Hamburg. 1974 werden etliche Bauvorhaben angeschoben und diskutiert. Eines der Projekte ist auch in der Gegenwart noch ein ganz großes Thema.

Es ist eine riesige Fabrik mitten im Zentrum Lohbrügges: Vor 50 Jahren prägt das Bergedorfer Eisenwerk mit seinen 2000 Mitarbeitern und ausgedehnten Produktionshallen das gesamte Areal des heutigen Wohnkomplexes Billebogen bis fast zur Alten Holstenstraße. Doch im Juni 1974 ist damit Schluss: Die längst im schwedischen Konzern Alfa Laval aufgegangene Fabrik zieht in ihren Neubau nach Glinde – und hinterlässt Bergedorfs Politik und Stadtplanung eine viele Hektar große, sehr zentrale Fläche.

Wie üblich in sozialdemokratisch regierten Städten der 70er-Jahre, ist die Projektentwicklung schon 1971 dem gewerkschaftseigenen Wohnungsbau-Konzern Neue Heimat übertragen worden. Das gilt übrigens auch für die damals anlaufenden, erstmals konkreten Planungen von Neuallermöhe, das 1974 noch Billwerder-Allermöhe heißt und auf seinen gut 1300 Hektar Fläche Wohnungen für bis zu 70.000 Menschen bieten soll.

150 Jahre bz: Planungen für Wohnungsbau bestimmen das Jahr 1974 in Bergedorf

Beide Großprojekte bestimmen die Schlagzeilen der Bergedorfer Zeitung, die zudem natürlich auch über die Eröffnung des Block-House im zwar schönen, aber bis dahin krisengeschüttelten Stadt Hamburg am Sachsentor berichtet. Weitere markante Themen 1974: Baustart fürs Kernkraftwerk Krümmel, Deutschland wird Fußball-Weltmeister, Axel Springer feiert den 100. Geburtstag der Bergedorfer Zeitung.

Typisch für die Stadtplanung der 60er- und frühen 70er-Jahre: Die alte Bausubstanz wird, wie hier an der Bergedorfer Straße, für Neubauten und Straßen geopfert.
Typisch für die Stadtplanung der 60er- und frühen 70er-Jahre: Die alte Bausubstanz wird, wie hier an der Bergedorfer Straße, für Neubauten und Straßen geopfert. © Kultur- & Geschichtskontor

Und es gibt gleich drei politische Skandale. So stürzt Willy Brandt (SPD) über den DDR-Spion Günther Guillaume, wird Helmut Schmidt (SPD) sein Nachfolger als Bundeskanzler. In den USA fällt Präsident Richard Nixon über die Watergarte-Affäre. Und Hamburg bekommt mit dem erst 37-jährigen Hans-Ulrich Klose (SPD) den jüngsten Bürgermeister seiner Geschichte, nachdem Vorgänger Peter Schulz parteiintern aus dem Amt gedrängt wurde – mit maßgeblicher Hilfe aus Bergedorf.

Gewerkschaftskonzern „Neue Heimat“ als Projektentwickler: CDU wittert Mauschelei

Hier tobt derweil ein handfester politischer Kampf um die Neubaupläne auf dem alten Eisenwerkgelände. Gestärkt durch die Wahl vom 3. März 1974, als die SPD ihre absolute Mehrheit in der Bezirksversammlung verlor und nun mit bloß noch 18 Abgeordneten der ebenfalls 18 Mitglieder starken CDU-Fraktion gegenüber sitzt, wird mächtig gegen die Neue Heimat und ihre engen Verbindungen zur SPD geschossen. Der Verdacht der Mauschelei liegt in der Luft, die in finanzielle Turbulenzen geratene Neue Heimat könne aus dem zentralen, durch die Stadt Hamburg erworbenen Grundstück erheblichen Profit ziehen.

