Bergedorf. Im Juni 1984 stellt Boehringer die Lindan-Produktion in Moorfleet ein – erzwungenermaßen. Derweil haben Hausbesetzer eine Mission.
Ausgerechnet 1984: Das Jahr, in dem George Orwell seinen gleichnamigen Roman vom allgegenwärtigen Überwachungsstaat spielen lässt, wird in Bergedorf zum Jahr der kritischen Bürger. Sie sind nicht mehr breit, die Obrigkeit in Politik und Wirtschaft einfach machen zu lassen. Und das mit der Besetzung der 300 Jahre alten Speckenhäuser gleich neben der B5 mitten im Zentrum sowie massiven Protesten gegen die Moorfleeter Pflanzengift-Fabrik und Dioxin-Schleuder Boehringer sogar gleich auf zwei ganz großen Bühnen.
Die Öffentlichkeit schaut teils fasziniert, teils schockiert mit großen Augen zu. Durch die intensive, fast tägliche Berichterstattung der Bergedorfer Zeitung wird sie schließlich Zeuge, wie beide Skandale im Juni 1984 auf ihr großes Finale zusteuern: Die rund 30 vornehmlich jungen Hausbesetzer in Bergedorfs Ortskern müssen nach juristischen Schritten des Bezirksamts täglich mit der gewaltsamen Räumung durch die Polizei rechnen. Und bei Boehringer lassen immer neue Dioxin-Funde den Hamburger Senat auf Distanz gehen. Was von Konzern lange als illegale Werksblockaden vereinzelter Umweltaktivisten abgetan wurde, bedroht nun die Existenz der Hamburger Niederlassung.
Dioxin-Skandal in Bergedorf: Thema begleitet die Bürger schon einige Jahre
Beide Themen begleiten die Bergedorfer 1984 schon seit einigen Jahren. So haben sich schon zwei Jahre zuvor zahlreiche junge Politiker aus den Nachwuchsorganisationen von SPD, FDP und CDU zu einem lockeren Bündnis zusammengefunden, das sich den Namen „Initiative zur Erhaltung historischer Bauten in Bergedorf“ gegeben hat. Was sie eint, ist der Ärger über die zügellose Abrisspolitik der Bergedorfer Stadtplaner. Obwohl die Bomben des Zweiten Weltkriegs im Bezirk kaum Schäden angerichtet hatten, wurden anschließend breite Verkehrswege wie die B5 mitten durch die 300 Jahre alte Bergedorfer Vorstadt geschlagen. Und das gewachsene Zentrum von Sande/Lohbrügge rund um die Alte Holstenstraße war in den 1960er-Jahren gleich ganz dem Abrissbagger und den Spekulanten zum Opfer gefallen.
„Wir wollten diesen Irrsinn stoppen und ein Zeichen setzen für eine verantwortungsvolle Stadtplanung, die auch dem vermeintlich Alten, dem Denkmalschutz seinen Platz einräumt“, erinnert sich Geerd Dahms. Der Denkmalsachverständige war damals Sprecher der Hausbesetzer. „Die Speckenhäuser waren fast das letzte Relikt der alten Bergedorfer Vorstadt. Und die galt es zu erhalten.“
Hausbesetzung: „Gebäude der Unterschicht“ galten in Hamburg als nicht erhaltenswürdig
Tatsächlich gelang den jungen Leuten schon damals Beachtliches. Unter anderem wurde schon Ende 1982, wenige Monate nach dem Beginn der Hausbesetzung, das Hamburger Denkmalschutzgesetz geändert. Bis dahin hatte es dort noch geheißen, dass es „für die Erhaltung der Gebäude der Unterschicht“, wie es auch die Speckenhäuser waren, „kein öffentliches Interesse in Hamburg“ gebe.“
Doch den Aktiven um Geerd Dahms soll das nichts helfen. Obwohl sie mit regelmäßigen Festen, der rührenden Unterstützung der letzten, damals fast 80-jährigen Bewohnerin Else „Oma“ Stelzner und ihres legendären Trödelladens im Haus sowie nicht zuletzt einem sehr guten Draht zur Kulturbehörde eine breite Unterstützung in der Bevölkerung genießen. Um 4 Uhr rückt in der Nacht auf Montag, 18. Juni 1984, die Polizei mit zwei Hundertschaften an, um die Speckenhäuser zu räumen.
