Hamburg. Bürgerschaft beschließt einstimmig Rückgabe der enteigneten Grundstücke. NS-Dokument auf dem Carlebach-Platz symbolisch zerschnitten.

Die goldfarbenen Scheren durchtrennen das Papier im hellen Mittagslicht – mit wenigen Schnitten ist das Dokument, mit dem die Nazis 1939 die Zerstörung der zuvor geschändeten Bornplatzsynagoge anordneten, selbst zerstört. Auch wenn es sich um eine Kopie handelt, der symbolische Akt auf dem Joseph-Carlebach-Platz, wo die neue Bornplatzsynagoge entstehen soll, bedeutet das Ende eines politischen Skandals: 84 Jahre nach der Enteignung durch die Nationalsozialisten erhält die Jüdische Gemeinde das Grundstück zurück, auf dem die Synagoge stand. Fast ein Jahrhundert hat es gedauert.

Am Nachmittag beschloss die Bürgerschaft einstimmig einen interfraktionellen Antrag von SPD, Grünen, CDU und Linken, mit dem der Senat aufgefordert wird, „die unentgeltliche Übertragung des Eigentums der Flurstücke 1566 und 1593 der Gemarkung Rotherbaum an die Jüdische Gemeinde in Hamburg ... vorzubereiten“. Und es waren folglich die Fraktionsvorsitzenden Dirk Kienscherf (SPD), Jennifer Jasberg (Grüne), Dennis Thering (CDU) und Cansu Özdemir (Linke), die zuvor das Dokument der Enteignung, der „Arisierung“ jüdischen Besitzes zerschnitten – ein Dokument des Grauens.

Bornplatzsynagoge: NS-Gauleiter Karl Kaufmann gab den Befehl zur Zerstörung

„Der Herr Reichsstatthalter hat gestern ... angeordnet, dass die Synagoge am Bornplatz möglichst sofort abgebrochen werden soll. Er erwartet, dass der Erwerb des Grundstücks in aller kürzester Zeit durchgeführt wird. Die Bauverwaltung ist beauftragt, beschleunigt einen Vorschlag für die Ausgestaltung und Benutzung des Platzes vorzulegen“, heißt es in dem Schreiben der Bauverwaltung an den „Herrn Stadtkämmerer“ vom 9. März 1939. NS-Gauleiter Karl Kaufmann und die NS-Bürokratie diktierten der Gemeinde einen viel zu niedrigen Preis für das Grundstück – und zahlten den Betrag tatsächlich nie. Die Rückgabe des Grundstücks kann das Unrecht und das Leid nicht ungeschehen machen, aber wenigstens Recht wiederherstellen.

Von Archäologen ausgegrabene Glassplitter von Fenstern der ehemaligen Bornplatzsynagoge. Foto: Thorsten Ahlf / Funke Foto Services
Von Archäologen ausgegrabene Glassplitter von Fenstern der ehemaligen Bornplatzsynagoge. Foto: Thorsten Ahlf / Funke Foto Services © Funke Foto Services | Thorsten Ahlf

Was für ein Gegensatz: Viele Schülerinnen und Schüler der benachbarten jüdischen Schule stehen an diesem sonnigen Tag auf dem Joseph-Carlebach-Platz, der früher Bornplatz hieß. Die Stimmung wirkt heiter, wenn auch die zerstörte Synagoge so gegenwärtig ist wie seit ihrer Zerstörung nicht mehr. An vier Stellen ist das Pflaster des Mosaiks abgetragen, das den Grundriss der Bornplatzsynagoge zeigt. In vier Baugruben suchen Archäologen unter Leitung des Landesarchäologen Prof. Rainer-Maria Weiss nach Fundamentresten und Bauschmuck der Bornplatzsynagoge. Die Wissenschaftler sind längst fündig geworden: Verkohlte und verbogene Fensterrahmen aus Metall, farbige Glassplitter der Fenster, Säulenkapitelle und Kacheln sind als stumme Zeugen des Verbrechens, aber auch des untergegangenen jüdischen Lebens auf dem Platz ausgestellt.

Es dauerte 84 Jahre, bis die Stadt das Grundstück an die Jüdische Gemeinde zurückgab

„84 Jahre haben wir auf Gerechtigkeit und Sichtbarkeit der jüdischen Präsenz am Bornplatz gewartet. Umso bewegender, dass wir uns heute inmitten der Trümmer der zerstörten Synagoge hier treffen, in Sichtweite unserer wieder blühenden jüdischen Schule, des Joseph-Carlebach-Bildungshauses“, sagt Phlipp Stricharz, der Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde. Mit der Rückgabe der Grundstücke stelle die Bürgerschaft „ein konkretes, echtes, greifbares Stück Gerechtigkeit“ wieder her. „Die Nazis wollten uns unsichtbar machen. Der heutige Tag zeigt, dass das jüdische Hamburg eine Zukunft hat“, sagt Stricharz.

