der Konzern die Einnahmen an Israel spende und damit ein Militärprogramm zur Tötung palästinensischer Kinder unterstütze.
Heute ist Vaneeva die Präsidentin des Verbands Jüdischer Studierender Nord. Im Studium werde ihr Glaube zwar auch von den allermeisten ihrer Kommilitonen akzeptiert und respektiert, sagt Vaneeva. Doch seit dem 7. Oktober sei ihr wieder mehrfach Antisemitismus begegnet, vorgetragen von einigen linken Studierenden, die etwa erklärt hätten, Israel begehe einen „Genozid“ im Gazastreifen und habe ein „faschistisches Regime“. Solche Narrative kursieren nicht nur in kleinen linken Zirkeln: Auch die Klimaaktivistin Greta Thunberg, Ikone der Fridays for Future-Bewegung, bezichtigte Israel in einem „Guardian“-Meinungsbeitrag des Völkermords.
Der Genozid-Vorwurf sei absurd und eine Täter-Opfer-Umkehr, sagt Stephan Grigat, Leiter des Centrums für Antisemitismus- und Rassismusstudien in Aachen. „Die israelische Armee führt einen Anti-Terror-Krieg gegen antisemitische Mörder, islamistische Vergewaltiger und ihre Unterstützer.“ Und: „Wer Israel ernsthaft als ‚faschistischen Staat‘ bezeichnet, hat weder vom Faschismus noch von Israel etwas verstanden“, so der Professor. „Das ist eine Form von israelbezogenem Antisemitismus, denn hier soll nicht irgendeine politische Entscheidung einer israelischen Regierung kritisiert werden, sondern der Staat soll delegitimiert und dämonisiert werden.“ Wenn solche „abstrusen und geschichtsvergessenen Charakterisierungen des Staates der Holocaust-Überlebenden und ihrer Nachkommen in Deutschland“ formuliert werden, sei das zudem „eine Form der Schuldabwehr“, sagt Grigat.
Unbekannte schmieren „NSDAP“ auf Plakat zur Aufklärung über jüdisches Leben
Manche wünschen sich offenbar dunkle Zeiten zurück. Im Oktober stellte der ehemalige CDU-Bürgerschaftsabgeordnete Carsten Ovens in der Patriotischen Gesellschaft eine Kampagne gegen Antisemitismus vor. Kurz darauf hingen an 70 Orten in Hamburg Plakate, die über jüdisches Leben aufklären sollten. Die Resonanz sei zum größten Teil sehr positiv gewesen, sagt Ovens, Geschäftsführer der Denkfabrik Elnet. Aber: Auf ein Plakat mit der Frage „Ist Chanukka das jüdische Weihnachten?“ an der Stresemannstraße in Altona schmierten Unbekannte mit schwarzer Farbe: „NSDAP“. Ein Versandhandel machte den Vorfall öffentlich auf X (vormals Twitter).
Die KZ-Gedenkstätte Neuengamme verzeichnete in diesem Jahr schon 16 rechte Zwischenfälle – drei Mal so viele wie 2022. „Sticker und Aufkleber mit rechtsextremen Inhalten, Anrufe von Personen, die sich rechtsextrem äußern und Besuche von Menschen mit rechter Gesinnung haben zugenommen“, sagt Direktor Oliver von Wrochem.
„Papa“, fragte Daniel Sheffer als Kind seinen Vater auf Hebräisch: „Warum seid ihr zurück nach Deutschland gegangen?“ Sein Vater, gebürtiger Wiener, der einzige Shoa-Überlebende einer 28-köpfigen Familie, 1939 als 12-Jähriger in das heutige Israel geflohen, sich trotzdem weiterhin als Europäer verstehend, nach der deutschen Sprache sehnend, schließlich 1976 nach Hamburg umgezogen, habe geantwortet: „Weil das heute andere Deutsche sind.“ Diese Begründung wirkte zunächst wie eine Gewissheit für seinen damals 5-jährigen Sohn, der in Tel Aviv zur Welt gekommen war. „Damit konnte ich leben, frei aufwachsen“, sagt Sheffer. Seine Kindheit in Lemsahl-Mellingstedt sei eine weitestgehend unbeschwerte „Zeit der Freude“ gewesen. „Ich wollte glauben, dass mein Vater recht hatte.“
Sheffer, Vorsitzender der Stiftung Bornplatzsynagoge, ist gerade nicht in Hamburg; wir erreichen ihn per Videochat in den USA, wo er geschäftlich zu tun hat. Bei ihm ist es fünf Uhr morgens, kein Problem, er ist ein Frühaufsteher.
