Immer mehr Deutsche rutschen aus der Mittelschicht. Unter denen, die noch drin sind, grassiert die Angst um den sozialen Status.
Hamburg. Wie knapp es wirklich ist, merkt Timon Müller (Name geändert), wenn er am Monatsende an der Kühltruhe von Penny und Lidl die Preise vergleicht. Wenn der Kinobesuch wieder einmal ausfällt, weil Eintrittskarten plus Babysitter für seine Familie einfach nicht bezahlbar sind. 1780 Euro netto verdient der 36-Jährige monatlich. Seine Frau Silvia arbeitet nicht. Der studierte Theologe geht täglich acht Stunden ins Büro, fährt für seine Jugendprojekte quer durch Norddeutschland, macht Überstunden. Plus Kindergeld haben die Müllers 2148 Euro pro Monat. 2148 Euro, von denen Timon Müller seine beiden Kinder eineinhalb und vier Jahre alt, und seine Frau ernähren muss, eine Wohnung bezahlen, ein Auto finanzieren, Geschenke kaufen.
Familie Müller gehört zur Mittelschicht. Einer Schicht, die die Sozialkassen finanziert und die Demokratie stabilisiert. Doch der Mittelschicht in Deutschland geht es nicht gut, haben Wissenschaftler des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) erforscht: 60 Prozent der Bevölkerung sind demnach noch Angehörige der Mittelschicht. Im Jahr 2000 waren es noch 64 Prozent.
Arm und Reich driften in Deutschland immer weiter auseinander. Und die Angehörigen der Mittelschicht sind die Verlierer des Jahrzehnts.
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Wer gehört zu dieser Schicht, deren Entwicklung über Dekaden eine Erfolgsgeschichte war? Das errechnet sich aus dem so genannten Median-Einkommen. Dieser Wert bezeichnet das Einkommen des Haushalts, der genau in der Mitte liegt. Die folgenden Zahlen wurden auf das Jahr 2009 hochgerechnet. Demnach gilt als arm, wer weniger als 70 Prozent des Median-Einkommens hat - für einen Single-Haushalt betrug dieser Wert im vergangenen Jahr 920,20 Euro, für eine Familie mit zwei Kindern unter 14 sind das 1932,42 Euro. Als reich gilt in Deutschland, wer 150 Prozent des Median-Einkommens oder mehr einnimmt - 1974,15 Euro als Single. Die Müllers wären eine Familie mit hohem Einkommen, wenn sie 4145,72 Euro netto im Monat hätten. Haben sie aber nicht. Familie Müller liegt zwischen Arm und Reich - und hat sich der offiziellen Armutsgrenze schon gefährlich genähert.
Oftmals gelingt es den Müllers nicht, Geld am Monatsende beiseite zu legen. 760 Euro Warmmiete zahlen sie für ihre 82 Quadratmeter große Wohnung im Stadtteil Iserbrook. Hinzu kommen 50 Euro für Strom, 35 Euro für Wasser. Das Mobiltelefon kostet den Familienvater 25 Euro monatlich, der Telefonanschluss 30 Euro. Außerdem gibt es die Ausgaben für die Kita (62 Euro), die GEZ-Gebühren (18 Euro), die Kontogebühren (5 Euro) und die Berufsunfähigkeitsversicherung (84 Euro). Für den vier Jahre alten Opel Zafira liegen die Kosten monatlich bei rund 70 Euro im Monat, plus Diesel. "Für Kleidung rechnen wir etwa 80 Euro im Monat, für Geschenke 70 Euro, für Lebensmittel 450 Euro und für Restaurantbesuche 50 Euro", sagt Timon Müller. Auf diese Weise kommen jeden Monat allein 1789 Euro zusammen. Es ist das Kindergeld in Höhe von 368 Euro, dass alle zusätzlichen Ausgaben möglich macht. Die Kosten für Medikamente zum Beispiel. Silvia Müller leidet an einer Autoimmun-Krankheit und muss regelmäßig Tabletten nehmen. "Wenn bei uns die Waschmaschine kaputt geht, kommen wir schon finanziell ins Schleudern", sagt Timon Müller.
Das Geld reicht nur, weil die Familie auf viele Dinge verzichtet. Auf Kinobesuche, Theater, Musical oder einen Abend in der Oper. Weil es statt in Hagenbecks Tierpark eben nur an die Elbe oder nach Planten un Blomen geht. Urlaubspläne hat die Familie schon lange nicht mehr gemacht.
Wenn der Trend sich fortsetzt, werden die Müllers bald auch in den Bereich der unteren Einkommen rutschen. Die DIW-Forscher stellten eine regelrechte "Statuspanik" fest. Die Sorge ist nicht unbegründet: "Die Arbeitslosigkeit wird noch weiter steigen", sagt Markus Grabka vom DIW. "Das Risiko, in die Unterschicht abzurutschen, wird zunehmen." Die Folgen des Trends laut Grabka: "Es kann ein Gefühl der Ohnmacht entstehen. Diese Ohnmacht kann in eine bewusste Entscheidung für populistische und extremistische Gruppierungen umschlagen. Das kann für eine Gesellschaft zu einer deutlichen Gefahr werden." In der Studie werden Armutsviertel prognostiziert.