Auf dem Areal der Speckenhäuser wurde jetzt die Baugenossenschaft Bergedorf-Bille aktiv
Der harte Kern der Besetzer wird aus den Häusern getragen und noch in der Nacht zur Aufnahme ihrer Personalien zur Wache nach Billstedt gebracht. „Oma“ Stelzner ist da schon längst in einer Wohnung der Baugenossenschaft Bergedorf-Bille untergebracht, die die Speckenhäuser für den Neubau ihres Verwaltungssitzes nahe der Kreuzung Vierlandenstraße/B5 abreißen lässt. Damit hat sie bereits begonnen, als die nun ehemaligen Hausbesetzer am Vormittag wieder aus Billstedt zurückkommen.
Polizisten sichern die Arbeiten, die eigentlich so vorsichtig ablaufen sollen, dass ein späterer Wiederaufbau der Speckenhäuser an anderer Stelle möglich ist. Doch wie die Bergedorfer Zeitung schon am Dienstag, 19. Juni, verwundert berichtet, kommt beim „Abtragen“ auch ein mächtiger Bagger zum Einsatz, der nichts als Bauschutt hinterlässt. Tatsächlich gibt es Initiativen, diese letzten Zeugnisse der Bergedorfer Vorstadt sogar am Schlossteich wieder aufzubauen. Vor allem der Unternehmer Dietrich Poburski engagiert sich, will die Speckenhäuser an die Alte Holstenstraße verlagern und um eine Seeterrasse ergänzen.
Kühner Plan: Könnten die Speckenhäuser am Schlossteich neu aufgebaut werden?
Auch die Hausbesetzer zeigen sich kompromissbereit. Sie lehnen Poburskis Idee zwar ab, weil ein Umzug aus der Vorstadt in die alte Stadt Bergedorf geschichtlich betrachtet Unsinn wäre. Aber ein Versetzen um einige Meter nach Osten, wo die Speckenhäuser mit der vergleichbaren Willers‘schen Kate und der dahinter liegenden alte Schlosserei Harten ein Ensemble bilden würden, ist für sie denkbar. Doch der Artikel endet schon mit einer bösen Vorahnung: „In Bergedorf sind schon mehrere Häuser eingelagert worden und nie wieder aufgetaucht“, zitiert die bz Michael Stenner von Vorstand der Initiative der Hausbesetzer. Und genau so soll es auch kommen.
Bevor dieses Thema wieder in die Schlagzeilen gerät, wendet sich der Blick der Bergedorfer 1984 aber zum Skandal-Unternehmen Boehringer nach Moorfleet. Parallel zum Finale an den Speckenhäusern hat sich dort der Dioxin-Skandal immer weiter hochgeschaukelt. Eigentlich gab es schon seit 1979 große Fragezeichen hinter dem laxen Umgang der Chemiefabrik an der Andreas-Meyer-Straße mit ihrem Hauptprodukt Lindan und vor allem dem als Abfallstoff bei der Produktion anfallenden Dioxin.
Dioxin-Skandal in Bergedorf: Das Chemiewerk Boehringer und sein laxer Umgang mit dem Seveso-Gift Dioxin
Das Pflanzenschutzmittel Lindan gilt heute als giftigste Substanz, die je von Chemikern hergestellt wurde – wegen ihrer über Jahrzehnte anhaltenden tödlichen Langzeitwirkung auf alles Leben. Doch vor gut vier Jahrzehnten glaubt man noch den Angaben des Unternehmens, das seine Abfälle auf diversen Deponien in ganz Deutschland sogar oft mit offizieller Genehmigung der Behörden verklappt und auf dem Firmengelände seine Gifte angeblich sicher produziert, ohne Auswirkungen auf Luft, Boden, die benachbarte Landwirtschaft und vor allem die rund 250 Mitarbeiter.
