Hochsauerlandkreis/Brilon. Kita-Stress hautnah: Eine Briloner Erzieherin teilt ihre Erfahrungen und spricht über psychische Belastungen im Job. Ein ehrliches Protokoll.
„Profit-Gier“, an diesem Wort in einem WP-Titel stört sich die Erzieherin Marina Weber (Name durch die Redaktion geändert). Sie meldet sich auf einen Artikel, in dem es darum geht, dass die Stepke-Kita aus Brilon angeblich Eltern dränge, mehr Stunden zu buchen (die WP berichtete). Sie fragt geradeheraus, ob die Schuld wirklich bei der Kita liege. Sie schreibt: „Oder ist es einfach der Druck, den Kollegen in Zeiten von Personalmangel und psychischer Überforderung nicht noch mehr Hürden in den Weg zu stellen.“ Eine Woche nach ihrer Nachricht sitzt Marina Weber, die in einer Kita im Raum Brilon arbeitet, zum Interview in der Redaktion. Denn sie will eine Seite zeigen, die in der Debatte um die Betreuungskrise nur wenig zu Wort kommt: Die Sichtweise der Erzieherinnen und Erzieher. Sie will etwas im System bewegen, mit ihrer Erzählung. Marina Weber ist Anfang 20, arbeitet in einer U3-Gruppe. „Ich liebe meinen Beruf“, sagt sie. „Aber er ist anstrengend.“ Die WP protokolliert, was sie aus ihrem Beruf erzählt:
Der Beruf
„Man muss immer 100 Prozent geben, immer Vorbild sein. Am Tagesende ist die positive Energie aufgebraucht. Der Job ist wunderschön, aber er geht an die Psyche. Wenn man an seinem Arbeitsplatz zufrieden ist und man mit dem Team gut auskommt, dann geht es noch. Passt es aber mit der Leitung nicht oder herrscht Personalmangel, wird es schwer. Ich habe zwei Freunde in dem Beruf, die Depressionen aufgrund des Jobs entwickelt haben.“
Der Tagesablauf
„Mein Tag startet um sieben Uhr, dann kommen schon die ersten Kinder. Ich bin vorher da, bereite den Tag vor. Um diese Uhrzeit trudeln auch die ersten Anrufe ein, um kranke Kinder zu entschuldigen. Montags ist es besonders schwierig, dann müssen wir morgens oft schon in die Krisenkonferenz gehen, denn montags rufen die Kollegen an, die krank sind. Wir müssen dann vollkommen neu planen. In meiner Gruppe arbeiten zwei Vollzeitkräfte und eine Ergänzungskraft, damit sind wir zum Glück über dem Personalschlüssel in meiner Gruppe besetzt. Entweder jemand muss in einer anderen Gruppe aushelfen oder ist krank, wir sind also selten vollständig in unserer Gruppe. Das macht einem schnell zu schaffen, besonders wenn man die Kinder in den Tag begleiten muss. Heute Morgen war auch wieder so ein gutes Beispiel. Vier Kinder sind kurz vor dem Morgenkreis gekommen, alle vier haben geweint. Ich hatte also vier Kinder im Arm, die ich beruhigen musste. Ich schaffe das mit Ritualen oder Instrumenten. Wenn alle angekommen sind, dann starten wir in den Morgenkreis, den mache ich allein, während meine Kollegin Frühstück zubereitet. Dann frühstücken wir, was manchmal chaotisch ist. Ich bin oft mit durchgehender Provokation konfrontiert, denn die Kinder, mit denen ich arbeite, sind in der Trotzphase. Sie stehen zum Beispiel auf, rennen mit dem Teller weg. Das geht an die Nerven. Ich versuche stets pädagogisch wertvoll zu arbeiten und reflektiere mich täglich, ich kann aber nicht immer 100 Prozent geben. Wenn ich dann im Ü3-Bereich aushelfe, ist der Lautstärkepegel zusätzlich noch so hoch, dass mir fast der Kopf platzt und dass es schwer ist, die Nerven zu behalten. Nach dem Frühstück planen wir Angebote, es gibt Turntage und wir gehen viel raus. All das hängt auch davon ab, wie viel Personal wir haben. Fallen viele aus, können wir auch keine Aktionen anbieten, die Betreuungsqualität leidet.“
Die Bürokratie
„Beobachtungsphasen sind besonders fordernd für uns. Im KiBiz ist festgelegt, dass die Kitas den BaSik-Bogen ausfüllen müssen, der die Sprachentwicklung der Kinder dokumentiert. Das ist ein sehr langer Bogen und es dauert, bis man ihn vollständig ausgefüllt hat. Wir dokumentieren jedes Pflaster, das wir aufkleben. Für jede Creme oder eigentlich auch für jede Packung Feuchttücher brauchen wir eine Unterschrift, dass das Kind diese verträgt. Wenn Eltern Kuchen mitbringen, müssen wir dokumentieren, dass darin kein Ei ist. Wir führen täglich ein Gruppenbuch, in dem wir Anwesenheiten eintragen und festhalten, was wir gemacht haben, das hängen wir aber auch für die Eltern täglich aus. Außerdem gibt es für Kitas viele Zertifizierungen, die allerdings mit Fortbildungen und Rezertifizierungsprozessen zusammenhängen. Eine 39-Stunden-Kraft in einer überbelegten Gruppe, wie ich eine bin, schafft das. Aber in vielen Gruppen oder Kitas reicht die Zeit nicht aus.“
