Hagen. Patienten auf dem Land müssen sich im Notfall auf längere Fahrzeiten einstellen. So weit ist der Weg zur nächsten „Stroke-Unit“.
Bei einem Schlaganfall zählt jede Minute. „Time is Brain“, Zeit ist Gehirn, lautet eine in diesem Zusammenhang gern angeführte Weisheit, die auf die Bedeutung einer schnellen Behandlung hinweist.
Vor diesem Hintergrund kann eine wissenschaftliche Analyse zur Versorgung von Schlaganfall-Patienten große Sorge in Teilen Südwestfalens hervorrufen: Während in Deutschland demnach innerhalb von durchschnittlich 14 Minuten ein auf die Behandlung von Schlaganfällen spezialisiertes Krankenhaus per Rettungswagen erreicht werden könnte, beträgt die Fahrzeit in der Region bis zu 49 Minuten – und damit auch deutlich mehr als die empfohlene Höchstdauer von 30 Minuten.
Hiesiger „Spitzenreiter“ in der Auswertung des deutschen Science Media Center (SMC), über welche der „Spiegel“ zuerst berichtete, ist Schmallenberg im Hochsauerlandkreis mit jenen 49 Minuten. Auch Kommunen wie Finnentrop (40,9 Minuten Fahrzeit), Winterberg (38,2) oder Bad Berleburg (44,8) schneiden in der Analyse (siehe Karte) schlecht ab.
Allerdings: Experten aus der Region raten zu einer differenzierteren Betrachtung. An dem Motto „Time is Brain“ dürfe man nicht alles ausrichten, sagt etwa Prof. Dr. Martin Grond. Der Siegener Neurologe findet:
„Wichtiger ist: Kompetenz is Brain.“
Fallzahlen wichtiges Kriterium
Die Analyse des Science Media Center, die auf Qualitätsberichten der Krankenhäuser aus dem Jahr 2022 basiert, hat sich bei der Auswertung der Fahrzeiten auf den Weg zur nächsten sogenannten Stroke-Unit (SU) konzentriert. Dies sind auf die Behandlung von Schlaganfällen spezialisierte Fachabteilungen. Die Mehrzahl (349 in ganz Deutschland) sind durch die Deutsche Schlaganfall-Gesellschaft (DSG) zertifiziert, aber eben nicht alle der vom SMC berücksichtigten 476 Stroke-Units.
„Das Zertifizierungsverfahren der Deutschen Schlaganfall-Gesellschaft ist so ähnlich wie der TÜV. Das Zertifikat bestätigt die Qualität einer Stroke-Unit. Es ist allerdings keine Voraussetzung, um eine Stroke-Unit zu betreiben. Der Begriff ist nicht geschützt. Sie können über ein Schlafzimmer Stroke-Unit schreiben“, sagt Grond, Ärztlicher Direktor am Klinikum Siegen, früher auch Präsident der DSG.
Des Weiteren gibt es überregionale und regionale Stroke-Units. Diese unterscheiden sich durch die Behandlungsmöglichkeiten und die Zahl der Fälle. Um als regionale Stroke-Unit zertifiziert zu werden, muss eine Klinik laut Grond mindestens 250 Schlaganfall-Patienten pro Jahr behandeln. Bei einer überregionalen Stroke-Unit seien es mindestens 700. „Diese Fallzahlen sind nicht zufällig gewählt. Es geht darum, durch regelmäßige Behandlungen Expertise aufzubauen“, sagt Grond. Am Klinikum Siegen (überregionale Stroke-Unit) behandele man jährlich 2000 Schlaganfall-Patienten.
„Der Begriff ist nicht geschützt. Sie können über ein Schlafzimmer Stroke-Unit schreiben.“
Eine Frage des Fachpersonals
Überregionale Stroke-Units sollen den kleineren Kliniken als Ratgeber zur Seite stehen, beispielsweise die Behandlung per Tele-Medizin (also etwa über Video) begleiten, zudem Patienten aus anderen Krankenhäusern übernehmen. Überregionale Stroke-Units können auch sehr komplexe Schlaganfälle behandeln, beispielsweise – rund um die Uhr, sieben Tage pro Woche – mechanische Thrombektomien durchführen.
Bei dieser Behandlungsmethode „lösen Neuroradiologen mit einem Katheter Blutgerinnsel in der Hirnarterie. Das kann man allerdings nur an größeren Arterien machen. Zudem muss eine Thrombektomie in den ersten Stunden nach einem Schlaganfall erfolgen, sonst hilft sie nicht mehr. Eine Thrombektomie kommt nur für fünf bis acht Prozent der Schlaganfallpatienten infrage“, sagt Prof. Dr. Hubertus Köller vom Agaplesion Klinikum Hagen (das derzeit nicht von der DSG zertifiziert ist, weil die Abteilung mit überregionaler Stroke-Unit im Zuge der Klinik-Umstrukturierung in Hagen den Standort wechselte).
