Hagen. Bärbel Bas im Interview über den rauen Ton in der Politik und Verantwortung der Parteien, aus Parlament keine Wahlkampfarena zu machen.

Bundestagspräsidentin Bärbel Bas warnt vor Stillstand im Parlament. Wichtige Gesetze müssten schnell verabschiedet werden, statt das Plenum als Wahlkampfarena zu missbrauchen. Das Ansehen der Politik in Deutschland habe durch andauernde Streitigkeiten in der geplatzten Ampel-Koalition aus SPD, FDP und Bündnsi90/Die Grünen in den vergangenen drei Jahren bereits gelitten.

Als Bundestagspräsidentin fungiert Bärbel Bas (SPD) im zweithöchsten Amt der Bundesrepublik, noch vor Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD). Die Duisburgerin hielt am Montag vor rund 900 Gästen aus Wirtschaft, Politik und Gesellschaft in der Hagener Stadthalle beim Jahresempfang der Südwestfälischen Industrie- und Handelskammer eine besonnene Festrede. Im Vorfeld sprach Bas mit der WESTFALENPOST Klartext über den Zustand unserer Demokratie, das Miteinander im Parlament und die Sorge um tausende Arbeitsplätze in ihrer Heimatstadt.

Frau Bundestagspräsidentin, ist unsere parlamentarische Demokratie 75 Jahre nach Inkrafttreten des Grundgesetzes gefährdeter denn je?

Unsere parlamentarische Demokratie hat in diesen 75 Jahren eindrucksvoll bewiesen, dass sie sturmerprobt und wetterfest ist. Ich möchte aber auch nichts schönreden: Die Situation ist gerade herausfordernd. Angesichts der vielen Kriege und Krisen in der Welt, der wirtschaftlichen Probleme und der Zukunftssorgen der Menschen hat es eine parlamentarische Demokratie nicht leicht. Viele Menschen erwarten von der Politik schnelle und umfassende Lösungen. Unsere Probleme sind aber komplex und die Standpunkte der politischen Kräfte oftmals konträr. Wer nur Maximalpositionen formuliert und zementiert, der polarisiert. Parlamentarische Verfahren brauchen Zeit und die Bereitschaft zum Kompromiss. Das ist der Markenkern der parlamentarischen Demokratie. Die Kunst des Kompromisses müssen wir wieder mehr wertschätzen. 

Im Deutschen Bundestag sind acht Parteien vertreten. Würden Sie von einer Zersplitterung reden?

In einer Demokratie ist die politische Landschaft dynamisch und immer auch ein Zeichen der Veränderung unserer Gesellschaft. Um unser System funktionstüchtig zu halten, muss überfraktionelle Zusammenarbeit möglich sein - trotz programmatischer Unterschiede. Unser Parteiensystem darf nicht zerbröseln. Deshalb ist für mich nicht die Zahl der Parteien im Parlament entscheidend. Die Frage ist für mich, ob die Parteien auf rechtsstaatlicher Basis sachorientiert kooperieren können.

Der Tonfall im Parlament lässt sich an der Zahl der Ordnungsrufe ablesen. Ist der Ton im Parlament heute rauer als in der Vergangenheit?

Das empfinde ich so. Die gesellschaftliche Polarisierung spiegelt sich zunehmend auch in den parlamentarischen Debatten wider. Aber es geht hier nicht nur um den Deutschen Bundestag. Dieses vergiftete Klima ist auf allen politischen Ebenen zu finden. Wenn eine politische Auseinandersetzung nicht mehr mit gegenseitigem Respekt geführt wird, wenn Bundestabgeordnete oder ehrenamtliche Kommunalpolitikerinnen und Kommunalpolitiker sich zurückziehen aus Angst vor Anfeindungen, dann nimmt unsere Demokratie schweren Schaden.

Sie sind seit 15 Jahren Mitglied des Bundestages. Seit dieser Legislatur wachen Sie in Ihrem Amt über den guten, respektvollen Ton im Parlament. Was war in Ihrer Erinnerung in den vergangenen drei Jahren der schlimmste Aussetzer eines Bundestagsmitglieds?

Ich bin keine Sprachpolizei und möchte auch keine Abgeordneten persönlich an den Pranger stellen. Aber ich registriere mit Sorge, dass die Sprache im Bundestag aggressiver geworden ist. Heftige inhaltliche Debatten hat es ja immer schon gegeben. Aber Abgeordnete werden mehr als früher persönlich verbal angegriffen und diffamiert. Wenn ich so etwas heraushöre, schreite ich immer ein. Und ich bin überzeugt, dass wir Politiker eine Vorbildfunktion für das Debattenklima in der Gesellschaft haben. Deshalb rate ich uns allen, verbal abzurüsten.