Das Bergedorfer Eisenwerk, hier ein Luftbild aus dem Jahr 1964, lag direkt neben der Alten Holstenstraße, die im Vordergrund zu sehen ist. Sein Gelände erstreckte sich parallel zur östlich verlaufenden Bahnstrecke bis zur Bille und nach Westen fast bis zur heutigen Straße Am Beckerkamp.
Das Bergedorfer Eisenwerk, hier ein Luftbild aus dem Jahr 1964, lag direkt neben der Alten Holstenstraße, die im Vordergrund zu sehen ist. Sein Gelände erstreckte sich parallel zur östlich verlaufenden Bahnstrecke bis zur Bille und nach Westen fast bis zur heutigen Straße Am Beckerkamp. © fotovzgbzgh

Bergedorfs SPD hat ihre alte Mehrheit zwar durch eine Koalition mit den vier FDP-Abgeordneten in der Bezirksversammlung noch halbwegs sichern können, doch zeigen die permanenten Attacken des CDU-Fraktionschefs Hans-Heinrich Klemm Wirkung. Am Wochenende 17./18. August 1974 meldet die Bergedorfer Zeitung: „Baubeginn bis ins Jahr 1976 gebremst“, die Neue Heimat müsse nun „von Grund auf umplanen“.

Hochhäuser im Billebogen und großflächiger Abriss an Alter Holstenstraße vom Tisch

Konkret nimmt man von den vorgesehenen Hochhäusern Abstand, reduziert die Zahl der Wohnzungen um 200 auf nun rund 1400, setzt auf mehr Grün und nimmt endlich auch von den bereits seit 1965 bestehenden radikalen Abrissplänen an der Alten Holstenstraße Abstand. Um ein riesiges Einkaufszentrum entstehen zu lassen, sollten nämlich alle Gebäude zwischen Bahnlinie und Lohbrügger Markt fallen. Dem schiebt Bergedorfs Politik jetzt zumindest für die noch weitgehend erhaltene Ostseite einen Riegel vor.

Die Lohbrügger sind sauer: Autowracks und leer stehende Häuser lassen die Innenstadt rund um die Alte Holstenstraße veröden: „In dieser Gegend ist niemand mehr sicher!“, heißt es am 25. Oktober 1974 in der Bergedorfer Zeitung.
Die Lohbrügger sind sauer: Autowracks und leer stehende Häuser lassen die Innenstadt rund um die Alte Holstenstraße veröden: „In dieser Gegend ist niemand mehr sicher!“, heißt es am 25. Oktober 1974 in der Bergedorfer Zeitung. © bgz | Bergedorfer Zeitung

Westlich der Alten Holstenstraße ist 1974 dagegen schon fast alles verschwunden oder steht leer. Aber bis hinüber zum Sander Damm ist kein einziger Neubau entstanden. Die Folgen beschreibt die Bergedorfer Zeitung am 25. Oktober neben einem Foto von hier ausgeschlachteten Schrottautos eindrucksvoll: „Zurzeit kann das Gelände wirklich nicht als Zierde bezeichnet werden. ,Umweltfreundliche‘ Mitbürger verwechseln es offenbar mit einer Müllkippe. Autowracks, Herde, alte Möbel und anderer Sperrmüll liegen herum. Die Häuser, die nicht mehr bewohnt werden, dienen Pennern und anderem lichtscheuen Gesindel als Behausung.“

Schrottautos und Obdachlose mitten in Lohbrügge: Wut auf verfehlte Stadtplanung

Nachts trauen sich viele Lohbrügger hier nicht mehr her, was die Wut auf die verfehlte Stadtplanung wachsen lässt. „Würde ein Einzelner sein Grundstück so verwahrlosen lassen, wäre nach kurzer Zeit die Ordnungsbehörde mit einem Bußgeldbescheid da“, zitiert die Bergedorfer Zeitung einen Lohbrügger. Und ein Geschäftsmann von der nun gesicherten anderen Seite der Alten Holstenstraße erinnert an die seit 1965 im Bebauungsplan festgeschriebene Veränderungssperre für alle Altbauten: „Wir würden gern an unseren Häusern Umbauten vornehmen lassen. Aber durch das seit knapp zehn Jahren eingetragene Umlegungsverfahren ist uns das nicht möglich. Es gleicht einer Bausperre für unsere Häuser.“

