Netphen. Spazieren gehen erspart Arztbesuche, Bäume reinigen die Luft, Pflanzen sind Medizin. Das Ganze hat seinen Wert - auch in Euro.

Ganz im Südosten Siegen-Wittgensteins, fast an der hessischen Landesgrenze: Rechts vom Weg war mal ein Fichtenwald – jetzt ist da Steppe, der Borkenkäfer hat zugeschlagen. Links aber sonnt sich eine Fichte in der Gesellschaft von Buche, Ahorn und Tanne. Naturverjüngung im Bergmischwald, fast. „Die Tannen haben wir reingepflanzt“, sagt Diethard Altrogge, ehemaliger Leiter des Regionalforstamts. Als Pensionär ist er für den Waldland-Verein unterwegs, der vom Waldinformationszentrum Hohenroth aus den Wald in vielen Dimensionen betrachtet und dazu auch Führungen veranstaltet.

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Fürs Konto

Es geht, altmodisch gesagt, um „Wohlfahrt“: Wofür ist Wald gut, außer dass er Holz liefert, das seine Besitzer ernten und verkaufen können? Für durchschnittlich 400 Euro je Hektar und Jahr, um einmal den deutschen Durchschnittserlös zu nennen. Diethard Altrogge bleibt noch am Waldrand stehen – der verträgt das Denken in Zahlen am besten: Indem er Stäube filtert, CO2 umwandelt und im Holz festhält und Wasser verdunstet, reinigt und als Trinkwasser zur Verfügung stellt, schafft er für die Umwelt einen Mehrwert von 360 Euro je Hektar und Jahr. „Fast so viel wie für die ganze Holzproduktion.“

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Diethard Altrogge nimmt für die Zahlen die Stadt Siegen als Beispiel: Wenn von rund 100.000 Einwohnern etwa jeder Dritte regelmäßig in den Wald geht, spart er sich einen Arztbesuch pro Jahr. Macht, bei Kosten von 66,36 Euro („Die Honorare habe ich bei der kassenärztlichen Vereinigung erfragt“), wiederum umgerechnet auf die Waldfläche, einen Gewinn von 364 Euro pro Hektar und Jahr.

Schließlich: 42.000 Festmeter jährlicher Holzzuwachs in Siegen binden 27.000 Tonnen CO2. Emissionsrechte für CO2, also für die Erlaubnis, Kohlendioxid in die Luft zu blasen, kosten jetzt 25 und sollen bald 55 Euro je Tonne bringen. Umgerechnet könnte sich der Waldbesitzer allein dafür 113 Euro pro Hektar und Jahr bezahlen lassen. Die er aber nicht bekommt. „Die Waldbesitzer könnten angemessen honoriert werden“, findet Diethard Altrogge, „das machen wir in der Landwirtschaft schließlich auch.“

Den Fichtenwald hat der Borkenkäfer zerstört .
Den Fichtenwald hat der Borkenkäfer zerstört . © Steffen Schwab | Steffen Schwab

Für die Gesundheit

Ein Stück weiter hinein in den Wald. Abgestorbene Bäume stehen hier noch, umgefallene Stämme bleiben liegen. Das Totholz erzeugt Biomasse, speichert Wasser, ist Lebensraum. Dr. Frieder Kötz, Kinderarzt im Ruhestand, spricht nicht über Geld. Sondern über die Wirkungen der Begegnung mit dem Wald. Zuerst die Stimmung – es ist ruhig, es rauscht, Vögel singen, manchmal knackt es irgendwo. Der Boden ist weich, „es riecht anders.“ Frieder Kötz benennt die Theorie dazu, die „Faszinationstheorie“: „Die fünf Sinne werden beansprucht.“

Zweitens: Gesundheitsförderung und Vorbeugung. Staub, Stickstoff- und Schwefelverbindungen werden von den Bäumen aus der Luft gezogen, von Nadelbäumen übrigens mehr als von Laubbäumen. Weil Fichte und Tanne mit ihren Nadeln größere Oberflächen haben als Laubbäume mit ihren Blättern, und weil sie das ganze Jahr da sind und eben nicht einfach die Blätter im Herbst fallen lassen. Das Schonklima im Wald, sagt der Arzt, die Reinheit der Luft, Entspannung und körperliche Aktivität tun gut. Weniger Stress, niedrigerer Blutdruck, langsamere Herzfrequenz.

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Bei der Gelegenheit: Das mit der „grünen Lunge“ ist Quatsch, zumindest tagsüber. Der Baum „atmet“ CO2 ein und gibt Sauerstoff ab. Die Lunge macht das andersherum: Sauerstoff einatmen, CO2 ausatmen – der Baum in der Nacht auch. Noch ein Grund, Waldspaziergänge bei Tageslicht vorzuziehen.