Eine Thrombektomie sei eine hochspezialisierte Technik. Es gebe Schlaganfall-Stationen, die diesen Eingriff nicht durchführten, weil sie nicht ausreichend Patienten hätten. Außerdem benötige man mindestens vier entsprechend qualifizierte Radiologen, um die Behandlung jederzeit zur Verfügung zu stellen. „So viele gibt es an vielen Orten gar nicht“, so Köller.
Zertifizierte Stroke-Units in der Region
In Deutschland gibt es 349 Stroke-Units, die von der Deutschen Schlaganfall-Gesellschaft (DSG) zertifiziert worden sind. Im Regierungsbezirk Arnsberg sind es folgende 15:
Arnsberg: Klinikum Hochsauerland/Karolinen-Hospital (regionale Stroke-Unit)
Bochum (2): Katholisches Klinikum Bochum/St. Josef-Hospital, Universitätsklinikum Knappschaftskrankenhaus (beide überregionale Stroke-Units);
Dortmund (2): Klinikum Dortmund (überregional) und Klinikum Westfalen (regional)
Hamm: St. Marien-Hospital (regional)
Hattingen: Evangelisches Krankenhaus (regional)
Herdecke: Gemeinschaftskrankenhaus (überregional)
Herne: Evangelisches Krankenhaus (regional)
Lippstadt: Evangelisches Krankenhaus (regional)
Lüdenscheid: Märkische Kliniken/Klinikum Lüdenscheid (regional)
Lünen: St. Marien Hospital (überregional)
Siegen: Klinikum Siegen (überregional)
Soest: Klinikum Stadt Soest (regional)
Unna: Christliches Klinikum Unna WEST (regional)
Das NRW-Gesundheitsministerium weist darüber hinaus das Berufsgenossenschaftliche Universitätsklinikum Bergmannsheil Bochum und das Agaplesion Klinikum Hagen als Stroke-Units aus.
Neue Station in Berleburg
Um die Versorgung im Sauerland und in Wittgenstein zu verbessern, sollen im Zuge der zum 1. April in Kraft tretenden Landes-Klinikreform zusätzliche Stroke-Units in der Region ausgewiesen werden: im St. Vinzenz-Krankenhaus Menden, im Fachkrankenhaus Kloster Grafschaft (Schmallenberg) sowie in der Vamed-Klinik Bad Berleburg. Das teilt das NRW-Gesundheitsministerium mit. Allerdings sind dies teils nur „Stroke-Units light“ wie etwa in Bad Berleburg. Die Abteilung dort wird unter internistischer Leitung stehen, keine Thrombektomien durchführen und auch (zunächst) nicht von der Deutschen Schlaganfall-Gesellschaft zertifiziert sein.
Dennoch sei die Stroke-Unit light „ein großer Zugewinn für die Region und für unser Krankenhaus“, sagt Dr. Karim Bou-Nassif, der Leiter der Station: „Die zu unserem Krankenhaus nächstgelegenen Schlaganfalleinheiten befinden sich in Siegen und in Marburg. Die Fahrtzeit für Patienten beträgt, abhängig vom jeweiligen Transportmittel und von den vorliegenden Witterungsbedingungen, bis zu über einer Stunde.“
Durch die Schlaganfall-Station light in Berleburg, für die es laut Bou-Nassif noch kein Zertifizierungsverfahren gibt, soll die Fahrzeit erheblich gesenkt werden.
Warum der Faktor Zeit allerdings nicht alles bei der Schlaganfall-Behandlung sei, erklärt Martin Grond.
„Die Stroke-Unit light ist ein großer Zugewinn für die Region und für unser Krankenhaus.“
Grond: Zeit ist nicht alles
Patienten erlitten Schäden nicht nur durch den Schlaganfall, sondern auch durch die Komplikationen, die danach auftreten könnten. Die richtige Diagnose und Behandlung – durch speziell geschulte Ärzte und Pfleger sowie durch Logopäden, Ergo- und Physiotherapeuten – verbessere das Ergebnis „dramatisch“.
Es könne daher besser sein, eine längere Fahrzeit in Anspruch zu nehmen, um einen Patienten in ein Schlaganfall-Zentrum zu bringen statt ins nächstgelegene Krankenhaus, das nur eine Grundversorgung anbiete. „Man hat dann zwar den Nachteil des längeren Weges, aber dafür den Vorteil der größeren Kompetenz“, so Grond, der findet: „Wir haben es viel zu wenig in die Köpfe reingebracht, wie wichtig die richtige Diagnose und Therapie sind. Der Kompetenzgedanke kommt mir zu kurz.“
Grond bewertet es grundsätzlich als „kritisch“, wenn Kliniken eine nicht zertifizierte Stroke-Unit ausweisen: „Das geht in Richtung Etikettenschwindel.“ Er fragt: „Werden in einer nicht zertifizierten Stroke-Unit ausreichend Fälle behandelt, ist ausreichend Kompetenz vorhanden, werden die Qualitätskriterien erfüllt?“ Als Patient käme er im Ernstfall am liebsten in eine überregionale Stroke-Unit. „Da ist die Schlaganfallversorgung Team- und Tagesgeschäft“, so Grond.
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