Bis heute Zeuge unvollendeter Stadtplanung mitten in Lohbrügge: Blick von einem Hinterhof an der Alten Holstenstraße auf die Rückseite der Gebäude an der Alten Holstenstraße. Der Neubau rechts war bis vor einigen Jahren Finanzamt und beherbergt heute das Jobcenter Bergedorf der Agentur für Arbeit.
Bis heute Zeuge unvollendeter Stadtplanung mitten in Lohbrügge: Blick von einem Hinterhof an der Alten Holstenstraße auf die Rückseite der Gebäude an der Alten Holstenstraße. Der Neubau rechts war bis vor einigen Jahren Finanzamt und beherbergt heute das Jobcenter Bergedorf der Agentur für Arbeit. © bgz | Ulf-Peter Busse

Tatsächlich soll sich hier bis in die 80er-Jahre nicht viel tun. Auch die Arbeiten am Billebogen beginnen erst 1978, die ersten der über 1000 Wohnungen können 1980 bezogen werden. Die hässliche Brache zwischen Alter Holstenstraße und Sander Damm wird sogar erst einige Jahre danach in Angriff genommen.

Neuallermöhe: Planungen für Bergedorfs „Stadt in der Stadt“ werden konkret

Parallel zum Tauziehen um Lohbrügges Innenstadt und den Billebogen geht 1974 auch die im Jahr zuvor begonnene Planung von Neuallermöhe in die politische Debatte. Bis zu 70.000 Menschen soll diese „Stadt in der Stadt“ zählen, die unter dem Namen Billwerder-Allermöhe auf gut 1300 Hektar Fläche südlich und westlich der damals gerade fertiggestellten Hochhaussiedlung Bergedorf-West geplant wird.

„Planungspause für den Billebogen“ heißt es am Wochenende 4./5. Mai 1974 in der Bergedorfer Zeitung.
„Planungspause für den Billebogen“ heißt es am Wochenende 4./5. Mai 1974 in der Bergedorfer Zeitung. © bgz | Bergedorfer Zeitung

Auf den schon in den 20er-Jahren von der Stadt Hamburg als Wohnungsbaupotenzial aufgekauften und an die Landwirte nur verpachteten Flächen soll jetzt eine attraktive „Stadt der Kanäle“ entstehen. Ihre Aufgabe: Mit möglichst preiswertem, aber hochmodernen Wohnraum die Abwanderung der Hamburger ins Umland stoppen. Doch als klar wird, dass das die Hansestadt weit über eine Milliarde Mark kostet, wird das Projekt in drei Bauabschnitte aufgeteilt. Nur der erste, direkt an Nettelnburg und die gleichnamige S-Bahn-Station angrenzende östlichste Teil für 15.000 Menschen soll vis-à-vis von Bergedorf-West umgesetzt werden.

Staatsrat Diether Haas wird Sonderbeauftragter für Billwerder-Allermöhe

Während die CDU das gesamte Projekt als „seelenlose Betonsilos“ und „künftige Schlafstadt“ ablehnt, kämpft der vom SPD/FDP-Senat eigens als „Sonderbeauftragter für Billwerder-Allermöhe“ eingesetzte Staatsrat Diether Haas beherzt für das Großprojekt: „Hamburg braucht definitiv neue Wohnbauten“, und die seien mit bezahlbaren Mieten nur hier, auf den seit Jahrzehnten im städtischen Eigentum befindlichen Flächen sicher zu realisieren, die zudem extrem verkehrsgünstig an der S-Bahn und der künftigen Marschenstraße (heute A25) liegen.

Blick aus der Vogelperspektive auf Bergedorf-West und seine Umgebung Anfang der 70er-Jahre: Wo heute Neuallermöhe steht, erstrecken sich damals noch ausgedehnte Wiesen und Felder.
Blick aus der Vogelperspektive auf Bergedorf-West und seine Umgebung Anfang der 70er-Jahre: Wo heute Neuallermöhe steht, erstrecken sich damals noch ausgedehnte Wiesen und Felder. © Kultur- & Geschichtskontor | Kultur- & Geschichtswerkstatt