Engagement an Schulen – damit Vorurteile gar nicht erst entstehen
„Sind das heute immer noch andere Deutsche, Herr Sheffer?“ Der 52-Jährige erzählt von seinem jüdischen Schwiegervater, geboren 1942, dessen Familie die Judenverfolgung überlebte, weil eine Frau im nordrhein-westfälischen Witten sie versteckte. Nach dem Zweiten Weltkrieg habe sein Schwiegervater sich dann in einem staatlichen Projekt engagiert, in dem Juden in Schulklassen gingen, über ihren Glauben und ihre Riten sprachen, damit Vorurteile gar nicht erst entstehen. Seine Tochter wurde Daniel Sheffers Ehefrau.
Das junge Paar studierte in Hamburg, gründete 1993 die Jüdische Organisation Norddeutscher Studenten – und besuchte ebenfalls deutsche Schulen, um über das Judentum aufzuklären. Dieses Projekt hieß „Brücke der Verständigung“; es stand unter der Schirmherrschaft von Ignatz Bubis, damals Vorsitzender des Zentralrats der Juden.
„In uns wohnt die Sehnsucht, akzeptiert zu werden in Verbindung mit dem Wort Jude“
Dann, vor etwa vier Jahren, erzählt Sheffer, kam sein eigener Sohn, der als Schüler in Hamburg mehrfach eingeritzte Hakenkreuze auf seinem Klassentisch vorgefunden habe, zu ihm und erzählte voller Stolz, er engagiere sich nun in dem Projekt „Meet a Jew“ (Triff einen Juden). Schirmherr ist Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier. „Und ich hatte die Schnauze voll“, sagt Sheffer. „Das ist die dritte Generation meiner Familie, die rausgeht und der nichtjüdischen Mehrheit erklärt, warum sie keine Juden hassen sollte.“
Natürlich sei er sehr froh über das Engagement seines Sohnes – und zugleich frustriert, dass der Antisemitismus immer wieder einen Weg finde. „In uns wohnt die Sehnsucht, akzeptiert zu werden in Verbindung mit dem Wort Jude – und ein selbstverständlicher, normaler Teil dieser Gesellschaft zu sein“, sagt Sheffer. Die häufigste Frage, die ihm bisher gestellt worden sei – „früher oder später fällt sie immer“ – in Gesprächen mit Fremden, Bekannten oder Freuden: „Was glaubst Du denn, was man gegen Antisemitismus tun sollte?“ Das mache ihn wahnsinnig, sagt Sheffer. „Ich habe das schon als kleiner Junge nicht begriffen: Warum fragt ihr das uns?“
Was ihm Mut macht, reicht von dem genannten Umstand, dass eine deutsche Familie seinen Schwiegervater rettete, bis hin zu den Zeichen eines Neuanfangs im Grindelviertel gleich neben der Joseph-Carlebach-Schule auf dem Joseph-Carlebach-Platz. Dort, wo bis zuletzt „brüllende Leere“ herrschte, wie es Stefanie Szczupak beschreibt, wo vor 85 Jahren Schlägertrupps der Nazis die größte Synagoge Norddeutschlands verwüsteten, in Brand steckten und ein Jahr später die Jüdische Gemeinde zwangen, das Gotteshaus auf eigene Kosten abzureißen, dort also haben sich Archäologen mit Schaufeln und Spitzkellen in die Tiefe gegraben – und unter Schutt und geborstenen Mauersteinen sehr gut erhaltene Bodenfliesen und sogar die Mikwe, das rituelle Tauchbad der zerstörten Synagoge, entdeckt. „Wir werden wieder den Boden unserer Vorfahren teilen können“, jubelte die Stiftung Bornplatzsynagoge.
Wiederaufbau der Bornplatzsynagoge in Rotherbaum rückt näher
Es sind Vorarbeiten für den Architekturwettbewerb zum Wiederaufbau des Gotteshauses. Den 19 Initiatoren der Kampagne „Nein zu Antisemitismus – Ja zur Bornplatzsynagoge“ war es bis Anfang 2021 gelungen, mehr als 100.000 Unterstützende zu gewinnen. Am 27. September dieses Jahres beschloss die Bürgerschaft auf Antrag von SPD, Grünen, CDU und Linken die Rückgabe des Grundstücks an die Jüdische Gemeinde – einstimmig, also auch mit den Stimmen der AfD und FDP. Zugleich entschied das Parlament, dass der von den Nazis auf dem Gelände errichtete Hochbunker abgerissen werden soll.
„Diese Gerechtigkeit, der Sieg der Juden über die Barbarei der Nazis – das fühle ich“, sagt Daniel Sheffer. „Der große Zuspruch für dieses Projekt, die Unterstützung dafür auch von so vielen nicht-jüdischen Menschen – das sind die Zeichen, die unsere Gesellschaft braucht.“ Am 9. November versammelten sich auf dem Bornplatz mehrere Hundert Hamburgerinnen und Hamburger unter dem Motto „Nie wieder ist jetzt“. Auf dem Boden leuchtete ein Davidstern aus Teelichtern.