„Der Moment heute ist ein Wendepunkt in unserer jüdischen Geschichte in Hamburg. Heute siegt die Gerechtigkeit und das jüdische Leben vor der Barbarei der Nazis“, sagt Daniel Sheffer, der Vorsitzende des Stiftungsrats Bornplatzsynagoge. Sheffer, der in den 1970er-Jahren als Kind mit seiner Familie nach Deutschland gekommen war, erinnerte an seinen Vater. „Als ich ihn fragte, warum wir in das Land der Täter gezogen sind, sagte er nur einen Satz: Weil es andere Deutsche gibt“, sagt Sheffer und fügt hinzu: „Heute sind andere Deutsche. Wir sind andere Deutsche.“

Es geht nicht zuletzt darum, jüdisches Leben in der Stadt sichtbarer zu machen

„Das ist ein bewegender Tag. Dass wir als Stadt das Grundstück der Jüdischen Gemeinde bis heute nicht zurückgegeben haben, ist beschämend. Dem wollen wir mit dem gemeinsamen Beschluss in der Bürgerschaft ein Ende setzen“, sagte SPD-Fraktionschef Dirk Kienscherf. „Das ist ein historischer Beschluss, der lange überfällig war, und ein starkes Signal gerade in der heutigen Zeit: Wir sagen, das jüdische Leben ist fester Bestandteil unserer Hamburger Stadtgesellschaft“, sagt der Sozialdemokrat.

Landesrabbiner Shlomo Bistritzky vor einer der vier Ausgrabungsstätten auf dem Joseph-Carlebach-Platz, wo bis 1939 die Bornplatzsynagoge stand. Foto: Thorsten Ahlf / Funke Foto Services
Landesrabbiner Shlomo Bistritzky vor einer der vier Ausgrabungsstätten auf dem Joseph-Carlebach-Platz, wo bis 1939 die Bornplatzsynagoge stand. Foto: Thorsten Ahlf / Funke Foto Services © Funke Foto Services | Thorsten Ahlf

„Ich bin dankbar, dass wir den Weg gemeinsam mit den demokratischen Fraktionen der Bürgerschaft und der Jüdischen Gemeinde gegangen sind. Wir schaffen einen Ort, an dem wir alle dazu beitragen können, dass jüdisches Leben wieder selbstverständlich wird in dieser Stadt“, sagt Grünen-Fraktionschefin Jennifer Jasberg.

Ende 2024/Anfang 2025 soll der Architekturwettbewerb für den Neubau gestartet werden

„Heute ist ein Tag der Emotionen und vor allem ein Tag der Freude. Wir müssen erleben, dass auch 78 Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg Antisemitismus in unserem Land leider immer noch alltäglich ist. Deswegen bin ich glücklich und ein bisschen stolz, dass es uns gemeinsam gelungen ist, dieses Unrecht, das hier passiert ist, ein Stück weit zu heilen“, sagt CDU-Fraktionschef Dennis Thering. „Es ist ein schöner und wichtiger Schritt, jüdisches Leben endlich wieder sichtbarer zu machen. Aber leider ist jüdisches Leben immer noch Angriffen ausgesetzt, auch von Parteien in diesem Land“, sagt Linken-Fraktionschefin Cansu Özdemir.

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Wie geht es weiter? Daniel Sheffer geht davon aus, dass der Architekturwettbewerb für den Wiederaufbau der Bornplatzsynagoge Ende 2023/Anfang 2024 gestartet und etwa ein Jahr dauern wird. Basis für den Wettbewerb ist eine Machbarkeitsstudie, die vor einem Jahr vorgelegt wurde. Denkbar ist auch, dass Teile der jetzt freigelegten Fundamente und Baureste in das neue Bauwerk integriert werden. Für viele Mitglieder der Jüdischen Gemeinde, deren Familien die Shoah zum Teil in Hamburg erleben mussten, stellen die Fundstücke einen der wenigen direkten Bezüge zu ihrer Geschichte dar.

Hochbunker am Joseph-Carlebach-Platz könnte 2025 abgerissen werden

Ende 2020 hatte der Bundestag auf Initiative Hamburger Abgeordneter 65 Millionen Euro für den Bau der neuen Bornplatzsynagoge bewilligt. Die Bürgerschaft beschloss den Wiederaufbau im Februar 2020 und dürfte Mittel in gleicher Höhe bereitstellen. Das Hamburger Parlament hat den Senat jetzt auch aufgefordert, den von den Nazis unmittelbar neben der ehemaligen Synagoge errichteten Hochbunker abzureißen. Sheffer rechnet damit, dass der Abriss 2025 erfolgen kann.

Landesrabbiner Shlomo Bistritzky steht nachdenklich am Rande der Szenerie. „Das Bodenmosaik ist als Platzhalter gut gewesen. Aber die wahre Geschichte liegt unter dem Mosaik und ist jetzt in Teilen sichtbar geworden“, sagt der Landesrabbiner.