„Was immer wir in Hamburg wollen und was immer auch geschieht. An Billwerder-Allermöhe kommen wir auf kurze oder längere Dauer nicht vorbei“, sagt Diether Haas am Wochenende 5./6. Dezember 1974 in der Bergedorfer Zeitung auch mit Blick auf den neuen Bürgermeister Hans-Ulrich Klose. Der ist drei Wochen zuvor nach einem internen Machtkampf der SPD vom mächtigen Bergedorfer Fraktionschef Oswald Paulig als Nachfolger des geschassten Peter Schulz ins Amt gehoben worden. Und Klose legt erst einmal alle Großprojekte seines Vorgängers auf Eis. Vor allem auch Billwerder-Allermöhe, das Hamburg damals über ein Sondervermögen finanzieren will, also projektbezogene Schulden in Milliardenhöhe.

Hans-Ulrich Klose wird neuer Bürgermeister – und legt Neuallermöhe erst mal auf Eis

Das liässt Neuallermöhe zwar nicht scheitern, aber es verzögerte den Start der konkreten Planung um weitere fünf Jahre. Gebaut wird Neualermöhe-Ost erst 1983 bis 1986, anschließend folgt in den 90er-Jahren Neuallermöhe-West. Der ebenfalls bereits 1974 geplante dritte Bauabschnitt ist als Oberbillwerder dagegen erst heute, 50 Jahre später, in seiner finalen Planung.

Hans-Ulrich Klose (SPD), hier fotografiert im Februar 1974, war von November 1974 bis 1981 Hamburgs Erster Bürgermeister.
Hans-Ulrich Klose (SPD), hier fotografiert im Februar 1974, war von November 1974 bis 1981 Hamburgs Erster Bürgermeister. © picture-alliance / Sven Simon | SVEN SIMON

Ein halbes Jahrhundert liegt – natürlich – auch Axel Springers große Feier zum 100. Geburtstag der Bergedorfer Zeitung zurück, ist sie doch im Jahr 2024 jetzt auch Anlass unseres 150-jährigen Jubiläums. Am 24. Mai 1974 kommt Springer sogar persönlich nach Bergedorf, um die Übernahme des Blattes samt Verlag der Familie Wagner zu feiern.

Axel Springer besucht die Bergedorfer Zeitung: Hier hat er sein Handwerk gelernt

Ein Objekt, das im Vergleich zu „Bild“, „Welt“, „Hamburger Abendblatt“ oder „Hörzu“ zwar klein ist, dem großen Verleger aber besonders am Herzen liegt. Unter anderem muss täglich eine druckfrische Bergedorfer Zeitung auf seinem Schreibtisch liegen, egal, ob er in seinen Dienstzimmern in Hamburg und Berlin, in seinem Ferienhaus auf Sylt oder sonst wo auf der Welt unterwegs ist.

Axel Springer zu Besuch bei „seiner“ Bergedorfer Zeitung
Axel Springer zu Besuch bei „seiner“ Bergedorfer Zeitung

weitere Videos

    Tatsächlich verbindet den großen Verleger eine ganz persönliche Geschichte seines beruflichen Werdegangs mit der kleinen Bergedorfer Zeitung: In seiner Rede zum 100. Geburtstag der bz erinnert sich Springer detailreich, wie er bei der Bergedorfer Buchdruckerei von Ed. Wagner und ihrer bz in den Jahren 1932/33 als Volontär in die Ausbildung gegangen war.

    Der 100. Geburtstag der Bergedorfer Zeitung 1974: ein etwas konstruiertes Datum

    Aber auch wenn er seinerzeit, im September 1933, selbst den 50. Geburtstag des Blattes im Verlag der Familie Wagner mitgefeiert hat, legt er nun 1974, also nur 41 Jahre später, den 100. nach. Ein Jubiläum, für dessen Begründung sich Chefredakteur Karl Mührl sehr kreativ ins Zeug legen muss, will Axel Springer doch eigentlich nur seine Übernehme des bz-Verlags möglichst prominent feiern. Wie mittlerweile feststeht, ist das Blatt in seiner heutigen Form erst am 15. September 1883 entstanden. Den Titel Bergedorfer Zeitung gibt es aber deutlich länger, zumindest als Untertitel: Der erste „Nordische Courier – Bergedorfer Zeitung“ erschien bereits im Oktober 1866.