Welche Kreise der geplante Wiederaufbau zieht, zeigt eine E-Mail, die Shlomo Bistritzky vor Kurzem erhielt. Der Landesrabbiner zeigt sie dem Abendblatt auf seinem Handy. Bei ihm gemeldet hat sich Israel Hirsch aus Kalifornien. Er schreibt: „Mein Vater war der letzte Vorsteher und Kantor der Bornplatzsynagoge.“ Verhaftet von der Gestapo am 9. November 1938 und anschließend im KZ Sachsenhausen festgehalten, konnte sein Vater später fliehen. Hirsch schreibt, er habe von den Plänen für das neue jüdische Gotteshaus erfahren und hoffe, dass Bistritzky ihm mehr erzähle. Er schließt mit den Worten: „Ich bin gerade 90 Jahre alt geworden. Im Jahr 1938 war ich fünf Jahre alt.“
Fortschritte gibt es auch an anderer Stelle. Um den liberalen Mitgliedern der Jüdischen Gemeinde in Hamburg eine Alternative zum orthodox geprägten Gebet in der Synagoge Hohe Weide anzubieten, hatte sich 2016 die Reformsynagoge gegründet. Lange fehlte für sie ein fester Ort. Das ist seit September anders, gefördert von der Stadt: Der Betty-Heine-Saal im ehemaligen Israelitischen Krankenhaus fungiert nun, 84 Jahre nach dem letzten jüdischen Gottesdienst dort, als Betsaal der Reformsynagoge – solange bis die gesamte Gemeinde in die neuen Gebäude der Bornplatzsynagoge einzieht.
Was Hamburgs Antisemitismusbeauftragter von Hochschulen und Vereinen fordert
Reichen diese Maßnahmen? Nein, sagt Hamburgs Antisemitismusbeauftragter Stefan Hensel. Er schlägt vor: Hamburgs Hochschulen, Kulturbetriebe und Sportvereine sollten die Antisemitismus-Definition der IHRA mit ihren vielen konkreten Beispielen zum Leitfaden ihres Handelns machen – so wie es der FC St. Pauli tue. Das sei ein „Leuchtturmprojekt“ in Hamburg, sagt Hensel; es biete Orientierung beim Erkennen und Benennen von Antisemitismus.
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Eine weitere Maßnahme vorstellen kann sich Oliver von Wrochem, Leiter der KZ-Gedenkstätte Neuengamme. „Mein Eindruck ist: Der Konsens bröckelt, dass die Ablehnung des Nationalsozialismus das demokratische Grundgerüst unserer Gesellschaft bildet“, sagt der Historiker. Früher habe er eine Verpflichtung zum Besuch einer KZ-Gedenkstätte für „nicht zielführend“ gehalten, sich immer gewünscht, dass sich möglichst viele Menschen aus eigenem Antrieb mit den Verbrechen der Nazis auseinandersetzen und verstehen, dass daraus eine Orientierung für das eigene Handeln folgen könne.
Aber nach den jüngsten Wahlerfolgen der AfD und seit dem Anstieg des Antisemitismus in Deutschland auch infolge des Überfalls der Hamas auf Israel, so von Wrochem, sei er „ins Grübeln gekommen“, ob es nicht doch sinnvoll ist, wenn jede Schülerin und jeder Schüler eine KZ-Gedenkstätte besucht – die Bereitstellung der dafür nötigen Gelder vorausgesetzt. In den Hamburger Lehrplänen könnte explizit der Besuch der KZ-Gedenkstätte Neuengamme verankert werden, weil dies der Ort mit der größten nationalsozialistischen Gewaltgeschichte in Hamburg sei. Ob eine solche Pflicht wirklich etwas bewirken könnte, sei aber nicht sicher.
Fegebank: Besuch in KZ-Gedenkstätte für alle Schüler verpflichtend machen
Hamburgs Zweite Bürgermeisterin Katharina Fegebank sagt, sie habe Überlegungen zu einer solchen Pflicht noch vor wenigen Monaten skeptisch gesehen, aber mittlerweile ihre Haltung geändert. „Ich glaube, dass man das machen sollte.“ Es sei „unabdingbar“, dass Schülerinnen und Schüler das „ganze grausame Ausmaß der menschenverachtenden Nazi-Ideologie, die zu sechs Millionen ermordeten Jüdinnen und Juden geführt hat, während der Schulzeit beim Besuch einer KZ-Gedenkstätte mit eigenen Augen nachvollziehen“, sagt Fegebank. „Nur so lässt sich begreifen, wohin Antisemitismus führte.“ Eine solche Pflicht hatte im Oktober 2019 – kurz nach dem Anschlag von Halle – schon der CDU-Bürgerschaftsabgeordnete André Trepoll gefordert.
