Jerusalem. Hamburgs Bürgermeister besucht Holocaust-Gedenkstätte. Danach trifft er Israels Premierminister – und spricht von „unruhigen Zeiten“.
„Ich weiß, es ist nicht einfach für sie, hier zu sein“, sagt Susan Caine, als sie vor der Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem in Jerusalem die deutschen Besucher um Peter Tschentscher begrüßt. „Ich bin auch ein bisschen nervös“, fügt die Israelin hin – und erzählt von ihren Hamburger Wurzeln.
Tschentscher in Israel: Jüdische Nachfahrin erzählt bewegende Geschichte
Ihr Urgroßvater Abraham Löwenthal war Rabbiner in der Neue Dammtor Synagoge. Caines Großmutter floh aus Hamburg im Oktober 1938 vor den Nationalsozialisten nach Großbritannien; ihren drei Kindern, unter ihnen Caines Mutter, hatte sie erzählt, es ginge in den Urlaub. Auf der Zugfahrt nach Amsterdam habe ihre Großmutter, eine blonde Frau mit blauen Augen, zuerst stehen müssen – bis ein neben ihr sitzender Mann mit den Worten „Steh auf, du dreckiger Jude und mach’ Platz“ zum Gehen genötigt wurde. Ihre Großmutter, selbst Jüdin, erschauerte – so erzählt es Susan Caine.
Peter Tschentscher lauscht der Schilderung ergriffen. Hamburgs Bürgermeister ist in seiner Rolle als Bundesratspräsident nach Jerusalem gereist. In das Gästebuch von Yad Vashem wird er schreiben: „Die historische Schuld Deutschlands ist erdrückend. Wir werden die Opfer der Shoa nicht vergessen. Das Gedenken an ihr Schicksal ist zugleich eine Mahnung für uns heute, entschieden gegen jede Form des Antisemitismus vorzugehen und das jüdische Leben in Deutschland zu fördern.“
Es gibt kein längeres gerade in der Ausstellung, keine Perspektive
Susan Caine führt Tschentscher an diesem Mittwochvormittag durch den Erinnerungsort, der die Anfänge der NS-Zeit erklärt und den nationalsozialistischen Völkermord an den europäischen Juden während des Zweiten Weltkriegs nachzeichnet. Die Ausstellung ist komplett unterirdisch angelegt – „Architektur als Manifestation des Zivilisationsbruchs“, wie es Kim Wünschmann formuliert, Direktorin des Instituts für die Geschichte der deutschen Juden in Hamburg und Mitglied der Delegation, die Tschentscher auf dessen Israel-Reise begleitet.
Es gibt kein längeres gerades Stück in der Ausstellung, keine Perspektive. Der Weg durch die Schau ist verwinkelt; hinter jeder Ecke werden die Besucher aufs Neue erschüttert. Da sind Fotos von beschmierten Schaufensterscheiben jüdischer Geschäfte zu sehen, auf denen steht: „Deutsche, wehrt Euch, kauft nicht bei Juden.“ Da erzählen Überlebende und Angehörige von Opfern in Videos von der Deportation in Konzentrationslager. Da hängen Fotos von Kleiderresten in Babi Yar, jener Schlucht in der Ukraine, in der die Nazis im September 1941 innerhalb von zwei Tagen mehr als 33.000 Juden erschossen. Da liegen Hunderte Schuhe, abgenutzt und dunkelbraun vor Dreck, unter einer Glasscheibe am Boden – der letzte Besitz von Menschen, den sie abgeben mussten, bevor sie in die Gaskammer geführt wurden.
Leiter der Gedenkstätte besucht Deutschland – er wollte das niemals tun
In der Halle der Erinnerung mit einer Gedenkflamme für die Opfer des Holocaust legte Tschentscher am Mittwoch einen Kranz nieder. Anschließend sprach er mit dem Leiter der Gedenkstätte, Dani Dayan. Der 67-Jährige hatte Anfang des Jahres erstmals Deutschland besucht, weil anlässlich des 70-jährigen Bestehens von Yad Vashem 16 Objekte aus dem Holocaust-Museum im deutschen Bundestag gezeigt wurden.