    Häufig Gast bei der Bergedorfer Zeitung - auch als Bundeskanzler: Helmut Schmidt bei einem Besuch 1974. Rechts: bz-Verlagsgeschäftsführer Hans-Joachim Gangloff.
    Häufig Gast bei der Bergedorfer Zeitung - auch als Bundeskanzler: Helmut Schmidt bei einem Besuch 1974. Rechts: bz-Verlagsgeschäftsführer Hans-Joachim Gangloff. © bgz | Bergedorfer Zeitung

    Eine ganz andere Bergedorfer Erfolgsgeschichte nimmt am 14. August 1974 ihren Lauf: Eugen Block übernimmt das Lokal Stadt Hamburg und macht dieses 1961 quasi neu gebaute Haus im Herzen Bergedorfs endlich zu dem Anziehungspunkt, den sich der Bezirk als Eigentümer immer gewünscht hat. Nach sieben erfolglosen Pächtern ist er bereits Nummer acht – und gibt sich nach monatelangem Umbau selbstbewusst: „Hier haben wir unser Meisterstück geliefert“, zitiert ihn unsere Zeitung am 14. August 1974. Es sei „das siebte und schönste Block-House“.

    Eugen Block eröffnet das „Block-House“, Gunter Gabriel kommt auf die „Kogge“

    Auch andere Prominente kommen 1974 nach Bergedorf oder sind im Bezirk sogar zu Hause: Am 28. November wählt die Plattenfirma Ariola das Kneipen-Schiff „Kogge“ im alten Bergedorfer Hafen, um Gunter Gabriel als erfolgreichsten ihrer Interpreten auszuzeichnen: „Hey Boss, ich brauch‘ mehr Geld“ bricht 1974 alle Rekorde.

    Blick ins Bergedorfer „Block-House“ kurz nach der Eröffnung am 14. August 1974.
    Blick ins Bergedorfer „Block-House“ kurz nach der Eröffnung am 14. August 1974. © Block House | Block House

    Ebenfalls erfolgreich ist Hans Scheibner, der zusammen mit Meyer‘s Dampfkapelle das Stück „Am Fließband“ aufgenommen hat. Der Kabarettist mit spitzer Feder wohnt damals mit Frau Karin „bescheiden inmitten des Neubaugebietes Lohbrügge-Nord“, wie die Bergedorfer Zeitung im Dezember nach einem Besuch bei ihm zu Hause schreibt.

    Premiere für Rudi Carrells „Am laufenden Band“ und Telly Savalas als Lt. Theo Kojak

    Die großen Stars erleben die Bergedorfer 1974 dagegen im Fernsehen. Es ist das Jahr, in dem Rudi Carrell seinen untergehenden Stern am Showmaster-Himmel mit einem neuen Quiz retten will: Am Sonnabend, 27. April, feiert in der ARD um 20.15 Uhr „Am laufenden Band“ Premiere – und katapultiert den Holländer direkt in den Olymp der Fernseh-Stars. Dort kommt auch der Grieche Telly Savalas an, der als glatzköpfiger Lieutenant Theo Kojak am 3. Oktober seinen ersten „Einsatz in Manhattan“ hat.

    Rudi Carrell am 27. April 1974 bei der Premiere seiner Erfolgsshow „Am laufenden Band“.
    Rudi Carrell am 27. April 1974 bei der Premiere seiner Erfolgsshow „Am laufenden Band“. © Heinz Röhnert

    Noch dramatischer geht es am Bildschirm in den Bereichen Sport und Politik zu. So besteigt „Großmaul“ Cassius Clay alias Muhammad Ali mit zwei legendären Kämpfen den Thron als Box-Legende. Am 29. Januar besiegt er Joe Frazier nach zwölf Runden, und neun Monate später schlägt er Weltmeister George Foreman – mit K.o. in der achten Runde.

