Soest. Die Ärzte sagen, dass der Junge seinen zweiten Geburtstag wohl nicht erleben wird. Der Wünschewagen ermöglicht einen besonderen Tag.

Auf dem Arm seiner Mama liegt Stuart. Er schläft, schläft ganz tief. Seine beiden großen Schwestern Lucy (9) und Melia (5) tollen neben ihm auf der Wohnzimmercouch herum und drücken kichernd dem Papa pinkfarbene Spangen ins Haar. Die Mama schaut herüber zu den beiden Mädchen, lächelt. Der Satz, den sie kurze Zeit später ausspricht, will nicht an diesen harmonischen Ort passen. „Ich sage zu Stui manchmal: Wenn du nicht mehr kannst und nicht mehr willst, dann darfst du gehen.“ Madelines Stimme erstickt fast an Tränen. „Er soll nicht leiden müssen. Er soll nicht vergeblich kämpfen.“

Stuart aus Soest: Der zweite Geburtstag wäre im März

20 Monate alt ist Stuart. Er trägt einen seltenen Gendefekt in sich: Morbus Krabbe. Eines von 100.000 Kindern leidet an der Krankheit, bei der die Isolierschicht, die die Nerven umgibt, immer weiter zerstört wird. Die Motorik leidet, Stuart entwickelt sich zurück, Lähmungen können die Folge sein, Blindheit. Eine Krankheit, die unheilbar ist und zum Tode führt. Seinen zweiten Geburtstag, sagen die Ärzte, wird Stuart nicht erleben. Der wäre im März.

Stuart liebt die Tiere. Er hat eine Decke mit Pandas darauf, ohne die er nicht schlafen will. Auf seiner Brust liegt jetzt gerade sein Liebling: eine kleine Fledermaus. Lucy, die große Schwester, liest ihm manchmal aus Tierbüchern vor. Sie verschwindet in ihrem Zimmer und holt eines der Bücher, das er mag: „Benny Bärentatze und die kleine Weltreise“.

Birgit Bäumer Borgmann. Foto:Ralf Rottmann/ Funke Foto Services

„Kinderfahrten sind etwas ganz Besonderes. Viele wissen nicht, dass wir auch Fahrten für Kinder machen.“

Birgit Bäumer-Borgmann
Ansprechpartnerin für den ASB-Wünschewagen in Westfalen

Madeline erzählt die Geschichte ihres Sohnes in der Öffentlichkeit, weil sie will, dass die Menschen von einer kleinen Reise erfahren, die die Familie aus Soest angetreten hat. Auch eine Weltreise, eine Reise nämlich, die ihnen die Welt bedeutet. Ein Besuch im Zoo mit der ganzen Familie. „Stuart hat den Wunsch nicht selbst geäußert. Aber er liebt die Tiere“, erklärt Madeline. „Diesen Tag, diese Erinnerungen, die nimmt uns im Leben keiner mehr“, sagt die 27-Jährige, die ihren Nachnamen nicht veröffentlicht wissen will.

Möglich wurde der Ausflug durch den Wünschewagen des Arbeiter-Samariter-Bundes (ASB), der schwerkranke Menschen seit zehn Jahren an ihren Sehnsuchtsort bringt. „Die Wünsche sind sehr unterschiedlich“, sagt Birgit Bäumer-Borgmann vom ASB in Westfalen, die bei Stuarts Fahrt dabei war. Nochmal ans Meer, ins Fußball-Stadion, zum Konzert, zu Familienangehörigen, eine Schifffahrt auf dem Rhein, ins frühere Jagdgebiet. „Manche möchten sich auch ihre letzte Ruhestätte selbst aussuchen.“ Ein Freund der Familie in Soest war ohne deren Wissen an den ASB herangetreten. „Kinderfahrten sind etwas ganz Besonderes. Viele wissen nicht, dass wir auch Fahrten für Kinder machen“, sagt Birgit Bäumer-Borgmann.