Diethard Altrogge ist davon überzeugt: „Die Pflanzen kommunizieren untereinander.“ Wenn ein Baum die Motorsäge spürt, schließen die anderen ihre Spaltöffnungen an Blättern und Nadeln. Ihre Botenstoffe, die Phytonzine, tun auch den Menschen gut: Die Öle der Nadelbäume gegen Atemwegserkrankungen, die Terpene in der Luft aktivieren Killerzellen im Körper gegen Krebs. und Entzündungskeime Dr. Frieder Kötz ist da zurückhaltend: Es gebe Laborstudien und Erfahrungswissen, aber keinen wissenschaftlichen Nachweis: „Das ist mit Vorsicht zu genießen.“ Was nicht heißt, dass der Wald keine heilenden Kräfte hätte. Die Frischekuren bei Tuberkulose, als sie noch verbreitet war, „haben mit Sicherheit zur Heilung beigetragen“, ebenso die Terrainkuren, eine Art Bewegungstherapie, nach Herzinfarkten. „Zumindest unterstützend“ sei der Wald auch bei der Therapie von Burn Out und Depression. Wobei er nicht von einem Waldspaziergang pro Woche spreche, betont Dr. Frieder Kötz. „Es muss oft und lang genug sein.“. Drei Mal die Woche, zwei bis drei Stunden, empfiehlt der Arzt.

Fürs Wasser

Der Zunderschwamm hat sich am Stamm der Buche festgesetzt. Sie ist Richtung Krone noch grün, stirbt aber in Wirklichkeit schon ab. „Sie wird zusammenbrechen“, weiß Diethard Altrogge. Dabei seien ihre 130, 140 Jahre „eigentlich noch kein Alter – vielleicht ist ein Blitz eingeschlagen.“ Als Totholz wird sie ihren Dienst weiter tun, wie ein Schwamm Wasser aufsaugen. Spechte fühlen sich da wohl, Asseln, Milben, Spinnen, Käfer.. Gäbe es sie nicht, würde das Laub nie zu Humus zersetzt, der Wald womöglich unter einem Blätterberg verschüttet. Apropos Wasser: Nur 0,3 Prozent des Wassers auf der Erde sind als Süßwasser für den Menschen verfügbar und nicht an den Polen eingefroren – es lohnt sich also, darauf zu achten, findet der Förster: „Dem Waldboden gebührt besondere Aufmerksamkeit." Als Speicher und, mit dem Wurzelwerk, als Filter. Kahlschlagflächen taugen dazu nicht. „Da ist nur noch der nackte Boden.“

Waldretter

Für den Magen

Es ist ruhig, es ist grün. es riecht gut, durchs Blätterdach fallen Sonnenstrahlen. Diethard Altrogge wendet sich dem Materiellen zu. Der Wald ist „Restaurant“, die Speisekarte beginnt bei Brombeere, Brennnessel und Bärlauch und reicht bis zu Waldmeister und Wildbret. Und der Wald ist „Apotheke“: Die Salicylsäure aus der Weidenrinde gegen Schmerzen, der Fingerhut, auch Digitalis, gegen Herzerkrankungen, Maiglöckchen gegen Malaria, der Faulbaum als Abführmittel. Dr. Frieder Kötz bekennt sich als Schulmediziner – „die Pflanzenheilkunde gehört für mich dazu.“ Wobei Schaden und Nutzen so nahe beieinander liegen wie der Taxus mit „a“, lateinisch für die Eibe, und die Toxikologie, die Lehre von den Giftstoffen, mit „o“. „Hirsch und Reh würden nicht krank“, erzählt Diethard Altrogge vom Genuss der gefährlichen Früchte, „das Pferd wird aber, wie andere Haustiere, schwerst erkranken und sterben.“

Für wen?

Dass so wertvoller Wald überhaupt jemandem gehören darf? „Da kommt die soziale Verpflichtung des Eigentums zum Zuge“, stellt Frieder Kötz fest. Kein Wunder, dass der Staat den Daumen drauf hält: Wer am Waldbetretungsrecht der Allgemeinheit rüttelt, bekommt schnell Ärger. „Wichtig aber ist vor allem auch: nur attraktive, vielseitige und intakte Wälder bedeuten für eine Region auch einen hohen Wirtschaftsfaktor“, sagt Diethard Altrogge.

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Auf dem Weg hinaus aus dem Wald entdeckt Diethard Altrogge ein abgeworfenes Hirschgeweih. Frieder Kötz hat es jetzt ein bisschen eilig. Er will an diesem Nachmittag auf Hohenroth Wildpflaumen ernten, für Schnaps und Marmelade. „Ich wollte immer Gartenarchitekt werden“, erzählt der 80-Jährige auf dem Rückweg zur Eisenstraße. Eine erste Eiche hat er vor über 15 Jahren mitgebracht, bei einer pro Jahr („Ich bin nicht mehr der Allerjüngste“) wollte er es dann aber nicht mehr bewenden lassen. 600 verschiedene Baumarten hat Frieder Kötz inzwischen auf Hohenroth gepflanzt. Aber das ist eine neue, andere Geschichte. Ein schwerer Lkw kommt entgegen. Er holt Käferholz aus dem Wald.

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