    Willy Brandt stürzt über DDR-Spion Guillaume – Helmut Schmidt wird Bundeskanzler

    Mindestens ebenso schmerzhaft erwischt es Bundeskanzler Willy Brandt im Frühjahr 1974: „Brandts rechte Hand war ein Zonen-Agent“, titelt die Bergedorfer Zeitung am 26. April. Ausgerechnet sein persönlicher Referent Günther Guillaume wird als Spion der DDR enttarnt. Er war sogar bei privaten Reisen der Brandts an der Seite des Kanzlers – zusammen mit seiner ebenfalls als Spionin enttarnten Frau Christel und dem 16-jährigen Sohn Pierre.

    Hir ist der Spionagefall Guillaume noch nicht aufgeflogen: Helmut Schmidt, noch Finanzminister, Brandt-Referent Günther Guillaume und Bundeskanzler Willy Brandt bei einer SPD-Vorstandssitzung in Berlin am 23. Juni 1973.
    Hir ist der Spionagefall Guillaume noch nicht aufgeflogen: Helmut Schmidt, noch Finanzminister, Brandt-Referent Günther Guillaume und Bundeskanzler Willy Brandt bei einer SPD-Vorstandssitzung in Berlin am 23. Juni 1973. © picture alliance / ASSOCIATED PR | dpa Picture-Alliance / EDWIN REICHERT

    Wenige Tage später tritt Brandt als Bundeskanzler zurück. Nachfolger wird Helmut Schmidt, der 1969 als Bergedorfer Bundestagsabgeordneter ins Parlament eingezogen war und enge Verbindungen auch zur Bergedorfer Zeitung pflegt – unter anderem durch manche Kolumne, die er selbst als Bundeskanzler noch für unser Blatt schrieb.

    Richard Nixon muss zurücktreten – Deutschland wird Fußball-Weltmeister

    Einen dramatischen Machtwechsel gibt es im August 1974 auch in den USA: Zwei Jahre, nachdem Journalisten im sogenannten Watergate-Skandal kriminelle Wahlkampfmethoden aufgedeckt haben, tritt Präsident Richard Nixon zurück – allerdings nicht, ohne sich zuvor von seinem Nachfolger Gerald Ford Straffreiheit garantieren zu lassen. Der Republikaner Nixon hatte der Öffentlichkeit in dem Skandal derart viele Lügen aufgetischt, dass er von der Presse den Spitznamen „Tricky Dick“ bekam.

    Nach dem 2:1 im Endspiel der Fußball-WM 1974: Bundestrainer Helmut Schön (l.) und Gerd Müller, der im Münchner Olympiastadion das zweite und entscheidende Tor gegen die favorisierten Niederländer erzielt hat.
    Nach dem 2:1 im Endspiel der Fußball-WM 1974: Bundestrainer Helmut Schön (l.) und Gerd Müller, der im Münchner Olympiastadion das zweite und entscheidende Tor gegen die favorisierten Niederländer erzielt hat. © picture-alliance / dpa | dpa Picture-Alliance / dpa

    Deutschlands Jubel kennt keine Grenzen, als es am 5. Juli heißt: „Hurra! Weltmeister!“, wie unsere Zeitung am Tag nach dem 2:1-Endspielsieg gegen die favorisierten Niederländer titelt. Gerd Müller, der „Bomber der Nation“ hatte nach zwei Elfmeter-Treffern für den zweiten Weltmeister-Titel nach 1954 gesorgt.

    Baustart des Atomkraftwerks Krümmel: Große Faszination für „saubere“ Kernenergie

    Begeistert berichtet die Zeitung das ganze Jahr über auch über den tatsächlich rasanten Fortschritt auf der Großbaustelle des Kernkraftwerks Krümmel. Mit der ersten Teilbaugenehmigung geht es gleich am 2. Januar los: Bagger heben die 16 Meter tiefe Baugrube für den Reaktor aus, der allerdings erst neun Jahre später mit 1,3 Millionen Kilowatt Leistung ans Stromnetz gegen soll.