Hamburgs Schulsenator Ties Rabe (SPD) sagt, er habe „bereits vor geraumer Zeit“ einen verpflichtenden Besuch vorgeschlagen. „Wir klären jetzt in gemeinsamen Gesprächen, wie wir die Besuche ausweiten und intensivieren sowie pädagogisch wirkungsvoller begleiten können.“
Katharina Fegebank berichtet, in Gesprächen mit Mitgliedern der Jüdischen Gemeinde sei ihr erzählt worden, dass es einige Mitglieder gebe, die „auf gepackten Koffern sitzen“. Das habe sie „völlig erschüttert“, sagt Fegebank. „Jüdinnen und Juden sind ein fester Teil Hamburgs und es war für mich kaum vorstellbar, dass sie aus Angst unsere Stadt verlassen.“ Aber je mehr sie sich in die Lage der Betroffenen versetze, desto besser könne sie das nachvollziehen. Schon lange vor dem 7. Oktober habe es eine „latente Bedrohung“ für Jüdinnen und Juden in Hamburg ebenso wie in ganz Deutschland gegeben. Es bleibe viel zu tun. „Wir müssen uns immer und immer wieder gegen jede Form von Antisemitismus in Hamburg stellen.“
Jüdische „Feinschmecker“-Chefredakteurin will Deutschland verlassen
Eine gebürtige Hamburgerin und Jüdin hat offenbar genug: Deborah Middelhoff will im Februar die Chefredaktion des Magazins „Feinschmecker“ aufgeben und ihren Lebensmittelpunkt ins Ausland verlegen – „vor dem Hintergrund meiner Zugehörigkeit zur jüdischen Glaubensgemeinschaft und aufgrund der aktuellen Entwicklungen in Deutschland“, wie sie Anfang November erklärte. Auf Anfrage bittet die Journalistin um Verständnis, dass sie keine weiteren Statements abgeben wolle.
Hamburg verlassen? Keinesfalls, sagt Landesrabbiner Shlomo Bistritzky: „Ich habe hier zu tun.“ Knapp zwei Wochen später steht er im Schneetreiben mit SPD-Fraktionschef Dirk Kienscherf vor einer drei Meter hohen Channukia auf der Reesendammbrücke am Jungfernstieg; gemeinsam zünden die beiden dort eine Kerze an. Zwei Tage darauf wiederholt der Rabbiner die Zeremonie mit Bürgermeister Peter Tschentscher – in der Mitte der Stadt. Gut zwei Kilometer entfernt bewachen weiterhin Polizeikräfte mit Maschinenpistolen die Jüdische Gemeinde – auch acht Jahrzehnte nach der Shoa, in der Freien und Hansestadt Hamburg.
Rebecca Vaneeva geht mindestens einmal pro Woche durch die Sicherheitsschleuse des Joseph-Carlebach-Bildungshauses, um Post abzuholen. Sie engagiert sich auch in der Jugendarbeit der Jüdischen Gemeinde, neben ihrer Arbeit für den Verband Jüdischer Studierender Nord. „Es ist traurig, dass dieser Schutz für eine Schule notwendig ist“, sagt die 22-Jährige. Doch sie erlebe auch immer wieder, dass nichtjüdische Menschen diese Realität beschämend finden.
Joseph-Carlebach-Schule: 2020 erstes Abitur seit dem Holocaust
Es kann doch nur mit Hoffnung weitergehen, sagt Stephanie Szczupak aus dem Vorstand der Jüdischen Gemeinde. Anders als zunächst vereinbart, führt sie das Abendblatt schließlich doch durch die Joseph-Carlebach-Schule. Immer noch keine Interviews mit Schülerinnen und Schülern. Aber ein Eindruck von den Klassen: Farbe, Vielfalt, Fröhlichkeit. „Wir sind ziemlich resilient“, sagt Szczupak. Im Jahr 2020 schloss hier der erste Abitur-Jahrgang seit der Shoa ab; der Notendurchschnitt von 2,15 zählte zu den besten unter Hamburgs Stadtteilschulen.
7. Dezember, Tag der offenen Tür. Ein kleinerer Rahmen als früher, keine Nachbarn, keine Presse, nur Eltern und Kinder sind zugelassen. Es kommen etwa 60, die sich für einen Platz an der einzügigen Einrichtung interessieren. Jeweils 15 bis 20 Mädchen und Jungen können in der kommenden ersten und der fünften Klasse unterkommen. Wie es aussieht, muss sich die jüdische Joseph-Carlebach-Schule im Grindelviertel um ihre Zukunft keine Sorgen machen.