Als junger Mann hatte Dayan sich geschworen, niemals in das Land der Täter zu reisen. Diese Entscheidung habe ihm als Erinnerung an die Shoa gedient; er habe damit den sechs Millionen von den Nazis ermordeten Juden seinen Respekt zollen wollen, erklärte Dayan. Doch zuletzt änderte er seine Haltung – und reiste nach Berlin.
Tschentscher nach Yad Vashem bei Israels Premierminister Benjamin Netanjahu
Nach dem Besuch von Yad Vashem fuhr Tschentscher zu dem ersten sehr hochrangigen politischen Gespräch auf seiner Israel-Reise als Bundesratspräsident: Er traf Benjamin Netanjahu. Israels Premierminister und die von ihm geführte rechts-religiöse Regierung stehen seit Monaten unter Druck. Immer sonnabends gehen Hunderttausende Menschen auf die Straße gegen eine geplante Reform, die das unabhängige Justizsystem des Landes schwächen könnte. Vorerst hat Netanjahu die Reformpläne gestoppt.
„Es ist viel Bewegung in diesem Land, die Zeiten sind unruhig“, berichtete Tschentscher nach dem Treffen. Netanjahu habe versichert, die israelischen Justiz werde weiterhin unabhängig von der Politik arbeiten. Wie glaubwürdig das ist und wie Netanjahu zu dieser Einschätzung kommt, konnten die Medien, die Tschentscher begleiten, nicht fragen, weil sie nach wenigen Minuten den Raum hatten verlassen müssen.
Hamburgs Bürgermeister spricht mit Oppositionsführer Jair Lapid
Im Anschluss an das Gespräch mit Netanjahu kam Tschentscher mit dem Oppositionsführer Jair Lapid zusammen. Dieser habe erklärt: Mit bestimmten Vorschlägen der Regierung werde es keine Einigung geben. Nun finde ein von Staatspräsident Jitzchak Herzog moderierter Prozess statt, sagte Tschentscher. Er will den Eindruck gewonnen haben, dass sich Regierung und Opposition auf „kleinere Veränderungen“ in der Justiz einigen könnten – was das konkret zu bedeuten hätte, blieb offen.
Dass die deutsche Politik die Justizreform in der zuletzt geplanten Variante kritisch sieht, sparte Tschentscher in dem Gespräch mit Netanjahu nicht aus. „Die israelischen Politiker verstehen schon, dass wir Fragen stellen, dass wir besorgt sind“, sagte der Bundesratspräsident. „Wir sind gerade in dieser schwieriger werdenden internationalen Lage mit China, Russland und Iran angewiesen auf die westlichen Demokratien“, erklärte Tschentscher. „Ich wünsche uns allen, dass Israel einen guten Weg findet, um eine starke Demokratie im weitesten Sinne zu bleiben.“
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Tschentscher: Tun alles, um jüdisches Leben in Hamburg zu schützen und zu fördern
Am Dienstag hatte er bei einem Empfang in Tel Aviv betont, Deutschland und Israel seien politische Verbündete und arbeiteten auch in Wissenschaft und Wirtschaft zusammen. „Vor dem Hintergrund der deutschen Geschichte sind wir sehr dankbar für die Freundschaft“, sagte Tschentscher. „In den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg ist jüdisches Leben nach Hamburg zurückgekehrt, und wir tun alles, um es zu schützen und zu fördern.“
Er verwies darauf, dass der Senat die Initiative der jüdischen Gemeinde zum Wiederaufbau der von den Nazis zerstörten Bornplatz-Synagoge unterstützt. „In der neuen Synagoge werden die jüdischen Bürgerinnen und Bürger Hamburgs wieder ein Gotteshaus im Herzen unserer Stadt haben.“