    Großbaustelle Atomkraftwerk Krümmel 1974: Die untere Hälfte des Reaktor-Sicherheitsbehälters schwebt ein.
    Großbaustelle Atomkraftwerk Krümmel 1974: Die untere Hälfte des Reaktor-Sicherheitsbehälters schwebt ein. © Geesthachter Stadtarchiv/Helmut Knust | Geesthachter Stadtarchiv/Helmut Knust

    Das ganze Jahr 1974 über erfahren die Leser der Bergedorfer Zeitung immer mehr über die Dimensionen. So werde der damals größte im Bau befindliche Reaktor Deutschlands 840 Brennelemente mit zusammen 164 Tonnen angereichertem Uran bekommen, wie es am 24. Mai heißt. Zudem würden insgesamt 140.000 Kubikmeter Beton und 16.000 Tonnen Stahl verbaut. „650 Arbeiter und Ingenieure“ seien auf der Großbaustelle beschäftigt.

    1974 öffnet in Krümmel der Info-Pavillon mit Blick über die Großbaustelle

    Um das große Interesse der Bürger zu befriedigen, sorgen die Hamburger Electrizitätswerke als Bauherr und Betreiber bereits 1974 vor: Ende August öffnet der Info-Pavillon auf einem Hangabschnitt gleich neben dem Kraftwerksbau. Über Proteste der sich formierenden Anti-AKW-Bewegung ist im Jahr 1974 in der Bergedorfer Zeitung zumindest im Bezug auf Krümmel noch nichts zu finden.

    Der Bau des Atomkraftwerks Krümmel beginnt im Januar 1974 mit umfangreichen Erdarbeiten. Das Informationszentrum auf der Anhöhe dahinter (oberer Bildrand) ist bereits Ende August fertig.
    Der Bau des Atomkraftwerks Krümmel beginnt im Januar 1974 mit umfangreichen Erdarbeiten. Das Informationszentrum auf der Anhöhe dahinter (oberer Bildrand) ist bereits Ende August fertig. © Geesthachter Stadtarchiv/Helmut Knust | Geesthachter Stadtarchiv/Helmut Knust

    Sehr deutlich werden dagegen die tödlichen Unfälle im Straßenverkehr thematisiert: Auf einer Sonderseite zum Jahreswechsel 1974/75 werden die insgesamt 38 tödlichen Unfälle im Verbreitungsgebiet der Bergedorfer Zeitung mit allen Details aufgelistet. Es fällt auf, dass viele der Toten unter 30 Jahre jung sind und oft die Geschwindigkeit unterschätzt wurde. Zudem saßen viele alkoholisiert am Steuer, und die wenigsten Autofahrer waren angeschnallt.

    Viele Toten im Straßenverkehr: Sicherheitsgurte für Fahrer und Beifahrer in Neuwagen

    Die Rechtslage wird bereits im April im Kfz-Teil beschrieben: Seit 1. Januar 1974 ist für Neuwagen vorgeschrieben, beide Vordersitze mit Sicherheitsgurten auszustatten. Eine Anschnallpflicht gibt es dagegen noch nicht, sie kommt erst zum 1. Januar 1976 und gilt dann aber immerhin gleich für alle Fahrzeuginsassen.

    38 Tote gibt es im Jahr 1974 auf den Straßen von Bergedorf und Umgebung. In der Silvesterausgabe berichtet die Bergedorfer Zeitung auf einer Sonderseite über alle Einzelschicksale.
    38 Tote gibt es im Jahr 1974 auf den Straßen von Bergedorf und Umgebung. In der Silvesterausgabe berichtet die Bergedorfer Zeitung auf einer Sonderseite über alle Einzelschicksale. © bgz | Bergedorfer Zeitung

    Damit der stetig weiter wachsende Straßenverkehr nicht zu immer mehr Staus führt, bemühen sich Bergedorfs Stadtplaner 1974 um weiteren Straßenbau. Doch so einfach wie in den 50er- und 60er-Jahren, als alle begeistert vom Gedanken der autogerechten Stadt waren, gelingt der Verkehrsausbau jetzt nicht mehr. Einzig der seit Jahrzehnten geforderte Bau der Marschenstraße, der heutigen A25, ist unstrittig. Die Ausschreibung für den ersten Bauabschnitt von der A1 bis zur Anschlussstelle Allermöhe/Mittlerer Landweg wird im September gestartet – und tatsächlich 1981 bis zur B404 bei Geesthacht realisiert.

