Siegen. Im Wald spielen, lernen, forschen: Seit August betreibt die Alternative Lebensräume Siegen einen Waldkindergarten: „Kiga Waldpilz“. Ein Besuch.
Heute entscheidet Carina über das Wetter. Sie legt den Kopf in den Nacken und beobachtet: Tiefhängende Wolken, viel grau, dazwischen auch mal ein bisschen blau. „Und auch Sonne!“, ruft Emil aufgeregt. Die ersten Strahlen fallen durch die hohen Bäume auf die Lichtung. Und ein paar treffen auf die Morgenrunde unter dem blauen Pavillon, auf den Bauwagen mit den grünen Fensterläden dahinter.
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Die Morgenrunde ist festes Ritual im Kiga „Waldpilz“, dem neuen Waldkindergarten der Alternative Lebensräume Siegen (ALF). Seit August ist die Kita am Kulmberg in der Heinbach in Betrieb – ein neues Angebot der gemeinnützigen Gesellschaft, die fünf weitere Kindertagesstätten im Siegerland betreibt.
Ein Waldkindergarten braucht keine Turnhalle – die Kinder bewegen sich den ganzen Tag
„Das Konzept ist ganz toll“, sagt Sarah Lange. Sie hat ihren Sohn gerade in die Kita gebracht. Eine bewusste Entscheidung sei das gewesen: Der Umgang mit der Natur, der medialen Reizüberflutung entgegenwirken, der gesundheitliche Aspekt durch viel Bewegung an der frischen Luft. „Das hat auch Wirkung auf die schulische Entwicklung“, ist die Mutter zweier Kinder überzeugt. Die Welt entdecken, frei spielen, Kreativität und Interesse wecken – die Kleinen lernen dieselben feinmotorischen Fähigkeiten, aber eben anders als in der klassischen Kita, sagt Lange. „Wir brauchen keine Turnhalle“, bestätigt Susanne Engel lachend, die Leiterin. Man merke schon: Die Kinder sind fitter. Ganz am Anfang gab es noch mehr Bauwagentage. Jetzt eigentlich nur noch, wenn das Wetter überhaupt nicht mitmacht.
Es ist vieles anders im Wald. Es gibt alles das, was es in jeder Kita gibt – aber fast alles findet draußen statt. Da sind Planen bei Regen schnell gespannt und Unterstände gebaut. Und wozu gibt es schließlich Matschhosen, gefütterte Regenjacken und Gummistiefelchen? Feste Strukturen und Abläufe, Partizipation und Bildung, Rücksichtnahme und Medienkompetenz – das gibt es alles auch in der Natur. Oder man kann es da genauso gut lernen. Und für die ganz kleinen oder müden Kinder gibt es natürlich auch ein Kuschelpodest im Bauwagen. Gleich neben der Leseecke.
Der Waldkindergarten hat schon feste Lieblingsspielplätze im Siegener Wald
In den Wochen, seit es die Waldkita gibt, hat die Gemeinschaft die Umgebung erkundet. Immer neue Stellen probieren sie aus und einige davon finden die Kinder besonders gut. Heute soll es der Wurzelarbeitsplatz sein, finden die Kleinen, aber bevor es losgeht: Frühstück. Alle holen die Handtücher aus den Rucksäcken und nacheinander zu Silvia Stockschläder. Die Erzieherin hat Wasser erwärmt und in eine Thermoskanne gefüllt, etwas Seifenwasser auf die Finger, waschen, abtrocknen. Dann wird gefrühstückt, Brote, Müsli, Joghurt, Obst.
Die Versorgung der Kita mit Wasserkanistern gehört zu den Elterndiensten – fließendes Wasser gibt es im Wald nicht. Auch die Komposttoilette muss regelmäßig geleert werden. Auch die Elternschaft ist eine andere als in der klassischen Kita: Sie nehmen weitere Wege in Kauf, übernehmen Aufgaben, stehen noch mehr hinter dem Konzept als üblich, arbeiten enger mit den Erzieherinnen zusammen. Das ist die Fahrerei von Kreuztal auf jeden Fall wert, findet Sarah Lange.
