Hamburg. Nach Zwangsschließung 1942: In der 2007 wiedereröffneten jüdischen Schule im Grindel bekommt der Pionier-Jahrgang Zeugnisse.

Als die Kinder damals eingeschult wurden, war es für sie ein aufregender Tag. Wie bei allen Kindern, die mit der Schule in einen neuen Lebensabschnitt starten. Aber die Einschulung dieser zwölf Kinder im August 2007 war mehr als Herzklopfen, ein erster Blick ins Klassenzimmer und danach Kaffee und Kuchen mit der Familie. Denn diese Kinder waren – fast 70 Jahre nach der Zwangsschließung durch die Nationalsozialisten – die ersten Schüler in der gerade wiedereröffneten Joseph-Carlebach-Schule im Grindelviertel. Aus den Kindern von damals sind junge Erwachsene geworden, die morgen ihre Abiturzeugnisse bekommen. Und genau wie damals bei der Einschulung wird es ein Ereignis sein, auf das die Stadt blickt.

Hamburgs Zweite Bürgermeisterin Katharina Fegebank (Grüne) wird – wenn auch coronabedingt nur per Videobotschaft – Grußworte sprechen, genau wie Kultursenator Carsten Brosda (SPD), Schulsenator Ties Rabe (SPD) und weitere. Auch für Franziska von Maltzahn, die zum Leitungsteam der Schule gehört, ist es ein besonderer Tag. „Das Jahr 2020 ist für das Joseph-Carlebach-Bildungshaus ein besonderes Jahr, wir sind stolz und glücklich, dass der erste Jahrgang nach der Zwangsschließung 1942 sein Abitur abgelegt hat“, sagt sie.

Jüdische Schule im Grindelviertel ist einzigartige Einrichtung

Die meisten der 28 Lehrer und zuletzt 343 Schüler, die in eben diesem Jahr die Schule besuchten oder dort arbeiteten, wurden deportiert und von den Nazis ermordet. Eine Tafel am Eingangsbereich, auf der ihre Namen geschrieben stehen, erinnert daran. „So ist der morgige Sonntag ein Tag, der nicht nur für die Abiturienten und ihre Familien, sondern auch für die gesamte jüdische Gemeinde in Hamburg von großer Bedeutung ist“, sagt Franziska von Maltzahn.

Junge mit Kippa liest im jüdischen Gebetsbuch.
Junge mit Kippa liest im jüdischen Gebetsbuch. © picture alliance / dpa | dpa Picture-Alliance / Daniel BockwoldtBNethen@wmg.loc

Das Joseph-Carlebach-Bildungshaus, zu dem die Schule gehört, ist eine in dieser Form einzigartige Einrichtung. Jüdische und nicht jüdische Kinder können hier von von der Krippe bis zum Abitur jede Stufe durchlaufen. Zwar gibt es in Deutschland mehrere jüdische Schulen, doch nur in zwei weiteren ist es möglich, das Abitur abzulegen.

Besonders ist die Joseph-Carlebach-Stadtteil­schule auch, weil es wohl kaum eine andere Schule in Hamburg gibt, die derartig hohe Zuwachszahlen verzeichnet. Die Schule startete ihren Betrieb 2007 mit zwölf Schülern – nach und nach wurden es immer mehr, inzwischen sind es im Schnitt 230 bis 250 Schülerinnen und Schüler. 15 von ihnen – drei Schüler waren nach dem Start noch dazugekommen – haben ihr Abitur gerade bestanden.

An der Joseph-Carlebach-Schule gibt es nur ein Profil

Einer ist der 19 Jahre alte Arthur, der am Sonntag sein Zeugnis entgegennehmen wird. Ob man sich die ganze Schulzeit darüber bewusst gewesen sei, dass man Teil eines ganz besonderen Jahrgangs sei? „Nein, nicht die ganze Zeit“, sagt Arthur. „Viele Dinge waren bei uns wie an den meisten anderen Schulen auch. Nur wenige Dinge waren anders, zum Beispiel, dass wir nur ein Profil haben.“

Während die meisten Schüler in Hamburg aus mehreren Profilen – also Fächerkombinationen – wählen können, gibt es an der Joseph-Carlebach-Schule nur ein Profil, das sich aus Wirtschaft, Geschichte und Kunst zusammensetzt. Einen großen Unterschied zu anderen Schulen sieht Arthur aber darin, dass die Verbundenheit zur Schule und zur Gemeinschaft größer sei. „Dadurch, dass wir vergleichsweise wenig Schüler und Lehrer sind, ist das Verhältnis natürlich enger, ein bisschen wie bei einer Familie.“

Jeden Tag findet ein Morgengebet statt

Und dann gibt es noch ein paar andere Dinge, die hier anders laufen als an anderen Schulen. So findet jeden Tag ein Morgengebet statt, auch jüdischer Religions- und Hebräischunterricht steht für alle Schüler – egal ob und welcher Religion sie angehören – auf dem Stundenplan.

Carlebach-Gedenktafel und ein Junge mit Kippa.
Carlebach-Gedenktafel und ein Junge mit Kippa. © picture alliance / dpa | dpa Picture-Alliance / Daniel Bockwoldt

Arthur besucht die Joseph-Carlebach-Schule seit der fünften Klasse. Einige seiner Freunde sind seit der Vorschule hier. Arthur nennt seine Schule „eine Oase“, einen weltoffenen und toleranten Ort, an dem sich jeder sicher fühlen kann. Dass jeden Tag Polizisten vor Ort sind, um die Schule zu bewachen, habe er irgendwann nicht mehr bewusst wahrgenommen. „Es gehörte halt dazu“, sagt er. „Nur Quereinsteiger finden das in den ersten Wochen noch befremdlich.“

Antisemitismus und Rassismus nehmen wieder zu

Aber es gibt andere Dinge, die ihm Sorge bereiten. Etwa, dass Antisemitismus und Rassismus wieder zunehmen. „Fast jeder meiner jüdischen Freunde hat schon Antisemitismus erfahren“, sagt Arthur. „Nicht in Form von körperlicher Gewalt, aber durch Beleidigungen oder Anspucken zum Beispiel.“ Er selbst etwa trägt seine Kippa in der Öffentlichkeit nicht, weil er unangenehme Situationen vermeiden möchte. „Und ich kann verstehen, dass viele auch in Betracht ziehen, nach dem Abitur außerhalb des Landes zu studieren, weil man die Entwicklungen hier nicht absehen kann.“

Arthur aber möchte in Deutschland bleiben und entweder im Sicherheitsmanagement arbeiten oder als Chiropraktiker. Seine Bewerbungen will er kommende Woche losschicken. Vorher aber soll – soweit das gerade eben möglich ist – gefeiert werden. „Es ist schon schade, dass die Mottowoche und der Abistreich ausgefallen sind, und auch bei der Verabschiedung am Sonntag können nicht alle mitkommen, die gern mitgekommen wären“, sagt Arthur. Dennoch überwiegen die Freude und der Stolz. „Wir werden das Beste daraus machen und freuen uns einfach, dass wir es geschafft haben.“