Ein eigenes Reihenhäuschen, ein zweites Auto - für Timon und Silvia Müller undenkbar. Statt nach Amrum oder Mallorca geht es in den Urlauben mit dem Wagen nach Heilbronn zu den Eltern. Die haben das, wovon Familie Müller nur träumen kann. Ein eigenes Haus mit Garten. Eine Rutsche, Sandkiste und Schaukel. Timons Vater war Tischler. Ein Mensch aus dem Mittelstand. "Damals", sagt der Theologe, "hat das Geld noch für ein Leben mit Haus und Garten gereicht."
Es war damals die Mittelschicht, die vom Wirtschaftswunder profitierte. "Wohlstand für alle", ausgerufen von Ludwig Erhard, bedeutete vor allem: Jeder, der sich anstrengt, wird wohlhabend. Der Plan ging auf, die Mittelschicht wurde zur Stütze der Demokratie. Auch wenn die 68er die Angehörigen der Mittelschicht zu Spießern machten, stimmte die Balance der Gesellschaft: Es gab wenig Arme, wenig Reiche - und eine riesige Mittelschicht.
Diese Mittelschicht wurde gefördert, zum Beispiel durch die Eigenheimzulage, die Pendlerpauschale und die Steuerfreiheit von Lebensversicherungen. In den 80er Jahren und auch nach der Wiedervereinigung gehörten zwei Drittel der Bürger zur Mittelschicht.
Nach dem Jahr 2000 begann der Zerfall. Es gibt mehrere Gründe dafür. So haben sich die Haushaltsstrukturen verändert: Es gibt immer mehr Ein-Personen-Haushalte, immer mehr Alleinerziehende. "Eine Familie kommt besser über die Runden, weil sie sich fixe Kosten besser teilen kann", sagt DIW-Wissenschaftler Grabka. Auch die Partnerwahl ist kurioserweise für die veränderten Haushaltsstrukturen verantwortlich: "Früher hat der Arzt die Krankenschwester geheiratet. Heute bleibt man unter sich", sagt Grabka. Das heißt: Arme bleiben unter Armen, Reiche unter Reichen.
Auch der Arbeitsmarkt hat zur Erosion der Mittelschicht beigetragen: Es gibt immer weniger sozialversicherungspflichtige Vollzeitstellen - Teilzeit, Kurzarbeit und Leiharbeit nehmen zu. Und damit die Jobs mit unterdurchschnittlicher Bezahlung. "Darüber hinaus haben die Gewerkschaften an Bedeutung verloren", sagt Grabka. "Es ist ihnen immer seltener gelungen, Wohlfahrtsgewinne in steigende Löhne umzumünzen."
Und schließlich die Politik. "Die Steuertarife wurden so verändert, dass obere Einkommensbezieher deutlich entlastet wurden", sagt Grabka. Belastet wurde die Mittelschicht, die am meisten zur Einkommensteuer beiträgt - und zusätzlich belastet wird. Die Eigenheimzulage wurde gestrichen, für die Kinder werden Studiengebühren fällig.
Mit harschen Worten würdigen die DIW-Forscher in ihrer Studie auch das Sparpaket der schwarz-gelben Bundesregierung: "Die bisher gemachten konkreten Vorschläge betreffen nur die unteren Einkommen", heißt es.
Die Leidtragenden innerhalb der Mittelschicht sind zum einen junge Menschen, die auf den Arbeitsmarkt kommen und sich mit schlecht bezahlten Stellen über Wasser halten müssen. Und Familien: Wenn sich Eltern um ihre Kinder kümmern, müssen sie häufig beruflich zurückstecken.
Die Müllers sind die Verlierer in diesem System. Und dennoch, klagen will der 36-Jährige Familienvater Timon nicht. "Wir haben ja alles, was wir brauchen", sagt er. "Und wenn es mal knapp wird, dann verzichten wir eben aufs Fleisch." Und überhaupt sei Optimismus mehr "sein Ding". Darüber, dass auch er seinen Job verlieren könnte, dass die Familie dann auf Hartz IV angewiesen sein könnte, will der Familienvater nicht nachdenken. Insgeheim weiß er, dass die finanzielle Verantwortung allein auf seinen Schultern lastet, weil Ehefrau Silvia keine Arbeit hat.
Timon Müller würde gern mehr verdienen. "Ich denke darüber nach, eine Weiterbildung zu machen", sagt er. Damit er irgendwann ein wenig mehr Geld auf dem Konto hat - und nicht mehr zu denen gehört, die ganz unten in der Mittelschicht stehen. Aber allein die Kosten für eine Weiterbildung lägen bei 3000 Euro pro Jahr. Eine Summe, die für die Familie unbezahlbar ist.
Und dann gibt es doch Gedanken, die Timon Müller lieber gar nicht denken möchte. Die aber unvermeidlich kommen, wenn es um die Zukunft der Familie geht. Dass er "Nein" wird sagen müssen zu vielen Wünschen seiner Kinder. Wenn diese irgendwann größer werden und nicht mehr zufrieden sind mit kostenlosen Spielplätzen und Ikea-Bällebad. "Musikunterricht für Mattheo zum Beispiel, das ist nicht drin", sagt der Vater.
In Mattheos Bilderbuch gibt es ein Baumhaus. Direkt daneben blüht der Apfelbaum. "Wenn wir irgendwann einen Garten haben, bauen wir uns auch ein solches Haus", sagt der Vater. "Ein Haus, von dem aus wir direkt die Äpfel vom Baum pflücken können." Die Söhne nicken.