    Bergedorfs vierspurige Ortsumgehungen „Südring“ und „Nordring“ scheitern

    Gescheitert sind im April 1974 dagegen die Pläne für einen vierspurigen Südring, der dem heutigen Sander Damm von der B5 bis zum Frascatiplatz folgen und weiter über das Bahngelände der AKN und schließlich parallel zur Hassestraße bis zur Wentorfer Straße führen soll, am Widerstand einer Bürgerinitiative.

    Großes Versprechen von Verkehrssenator Dr. Rolf Biallas (FDP) in der Wochenendausgabe 27./28. Juli 1974 der Bergedorfer Zeitung: Die Marschenstraße, heute Autobahn 25, soll ab 1975 entstehen.
    Großes Versprechen von Verkehrssenator Dr. Rolf Biallas (FDP) in der Wochenendausgabe 27./28. Juli 1974 der Bergedorfer Zeitung: Die Marschenstraße, heute Autobahn 25, soll ab 1975 entstehen. © bgz | Bergedorfer Zeitung

    Unter Federführung des späteren Vorsitzenden des Bergedorfer Grundeigentümervereins, Peter Landmann, warnt sie ganz nebenbei vor dem zweiten Teil dieses Projekts: Der ebenfalls vierspurige Nordring sollte über Gräpelweg und Grasredder bis zum Beckerkamp in Lohbrügge führen. Doch dieses Projekt bleibt nach den hitzigen Diskussionen in den 60er-Jahren jetzt endgültig in den Schubladen der Stadtplaner des Bezirksamts.

    „Der schöne Otto“, Bergedorfs legendärer Verkehrspolizist, geht in den Ruhestand

    1974 wird auch der letzte innerstädtische Straßenneubau gestrichen: Die Verlängerung des Reetwerder mit neuer Bahnunterführung und weiterem Verlauf über das Gelände der umgesiedelten Eisenwerke bis zum Lohbrügger Markt scheitert. Mit ihm hatten die erheblichen Staus beseitigt werden sollen, die sich täglich im Berufsverkehr rund um den „schönen Otto“ aufbauten.

    Verkehrspolizist Otto Döcke in seinem Element. Bis Ende März 1974 regelte er den immer stärker werdenden Straßenverkehr vor allem auf der Kreuzung Weidenbaumsweg/Ernst-Mantius-Straße/Alte Holstenstraße. Die Bergedorfer gaben ihm den Spitznamen „Der schöne Otto“.
    Verkehrspolizist Otto Döcke in seinem Element. Bis Ende März 1974 regelte er den immer stärker werdenden Straßenverkehr vor allem auf der Kreuzung Weidenbaumsweg/Ernst-Mantius-Straße/Alte Holstenstraße. Die Bergedorfer gaben ihm den Spitznamen „Der schöne Otto“. © fotovzgbzgh

    Der legendäre Verkehrspolizist Otto Döcke regelte bis zu seinem Ruhestand im April 1974 die Autoflut auf der Kreuzung Weidenbaumsweg/Ernst-Mantius-Straße/ Alte Holstenstraße. Und das offenbar so gut, dass er „an Heiligabend bis zu den Hüften in Geschenken stand“, wie die Bergedorfer Zeitung zu seinem Abschied am 28. März schreibt. Ob dieser Polizeiposten durch eine Ampel ersetzt werden kann, bleibt für die kommenden Jahre eine offene Frage.

    Mehr zum Thema

    Klar ist dagegen, dass die nun fehlende Querung des Eisenwerkareals dort die Neue Heimat als Projektentwickler des geplanten Billebogens in Schwierigkeiten bringt. Die Verlängerung des Reetwerder war als perfekte Anbindung des Quartiers mit künftig rund 4000 Bewohnern an Bergedorfs Zentrum propagiert worden. Bei der Umplanung hat die Neue Heimat aber keine Eile: Wie Bergedorfs CDU im Oktober 1974 in der Bergedorfer Zeitung anprangert, sei das gesamte „unter der Hand“ einfach als Großlager an die Spedition Kühne & Nagel vermietet wurden.