Allerdings hatte es bereits 1976 einen verheerenden Unfall mit Dioxin im italienischen Ort Seveso gegeben. Mit vergifteten Landschaften, Tausenden toten Tieren und schwersten Erkrankungen von Hunderten Bewohnern. Selbst ihre Häuser mussten abgerissen werden, schwangeren Frauen wurde wegen der Gefahr von schwerst entstellten Säuglingen zu Abtreibungen geraten. Das ließ zwar noch nicht die Politik hellhörig werden, aber Umweltbewegungen wie Robin Wood, das junge Greenpeace und die aufkeimende politische Bewegung der Grünen.
Dioxin-Skandal in Bergedorf: 1984 gerät Boehringer plötzlich in die Schlagzeilen – und streitet alles ab
Sie sind es 1984 dann auch, die den unterschwellig schwelenden Boehringer-Skandal in die breite Öffentlichkeit bringen: „Was geschieht bei Boehringer?“, formuliert die Bergedorfer Zeitung schon am 11. Januar die zentrale Frage über einen Besuch der Bezirksversammlung bei Boehringer. „Bergedorfs Parlamentarier wollen wissen, ob und wo, wann und wie dieser Chemiekonzern im Bezirksgebiet giftige Abfälle gelagert hat oder haben könnte“, heißt es im Text, der eigentlich fragt: Wie viel Seveso-Gift wurde von Boehringer in Bergedorf abgekippt und vergraben?
Die Antworten kommen natürlich (noch) nicht von der Chemiefabrik, aber in den nächsten Wochen von Bezirksamt und Umweltbehörde – sowie durch schockierende Entdeckungen mancher Grundstückseigentümer. Gleich 200 „verdächtige Flächen“ lässt der Bezirk in Bergedorf untersuchen. Vor allem die ehemalige Havighorster Müllkippe zwischen dem heutigen Naturschutzgebiet Boberger Niederung und der A1 kommt ins Visier, werden hier doch „Boehringer-spezifische Produkte“ gefunden, wie die bz am 26. Januar meldet.
Dioxin-Skandal in Bergedorf: Jetzt gelten 200 alte Müllkippen in Bergedorf als potenziell mit Dioxin belastet
Auch die 1979 geschlossene Deponie Georgswerder, heute „Energieberg“ genannt, gerät in die Schlagzeilen. Immerhin liegt sie kaum einen Kilometer Luftlinie von der Chemiefabrik entfernt. Mitten in die Untersuchungen platzt am 2. März die Meldung, dass auch der Boden unter dem Firmengelände längst mit Dioxin verseucht ist und dort zudem gerade wieder 150 Tonnen flüssige Dioxin-Abfälle in Eisenbahnwaggons zum Abtransport bereitstehen. Es folgt die erste von unzähligen Krisensitzungen, die Umweltsenator Wolfgang Curilla (SPD) vorerst noch behördenintern einberuft. „Muss Boehringer geschlossen werden?“, schreibt die Bergedorfer Zeitung auf der Titelseite.
Jetzt überschlagen sich die Ereignisse, beginnt der Konzern mit Sitz in Ingelheim bei Mainz langsam zu begreifen, dass seine Taktik der Vertuschung und Beschwichtigung im Umgang mit den Hamburger Behörden nicht mehr zu halten ist. Dass durch den öffentlichen Druck auch die laxen Vorschriften im Umgang mit Dioxin nicht mehr lange Bestand haben werden. Es folgen erste Werksblockaden vor dem Tor der „Dioxin-Küche Boehringer“, die neben Robin Wood auch von der Bürgeraktion Moorfleet, der Chemiegruppe der noch jungen Bergedorfer Grünen und der Elternaktion gegen Dioxin in der Muttermilch organisiert werden.