Deutschland befindet sich unstrittig in einer Wirtschaftskrise. Hat die deutsche Politik eine Glaubwürdigkeitskrise?

Mit dem Wort Krise bin ich vorsichtig, ich möchte es nicht inflationär benutzen. Aber der Umgang der Regierungsparteien und die Art, wie sie sich immer wieder öffentlich gestritten haben und eigene Erfolge beschädigt haben, hat dem Ansehen der Politik geschadet. Dabei ist das Vertrauen für die Politik die wertvollste Währung und unentbehrlich für die Lösung von Problemen.

Seit einem Monat ist Bundestagswahlkampf. Wird es in den kommenden Wochen im Parlament noch sachorientierte Debatten und Problemlösungen geben können?

Das Parlament ist arbeitsfähig bis zur konstituierenden Sitzung des neuen Bundestages nach der Wahl. Wir haben noch mehrere Plenartage vor uns, die Ausschüsse tagen, die Untersuchungsausschüsse bereiten ihre Abschlussberichte vor. Wir werden uns nach der Vertrauensfrage sicherlich auf die Punkte konzentrieren, die noch mehrheitsfähig sind und beschlossen werden sollten - wie zum Beispiel den Schutz des Bundesverfassungsgerichts. Ich würde mir wünschen, dass wir auch noch zum Schutze des Verfassungsorgans Deutscher Bundestag das Bundestagspolizeigesetz und eine umfassende Reform der Geschäftsordnung umsetzen. Dabei geht es nicht nur um die dringend notwendige Verschärfung des Ordnungsrechts, sondern auch um Verfahrensregeln, wie die Wahl des Präsidiums. Es wäre wichtig, dass wir diese Reform noch vor den Neuwahlen verabschieden, um auch das Parlament besser zu schützen.

Die amtierende Minderheitsregierung aus SPD und Bündnis90/Die Grünen kann allein kaum noch etwas bewirken. Am 23. Februar soll die Bundestagswahl durchgeführt werden. Danach wird es mindestens Wochen dauern, bis Deutschland wieder eine handlungsfähige Bundesregierung hat. Was raten Sie dem Parlament und insbesondere Kanzler Olaf Scholz und Oppositionsführer Friedrich Merz in dieser Situation?

Ich appelliere an alle Fraktionen, ihrer Verantwortung vor den Wählerinnen und Wählern gerecht zu werden und die für das Land und die Menschen notwendigen Beschlüsse zu treffen. In der Fähigkeit zum Kompromiss lag immer schon die Kraft des Deutschen Bundestages. Gleichzeitig warne ich davor, in dieser Phase das Parlament als Wahlkampfbühne zu missbrauchen.

Tausende Familien haben gerade Existenzsorgen, weil massenhaft Arbeitsplatzabbau droht. Was erwarten Sie im Jahr 2025?

Die Wachstumsprognosen sind nicht gerade rosig, aber ich bin ein optimistischer Mensch und zuversichtlich, dass wir auch diese Krise überwinden werden. Dazu gehört, dass alle ihren Beitrag leisten. Und die Politik muss dafür sinnvolle Rahmenbedingungen für die Wirtschaft setzen, für Infrastruktur, Sicherheit und Bildung sorgen.

Stahlarbeiter protestieren in Duisburg.
Bärbel Bas mit dem Thyssenkrupp-Gesamtbetriebsratsvorsitzenden Tekin Nasikkol bei einer Protestveranstaltung unter dem Motto „Zukunft statt Kündigung“ vor der Hauptverwaltung der thyssenkrupp Steel Europe AG in Duisburg im April dieses Jahres. © FUNKE Foto Services | STEFAN AREND

Sie sind Duisburgerin. Wie erleben Sie den aktuellen Niedergang der Stahlindustrie?

Die Lage ist ernst. Wir leben in Duisburg seit Jahren im permanenten Strukturwandel und die Menschen sind erschöpft. Am Stahl hängen in Duisburg insgesamt 30.000 Arbeitsplätze. Das betrifft viele Familien. Duisburg fürchtet ein zweites Rheinhausen. Wir diskutieren schon lange über die Lage der energieintensiven Industrie. Sie braucht Hilfe. Deutschland darf beim Stahl nicht abhängig werden von anderen Ländern. Ich bin wirklich überzeugt: Stahl ist Zukunft.

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