Der Personalmangel
„Das KiBiz sieht vor, dass eine U3-Gruppe mit zwei Vollzeitstellen besetzt wird, eine Gruppe von 3- bis 6-Jährigen mit einer Vollzeit- und einer Ergänzungskraft. Das ist eng getaktet und plant nicht mit ein, dass mal jemand krank wird. Die Regularien im KiBiz sind zu knapp, wie ich finde. Wenn man eine gute Leitung hat, macht das viel aus. Unsere Leitung hat hart für uns gekämpft und unsere Kita ist nicht vom Personalmangel betroffen. Aber ich verstehe, dass Kitas Eltern dazu bewegen, hochzubuchen. Werden mehr Stunden gebucht, kann mehr Personal eingeplant werden. Damit legt man seinem Team nicht noch mehr Hürden in den Weg. Profit-Gier? Ich denke, da steckt mehr dahinter.“
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Die Krankheitswellen
„Es ist ein Teufelskreis. Auf Eltern lastet ein hoher Druck, denn sie haben nur wenig Kinderkrankentage. Sie bringen ihre Kinder dann also manchmal mit Symptomen, die vielleicht nicht stark sind, aber ansteckend. Gleichzeitig sind wir verunsichert, wann wir die Kinder nach Hause schicken sollen. Wir müssen Fieberfälle dokumentieren, bei vielen Krankheiten sitzt uns das Gesundheitsamt im Nacken und prüft, wie die Kita mit meldepflichtigen Fällen umgeht. Wir spüren also Druck von beiden Seiten. Zu allem Übel werden wir natürlich auch krank. In diesem Jahr hatte ich schon vier Mandelentzündungen, Antibiotika wirkt nicht mehr, ich muss meine Mandeln nun herausnehmen lassen. Wir opfern viel für diesen Beruf, auch unsere Freizeit, weil wir einfach ständig krank sind. Wenn man im Urlaub krank wird und sich seine Krankheitstage zurückholt, wird das allerdings vom Träger nicht gerne gesehen. Der hohe Krankenstand ist ein extrem belastendes Thema. Ich wurde allein in dieser Woche zweimal angekotzt. Bei vielen Trägern aber heißt es, mit Krankheiten darf man nicht rechnen und auch das KiBiz plant natürlich nicht im Personalschlüssel mit den Krankheitsausfällen. Springerkräfte wären toll, aber das wären natürlich unattraktive Stellen.“
Die psychische Belastung
„Man müsste den Job positiver gestalten, aber das ist schwer, weil er psychisch so belastend ist. Viele sind gestresst und wissen nicht, wie sie damit umgehen sollen. Es muss mehr getan werden, um den Erzieherinnen und Erziehern zu helfen. Natürlich entscheidet man sich bewusst für einen Beruf von dem man weiß, dass man jeden Tag fröhlich und ein gutes Vorbild sein muss. Wir versuchen wirklich, die Kinder bestmöglich zu begleiten, aber wenn man gestresst ist, ist das nicht leicht. Es ist außerdem irgendwie ein Tabu in dieser Branche, über psychische Belastungen oder Erkrankungen zu sprechen. Viele fragen sich, ob sie mit einer diagnostizierten psychischen Erkrankung noch einen Job bekommen. Wir müssen viel mehr über unsere Belastung sprechen. Ich kenne Kolleginnen und Kollegen, die gehen an ihre Grenzen. Sie glauben, sie müssen für die Kinder funktionieren.“
Die Eltern
„Ich mache sehr gerne Elternarbeit, ich komme gerne mit Eltern ins Gespräch. Aber natürlich können wir nicht immer alle Sonderwünsche oder Anforderungen erfüllen. Außerdem ist der Druck, Fehler zu machen, enorm und diese zuzugeben gar nicht leicht. Viele Eltern versuchen aber, uns zu loben und Rückmeldungen zu geben. Wenn ich höre, dass Eltern vielleicht ein Lied daheim gesungen haben, was wir in der Kita schon gelernt haben, dann macht mich das stolz auf meine pädagogische Arbeit.“
Das gute an dem Job
„Ich liebe meinen Job. Es gibt total viele schöne und tolle Aspekte. Ich mag das Miteinander mit meinen Kolleginnen, ich habe wirklich Glück mit meiner Kita. Und ich freue mich, die Entwicklung der Kinder mitzuerleben. Wenn sie lernen zu helfen und zu teilen, wenn sie empathisch werden. Es gibt so viele Momente im Alltag, die schön sind. Das Positive an diesem Job überwiegt. Ich würde mich immer wieder dafür entscheiden.“
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