Ein Moorfleeter entdeckt in einem Meter Tiefe unter seinem Garten eine stinkende Flüssigkeit
Und es gibt immer neue Meldungen von Gift im Bergedorfer Boden, etwa am Curslacker Neuen Deich, Dioxin im Moorfleeter Graben und Anfang Juni schließlich auch am Vorlandring in Moorfleet: Eine junge Familie hat in der sogenannten Boehringer-Siedlung eine neue Wasserleitung verlegen lassen wollen. Was die beauftragte Firma in etwa einem Meter Tiefe findet, lässt die Bauarbeiten sofort stoppen: „Eine schmierige, übelriechende Flüssigkeit“, schreibt die bz am 5. Juni.
Sofort wird Dioxin vermutet, und die Familie findet sich samt Wohnhaus und komplettem Grundstück hinter einem zweieinhalb Meter hohen Bauzaun wieder. Darauf Schilder mit der Aufschrift „Betreten verboten – Lebensgefahr“. Niemand hat Heinz und Rosemarie Niemann vorher über das Aufstellen des Zauns informiert, auch nicht darüber, ob sie mit Töchterchen Silke (3) überhaupt noch in ihrem Haus wohnen dürfen. Klar ist nur: Sollte die ölige Flüssigkeit im Untergrund Dioxin enthalten, wäre jede Berührung lebensgefährlich.
Häufung von Missbildungen bei Babys in Bergedorf eine Folge von Boehringers Dioxin?
Drei Tage später hat die Schnellanalyse zwar kein Dioxin ergeben, aber das Abpumpen der Flüssigkeit durch eine Spezialfirma dauert an. Mehr als 10.000 Liter werden abgefahren, dazu 25 Kubikmeter Erdreich. Derweil macht ein anderes Schreckgespenst die Runde: „Baby-Missbildungen durch Dioxin?“, titelt die Bergedorfer Zeitung am 30. Mai auf der ersten Seite. Acht Fälle aus dem Großraum Bergedorf sind aktenkundig, verteilt auf die Jahre 1976 bis 1983.
Es geht um Säuglinge mit nur einem Auge, Verformungen der Stirn, offenem Rücken und anderen teils tödlichen Schädigungen, die der Oberarzt Dr. Hubert Hayek aus dem Kinderkrankenhaus Wilhelmstift in Rahlstedt zusammengetragen hat. Als er die zusammen mit dem TV-Magazin Monitor einer renommierten Ärztin aus Saigon vorlegt, erkennt die Parallelen zum Vietnam-Krieg: Dort hatten die Amerikaner zum Entlauben der Bäume das stark dioxinhaltige Mittel Agent Orange eingesetzt, das zu vergleichbaren Missbildungen bei Neugeborenen führte.
Blockaden von Umweltaktivisten vor dem Boehringer-Werkstor im wöchentlichen Rhythmus
Als nun auch noch die Blockaden vor dem Werkstor fast zur wöchentlichen Routine werden und von der Staatsanwaltschaft beschlagnahmte Boehringer-Akten belegen, dass die vom Konzern ermittelten Dioxinwerte nicht immer ganz der Wirklichkeit entsprachen, sieht sich Umweltsenator Curilla zum Handeln gezwungen. Am 7. Juni kündigt die bz auf ihrer Titelseite erstmals die drohende Werksschließung an.
Die Behörde verschärft die Vorschriften nun so sehr, dass in Boehringers Produktionsrückständen praktisch gar kein Dioxin mehr vorkommen darf. Der Konzern zieht die Notbremse und stellt die Lindan-Produktion am 18. Juni 1984 ein. Damit ist das Schicksal des ganzen Werks besiegelt, es wird Ende 1984 endgültig stillgelegt.