Der Wald bietet den Kindern Inspiration und natürliche Spielgeräte – Kreativität
Als alle aufgefuttert haben, geht es endlich los. Björn kann es kaum erwarten und postiert sich am Tor – aber vorneweg zieht immer der Bollerwagen. Wenige Meter sind es bis zum Wurzelarbeitsplatz, aber auf kurzen Beinchen dauert der Weg etwas länger. So viele Stöcke gibt es zu finden und es gibt keine Pfütze, in der nicht nach Kräften herumgeplanscht wird. Björn hilft an der Steigung kräftig schieben.
Am Weg liegen Holzstämme, eine hervorragende Sitzgelegenheit und die Kinder schwärmen sofort aus. Die Erzieherinnen verteilen sich strategisch im Gelände – die Aufsichtspflicht. Carina und Lia spielen Baby, verkünden sie und legen sich erstmal ins Gras. Nach drei Minuten muss Lia aufwachen, bestimmt Carina – denn jetzt müssen sie Zutaten sammeln, für ihr französisches Restaurant. Lilli kann sich derweil noch nicht zwischen ihrer Puppe und einer kleinen Säge entscheiden – der Wurzelarbeitsplatz heißt schließlich nicht umsonst so. Der Wurzelteller eines umgestürzten Baums ist nicht nur gut zum Klettern. Emil berichtet stolz, dass er schon viele Löcher in die Wurzel gebohrt hat. Mit einem Hammer.
Waldretter
18. September: Aufforsten am Kuhlenberg: Das Aktionsgelände in Freudenberg
22. September: Wie sich der Wald von der Borkenkäferkalamität erholt
25. September: Der Wald – gesund für Körper und Psyche
29. September: Aus dem Wald auf den Tisch
2. Oktober: Was der Wald uns lehrt
6. Oktober: Unterwegs mit einem Wegewart
9. Oktober: Wald und Wohlfahrt
13. Oktober: Zu Besuch in der Waldkita
16. Oktober: Der Wald als Freizeitziel
20. Oktober: Seltene Tiere
23. Oktober: Geschichte(n) aus dem Wald
Für die Erzieherinnen im Siegener Waldkindergarten eine neue, andere Art der Arbeit
Auf der anderen Seite des Waldwegs, unter vier stehengebliebenen hohen Fichten, hat Björn einen guten Stock und den passenden Baumstumpf entdeckt. Mit Hammer und Amboss werkelt er los, „guck mal“, rufen helle Stimmen unter bunten Mützen von überall her. Zwei Kinder haben ein Mandala aus Ästen, Blättern und Steinen gelegt. Im Wald passiert, was in jeder Kita passiert: Die Kinder entdecken die Welt und eignen sie sich Stück für Stück an. Im Kiga „Waldpilz“ tun das auch die Erzieherinnen. Sie alle wurden in Waldpädagogik geschult, erzählt Susanne Engel, mit Blick auf die besonderen Herausforderungen im Wald.
„Ich bin keine Expertin für die Natur“, sagt etwa Silvia Stockschläder, „wir machen uns mit den Kindern zusammen auf den Weg. Wir sind selber Lernende. Es ist unsere Aufgabe, die Kinder auf ihrer Entwicklungsreise zu begleiten.“ Sie haben zum Beispiel Bestimmungsbücher für Pflanzen, oder Apps, forschen gemeinsam mit den Kindern nach. Denn früh und kindgerecht sollen die Kinder auch naturwissenschaftliches Arbeiten kennenlernen. Nichts anderes ist das: Ein Kind hat eine Frage, zusammen formulieren sie eine Vermutung, die sie durch Nachschlagen oder auch mal ein Experiment bestätigen.
Silvia Stockschläder ist eine „Spätberufene“, wie sie sagt: Nach langer Familienphase begann sie die Ausbildung, hospitierte auch in einer Waldkita. Es gefiel ihr. „Jetzt oder nie“, habe sie sich gedacht, als sie die Stellenanzeige von ALF fand. Es sei eben anders hier und das sei auch sehr gut so: Kein Lärm, nur die Geräusche der Natur, weniger Spielzeug, das fantasievollere Spiel der Kleinen, die Rückbesinnung auf das Einfache. Vermisst hat noch niemand etwas im Kiga Waldpilz. Außer ab und zu die Mama...