Was für eine Sehenswürdigkeit: Wenn die Alster zufriert, strömen Zehntausende auf das Eis. Vergnügt zückten viele den Fotoapparat.
Hamburg. Der Sightseeing-Bus leuchtet rot, man sieht ihn ganz gut am Ufer, er fährt ja auch nur sehr langsam. Es ist glatt und rutschig auf Hamburgs Straßen, außerdem strömen die Massen zur Alster. Sie kommen von allen Seiten. Von oben muss das toll aussehen, wenn Tausende von kleinen Punkten auf diese große weiße Fläche ... ja, was eigentlich? Aus der Vogelperspektive sieht es so aus, als würden die Punkte - Ameisen! - wandern, rollen und kriechen. Wenn man auf dem Weiß ist, der derzeit berühmtesten Oberfläche der Hansestadt, dann weiß man aber erst genau, was diese Punkte tun: Sie stapfen, schlittern, rutschen.
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Und sie schlurfen, das ist in diesem Winter ausdrücklich erlaubt und kein Ausweis demonstrativer Lässigkeit, wie sie Pubertierenden eigen ist. Die Außenalster ist zugefroren. Das Spektakel, das sich aus diesem Umstand ergibt, eine mehr als nur saisonale Sehenswürdigkeit, die sich neben die Hamburger Evergreens Michel und Rathaus gesellt - ein Alstereisvergnügen ganz ohne offizielle Eis-Freigabe, neugierig in Augenschein genommen von den Touristen in den Doppeldeckerbussen und den Fahrgästen der Deutschen Bahn, die im ICE über die Lombardsbrücke fahren.
Zehntausende Hamburger wagten sich am Wochenende auf die Alster, und was sie dort erleben konnten, war auch ein ganz anderer Blick auf ihre Stadt. Es ist alles eine Frage der Perspektive dieser Tage in Hamburg. Wer auf die Alster schaut, der sieht ein unvertrautes Bild und ein Gewässer, das keines mehr ist. Mit so vielen Leuten wie sonst nie. Und wer von der Alster nach draußen blickt, muss erst recht gewohnte Wahrnehmungsmuster ablegen.
Wie seltsam, mitten auf dieser riesigen Brache zu sein, auf der nichts steht außer Tausende von Gleichgesinnten, und im 360- Grad-Panorama-Blick Hamburg aufzusaugen. Ganz egal, dass man diese tollen Aussichten an jedem x-beliebigen der normalen Tage haben kann, an denen man im Boot auf der Alster ist. Heute hat man sich zu Fuß dorthin gewagt, von wo sich der Fernsehturm als diesig verschleierte Erhebung offenbart und die Alstervillen als matt aneinandergereihte Unterkünfte. Sie sehen verwundert aus angesichts des Treibens, das sich vor ihren Haustüren abspielt.
Schwierig, genau die Mitte dieser wintererstarrten Segellandschaft zu finden. Neun Kirchtürme kann man von hier sehen, und man kann wie Jesus übers Wasser gehen. Dass das so gar nicht flüssig ist, tut der sensationellen Erfahrung keinen Abbruch, freilich will nicht jeder der stillgelegten Alster vertrauen: Weshalb der Blick mancher Sonntagsspaziergänger bisweilen ein wenig unruhig zum Ufer wandert. Andere lauschen dem Eis seine Geräusche ab, hören aber nicht das elektrisierende Springen, sondern nur das Kratzen der Kufen. Apropos: So richtig viel Freude haben die Schlittschuhläufer nicht. Neuschnee sorgt dafür, dass ihnen das glatte Geläuf fehlt. Dafür schlittern Schlitten, und Fotoapparate knipsen. Wer weiß, wann man wieder die Gelegenheit bekommt, fußläufig in die Mitte der Alster zu gelangen.
Wenn demnächst doch noch Würstchen- und Glühweinbuden auf der Alster stehen sollten, ginge zwar die puristische Empfindung verloren, die sich einstellt, wenn man als Teil eines Musters ein Punkt auf einer riesigen Leinwand ist. Man würde aber schneller an seine Stärkung gelangen, nach der besonders die hungrigen Kinder quäken - wie überhaupt den Eltern dieser Stadt Anerkennung gebührt. Man gewärtigt etliche schwer schnaufende Familienväter, deren Nachwuchs erwartungsvoll auf dem Schlitten sitzt - mal schauen, wie schnell Papa uns über die Alster ziehen kann. Das Alster-Happening ist für den Moment der Ort, an dem man sein muss. Wer noch nicht drauf war, dem fehlt heute im Büroplausch das Wissen: darum, wie erhaben der Augenblick sein kann, wenn man den ersten Schritt aufs Eis setzt. Und so eindrucksvoll das Gewusel ist - noch mehr wirkt das festgefrorene Stück Hamburg, wenn sich die schiere Größe des Eisblocks einsam unter einem ausbreitet.