Boehringer-Werk muss schließen – 250 Mitarbeiter verlieren ihre Jobs
Die Schuld schiebt die Boehringer-Geschäftsleitung dem Senat zu: Die neuen Immissionswerte für Dioxin „können wir nach derzeitigem Stand der Technik nicht im Entferntesten erfüllen“, heißt es am 21. Juni in der bz. Und Werksleiter Werner Krum legt im selben Artikel mit dem Blick auf den Verlust der rund 250 Arbeitsplätze noch nach: „Die Schließung unseres Werkes ist ein erster Sieg der Grün-Alternativen Liste. Das Beispiel Boehringer wird Schule machen und Folgen für die gesamte Industrie haben.“
Was Krum noch sagt, sorgt bis heute für Kopfschütteln: „Viele Mitarbeiter sind hier seit zehn, zwanzig oder gar dreißig Jahren tätig. Es gab nie Erkrankungen und auch keine Unfälle.“ Tatsächlich ist jeder einzelne der exakt 1589 Mitarbeiter, die seit dem Beginn der Pflanzenschutzmittel-Produktion 1952 im Hamburger Boehringer-Werk mindestens drei Monate beschäftigt war, mit Dioxin belastet. Das hat die 1987 für die Betroffenen eingerichtete medizinische und soziale Beratungsstelle am Hamburger Institut für Arbeitsmedizin belegt.
Wer mit Dioxin in Berührung kommt, trägt oft lebenslange Gesundheitsschäden davon
Wie der langjährige Leiter Prof. Dr. Alfred Manz schon 2014 der bz berichtet, sind die gesundheitlichen Folgen oft lebenslang – und sie betreffen oft auch Ehepartner und Kinder, mit denen die Boehringer-Mitarbeiter zusammenleben. „Viele hatten oder haben Krebs, andere Leber- und Herzschäden, Veränderungen der Psyche, etwa Depressionen. Oft ist auch die Sexualität gestört“, so Manz (✝ 2016), der zudem oft neurologische Erkrankungen wie Taubheit oder Störungen der Feinmotorik diagnostizierte.
Bis heute versucht die Interessengemeinschaft ehemaliger Boehringer-Mitarbeiter, diese Folgen als Berufskrankheit anerkennen zu lassen. Doch die Berufsgenossenschaften stellen sich quer. Immerhin der Konzern selbst unterstütze die Arbeit der Beratungsstelle und auch seine ehemaligen Hamburger Mitarbeiter bis heute, heißt es von der Interessengemeinschaft. Das gilt auch für die Einkapselung des ehemaligen Werksgeländes und die riesige Giftfahne, die bis heute im Untergrund weit über das alte Areal hinaus reicht, einschließlich großer Teile von Moorfleet.
Die gefälschten Hitler-Tagebücher im Magazin Stern: Der unterhaltsamste Prozess des Jahres
Ebenfalls folgenschwer, jedenfalls für das Nachrichtenmagazin Stern, dabei aber überaus unterhaltsam ist der Prozess des Jahres 1984: Die große Strafkammer des Hamburger Landgerichts befasst sich mit den gefälschten Hitler-Tagebüchern, die im Jahr zuvor vom Stern für 9,3 Millionen Mark angekauft und sogar in ersten Auszügen veröffentlicht wurden, bevor der ganze Schwindel aufflog. Angeklagt ist Konrad Kujau, der vom ersten Verhandlungstag die legendäre Fälschung zugibt, mit den stattlichen 63 Bänden in angeblicher Original-Handschrift Hitlers alle hinters Licht geführt zu haben.
Schnell wird er zum Liebling der Pressemeute, auch die Bergedorfer Zeitung nennt ihn am 11. September schlicht „Ein Schlitzohr namens Kujau“. Am Ende werden er und der ebenfalls angeklagte ehemalige Stern-Reporter Gerd Heidemann zwar zu mehrjährigen Haftstrafen verurteilt. Aber Kujau nutzte seine im Prozess erworbene Prominenz, um nach vorzeitiger Haftentlassung Ende der 1980er-Jahren eine eigene Galerie mit „Originalfälschungen“ zu eröffnen. Wenig später wird der Fall sogar zum Kino-Klassiker verfilmt – unter dem Titel „Schtonk“ mit Uwe Ochsenknecht und Götz George in den Hauptrollen.
Jörg König, Finanzsenator und Ex-Bezirksamtsleiter, sitzt betrunken am Steuer
Ebenfalls vor Gericht landet im Mai 1984 Bergedorfs ehemaliger Bezirksamtsleiter (1978–1982) Jörg König. Der damals 41-Jährige ist erst im März 1983 zum Finanzsenator unter Bürgermeister Klaus von Dohnanyi aufgestiegen, als er in der Nacht auf den 1. Mai betrunken mit seinem Dienst-Mercedes auf der A25 in die Leitplanken kracht. König, der laut Recherchen der bz von einem Fest der Bergedorfer Schützengesellschaft kommt, trifft dann eine folgenschwere Entscheidung: Er fährt mit dem demolierten Wagen heim, legt sich schlafen und meldet den Unfall mit einer erfundenen Geschichte erst am Nachmittag.
Doch König plagen Gewissensbisse, sodass er am 3. Mai erneut bei der Polizei erscheint, die Lügen samt Fahrerflucht zu Protokoll gibt und anschließend seinen Rücktritt als Senator einreicht. Dohnanyi nimmt das Gesuch an, bildet seinen Senat um und sorgt so fast für den Wechsel der Bergedorfer Bezirksamtsleiterin Christine Steinert in den Bundestag, denn Königs Nachfolger als Finanzsenator wird der SPD-Bundestagsabgeordnete Horst Gobrecht. Aber Steinert lehnt einen Wechsel nach Bonn ab, obwohl man dort sehr gern eine weibliche Kollegin aus Hamburg gesehen hätte: „Als Frau genügt es mir, im Bergedorfer Rathaus meinen Mann zu stehen“, zitiert sie die bz in der Wochenend-Ausgabe 12./13. Mai 1984.
Streit um Lohbrügges Wochenmarkt: Bezirksamt will ihn auf den neuen Sander Markt holen
Tatsächlich gibt es hier viel zu tun. So tobt in Lohbrügge ein Streit über die Umsiedlung des Wochenmarkts auf den 1983 ganz neu entstandenen Sander Markt am Ludwig-Rosenberg-Ring. Die Händler sind strikt dagegen, hat der neue Platz doch zu viele planerische Mängel: Zwar haben sich die Planer mit geschwungenen Formen, teils gemauerten Hochbeeten und viel Grün austoben können. Aber es fehlt dem Sander Markt an entscheidenden Dingen: Weder gibt es öffentliche Toiletten noch genügend Breite, um die Fahrzeuge gleich neben den Marktständen zu parken. Und dann ist da noch das nicht unerhebliche Gefälle: „Da steht man in seinem Verkaufswagen wie ein Seemann auf seinem Dampfer“, zitiert die Bergedorfer Zeitung am 17. Oktober einen der Händler.
Zwar setzt sich Christine Steinert persönlich und mit aller Macht ihrer Position als Bezirksamtsleiterin für den Umzug ein. Doch Ende November votiert die SPD mit ihrer absoluten Mehrheit in der Bezirksversammlung gegen die Wünsche ihrer „Bürgermeisterin“. Auch weil eine Befragung der Wochenmarktbesucher kurz zuvor mit 1500 zu 52 Stimmen unmissverständlich klar für den Verbleib an angestammten Ort ausgefallen war.
Große Sorgen wegen der rasant aufkeimenden Neonazi-Szene in Lohbrügge
Jetzt erst wird öffentlich, warum Steinert so vehement für den Umzug kämpfte: Ab März 1984 war die Alte Holstenstraße in Lohbrügge zur Fußgängerzone umgebaut worden – und den neu hergelockten Geschäftsleuten war vom Bezirksamt als „Niederlassungsanreiz“ versprochen worden, dass gleich hinter den Gebäuden zweimal wöchentlich Wochenmarkt sei, berichtet die bz am 28. November.
Franz Beckenbauer soll die Fußball-Nationalmannschaft übernehmen – Das sorgt für Kritik
Derweil deutet sich im Fußball eine Revolution an: Franz Beckenbauer wirft im April 1984 seinen Hut in den Ring, als es um die Nachfolge des zurückgetretenen Bundestrainers Jupp Derwall geht. Das schlägt hohe Wellen, verfügt der „Kaiser“ zwar unstrittig über eine Strahlkraft, die die Nationalmannschaft aus ihrem damaligen Tief holen könnte. Aber Beckenbauer hat keinen Trainerschein – und will auch keinen machen. Trainergrößen wie Erich Ribbeck und Horst Köppel üben deutliche Kritik, doch DFB-Präsident Hermann Neuberger setzt sich durch, gibt Beckenbauer einen „Berater-Vertrag“ und legt so den Grundstein für den Weltmeister-Titel von 1990.
Und noch zwei künftige Sport-Idole betreten 1984 die Bildfläche: Boris Becker stürmt beim Turnier in Melbourne im Dezember auf Weltranglistenplatz 54: „Es ist alles fantastisch“, jubelt die Bergedorfer Zeitung und spricht sogar schon von Wimbledon, das Becker als 17-Jähriger dann ja tatsächlich schon 1985 gewinnen soll. Auch Steffi Graf ist im Mai 1984 Thema: „14-jähriges Tennis-Girl – eine Hoffnung für den Federations Cup?“, fragt unsere Zeitung.
Kalter Krieg auch im Sport: Der Ostblock boykottiert die Olympischen Spiele in Los Angeles
Hinzu kommt noch ein alles überragender Schwimmer namens Michael Groß. „Der Albatross“, wie der Delphin-Spezialist von der Presse getauft wird, holt bei Olympia in Los Angeles zweimal Gold und zweimal Silber. Das lässt fast vergessen, dass auch diese Spiele vom Kalten Krieg überschattet werden: Nachdem die USA und andere westliche Staaten wie auch Deutschland vier Jahre zuvor Olympia in Moskau boykottiert haben, bleiben jetzt die russischen Sportler und andere Länder des Ostblocks den Spielen in den Vereinigten Staaten fern.
Royalen Zauber versprüht 1984 das britische Königshaus: am 14. Februar vermeldet auch die bz, dass Prinzessin Diana zum zwei Mal schwanger ist. Und am 17. September heißt es dann „Freude über den neuen Prinzen“. Er soll auf den Namen Henry Charles Albert David getauft werden, erfahren die bz-Leser. Und er stehe nach seinem Vater und Bruder William (2) auf dem dritten Platz der britischen Thronfolge.
„Pilotprojekt ökologisches Bauen in Allermöhe“ sorgt für Furore und große Nachfrage
Doch zurück nach Bergedorf: Hier wird jetzt gleich südlich vom S-Bahnhof Nettelnburg der erste Teil des Großbauprojektes Neuallermöhe sichtbar. Stattliche 13 Millionen Euro sollen allein die Grünanlage und der geplante Badesee kosten, zitiert die Bergedorfer Zeitung am 10. Januar 1984 Bergedorfs Gartenbauchef Adolf Singelmann. Modern sind zudem viele weibliche Straßennamen, die die „Gleichberechtigung der Frau“ auch im Straßenbild sichbar machen soll, wie die bz am 11. Juli schreibt. Dass dennoch nur neun der 25 geplanten Straßen Frauennamen bekommen, wird nicht thematisiert.
Tatsächlich vorbildlich und bis heute ein Maßstab ist das „Pilotprojekt ökologisches Bauen in Allermöhe“. In der Wochenend-Ausgabe unserer Zeitung vom 4./5. August 1984 stellt Oberbaurat Volker Hempel vom Amt für Stadterneuerung die „40 bis 50 geplanten Ökohäuser in der Südecke Allermöhes“ vor, für die sich bereits 30 Interessenten gemeldet hätten. Die Sonnenenergie solle genutzt, die Dächer begrünt, gemeinsame Wohnhöfe geschaffen und auf Zäune verzichtet werden. Zudem gehen Haushalts- und auch die Toilettenabfälle in die privaten Kompostierungsanlagen, werde Nutz- und Trinkwasser getrennt, informiert die „Interessengemeinschaft ökologisches Bauen“ Ende November bei ihrer Ausstellung im Lichtwarkhaus.
Bezirksamtsleiterin Steinert begrüßt Familie Zühlke als erste Bewohner von Neuallermöhe
Gebaut wir das alles tatsächlich erst von 1985 bis zum Sommer 1987, wie das aktuelle Lichtwark-Heft 2024 vom Kultur- & Geschichtskontor zum 40. Geburtstag der Ökosiedlung beschreibt. Die ersten Bewohner des heutigen Neuallermöhe-Ost begrüßt Bezirksamtsleiterin Christine Steinert aber schon am 11. September 1984, zehn Jahre nach den ersten konkreten Planungen. Es sind Hildegard und Erich Zühlke mit ihren drei kleine Kindern, die ihr rot geklinkertes Einfamilienhaus beim Ortstermin aber nur mit Gummistiefeln durch den kleinen künftigen Garten erreichen können: Alles auf der erst im Frühjahr 1984 begonnenen Großbaustelle ist noch ziemlich chaotisch.
Derweil macht auch die „Initiative zur Erhaltung historischer Bauten“ weiter. Auch wenn es der Bezirksamtsleiterin im Juni gelungen ist, die Speckenhäuser nach zweijähriger Besetzung dem Erdboden gleichzumachen, erobern sie gleich ein noch prominenteres Gebäude – wenn auch nur symbolisch: Am 5. September eröffnet im Bergedorfer Schloss ihre Ausstellung mit dem Titel „Die Zerstörung des alten Bergedorf“. Mehr als zwei Monate werden die Sünden der Bergedorfer Stadtplaner hier jetzt zur Schau gestellt und im gleichnamigen Katalog zur Ausstellung auch dokumentiert. Natürlich gehören auch die Speckenhäuser dazu.
- Sommer der Angst: 1981 schockt eine Serie von Kindermorden ganz Hamburg
- Die Hausbesetzer von damals würden es wieder tun
- Bergedorf und seine Zeitung: Mehr als 150 turbulente Jahre
Christine Steinert bleibt der Eröffnung fern, wie die bz am 7. September berichtet: Sie selbst sei verhindert und werde auch keine Vertreter schicken. „Nun ist ja bekannt, dass das Bezirksamt nicht nur mit der Initiative, sondern auch mit der Hamburger Kulturbehörde über Kreuz liegt, weil es arge Differenzen über Haushaltsgelder gibt“, klärt unsere Zeitung die Bergedorfer auf. „Die Kulturbehörde aber ist Mitveranstalter der Ausstellung im Schloss.“
Tatsächlich sollen sich beide Seiten noch häufiger in die Quere kommen, etwa bei der Rettung des Lohbrügger Wasserturms 1985 und nicht zuletzt seit die Initiative Anfang der 1990er-Jahre das Kultur- & Geschichtskontor gegründet hat. Das engagiert sich bis heute für die Rettung historischer Gebäude in Bergedorf, betreibt im Reetwerder ein öffentliches Archiv, organisiert Ausstellungen und ist Herausgeber diverser Bücher sowie des Lichtwark-Heftes. Christine Steinert ist bis zu ihrem Ausscheiden als Bezirksamtsleiterin 2001 zu keiner der zahlreichen Veranstaltungen gekommen – und auch anschließend noch nie hier gesehen worden.