Wünschewagen macht die Reise möglich

Stuart wird über eine Sonde ernährt, aufrecht sitzen kann er nicht, stehen oder laufen auch nicht. Er schläft viel. Wenn sie das Haus verlassen, nehmen sie einen kleinen quadratischen Kasten mit, mit dem bei Stuart Sekret abgesaugt werden kann. „Seit Dezember lächelt er nicht mehr“, sagt die Mama. Bald ein Jahr ist das jetzt her. 16. Dezember, sie weiß das Datum noch genau. An der Wand im Wohnzimmer hängt ein Bild, auf dem Stuart lächelt, Weihnachtsbaum im Hintergrund. „Er nimmt die Menschen um sich herum wahr“, sagt Madeline. „Und er reagiert auf Tiere.“

Drei Wünschewagen gibt es in NRW an drei Standorten. Dabei handelt es sich um Krankenwagen, in denen medizinisches Gerät zwar vorhanden, aber hinter Blenden und in Schränken versteckt ist. Unter dem Dach sorgen LED-Lampen für einen Sternenhimmel. Mit an Bord in dem Fall: ein Rettungssanitäter, eine Kinderkrankenschwester, ein Notfallseelsorger. 

Der kleine Stuart in den Armen seiner Mama. Schwester Lucy gibt ihm einen Kuss auf den Kopf.
Der kleine Stuart in den Armen seiner Mama. Schwester Lucy gibt ihm einen Kuss auf den Kopf. © FUNKE Foto Services | Ralf Rottmann

Drei Monate nach der Geburt hatte Stuarts Kinderärztin das Gefühl, dass seine Entwicklung verzögert sei. Madeline dachte, dass er vielleicht einfach mehr Zeit brauche. Als krampfhafte Zuckungen auftraten, begann die fieberhafte Suche nach der Ursache. Drei Krankenhäuser nahmen sich Stuarts an. Erst hieß es: Verdacht auf Muskelschwund. Rund um seinen ersten Geburtstag hatten sie Gewissheit. „Für uns ist eine Welt zusammengebrochen. Zu wissen, dass der Tag kommt, an dem das eigene Kind stirbt…“, sagt die Mama, ohne den Satz zuende zu sprechen.

Der schwer kranke Stuart (1) aus Soest mit seinen Schwestern Melia und Lucy beim Ausflug mit dem Wünschewagen des Arbeiter-Samariter-Bundes in den Zoo Münster.
Der schwer kranke Stuart (1) aus Soest mit seinen Schwestern Melia und Lucy beim Ausflug mit dem Wünschewagen des Arbeiter-Samariter-Bundes in den Zoo Münster. © ASB | JOHANN F SABA D_BONN

Wie geht man mit so etwas um? Madeline zuckt mit den Schultern. Sie hat psychologische Hilfe, redet viel über das, wofür es manchmal keine Worte gibt. Wenn Stuart nachts wach liegt, ist sie bei ihm. Sie schläft deswegen kaum. „Ich kann ihn nicht einfach allein dort liegen lassen. Was, wenn er meine Hilfe braucht?“ Sie hatte Angst, dass es im September oder Oktober passieren würde. Ein schlechtes Bauchgefühl war das. Jetzt sagt sie: „Ich habe kein Gefühl mehr. Ich lebe in jeden Tag hinein mit ihm, nehme jeden Tag wie er kommt.“ Dankbar zu sein, Erinnerungen zu schaffen - darum gehe es. Deswegen war der Wünschewagen so wichtig.

„Ich habe Angst vor dem, was kommt. Wenn ich jetzt schon diesen Schmerz spüre, was passiert dann erst, wenn der Tag da ist? “

Madeline (27)
Mama von Stuart

Stuarts Reise ging nach Münster in den Zoo. Sonderparkplatz, Fütterung der Lemuren, die bis auf seinen Schoß krabbelten. Alles vorbereitet. Den Elefanten kam er so nah, dass ihm einer durch den Rüssel ins Gesicht blies. „Da hat er die Augen richtig aufgerissen“, erinnert sich die Mama und schmunzelt. Die Pinguine, die habe er mit den Augen verfolgt, wie sie vorüberwatschelten. 

Tränen habe sie am Ausgang in den Augen gehabt, sagt Madeline. „Als dann noch Lucy kam und meinte, dass das der schönste Tag ihres Lebens war, konnte ich nicht mehr.“ Ein bisschen Sorglosigkeit. Für alle. Eine Erinnerung. Für immer.

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„Ich habe Angst vor dem, was kommt“, sagt Madeline. „Wenn ich jetzt schon diesen Schmerz spüre, was passiert dann erst, wenn der Tag da ist?“ Sie will keine Antwort. „Wenn Stuart begraben ist und wir wieder zu Hause sind. Ich muss ja da sein für die Kinder, für meinen Mann.“ Sie ist gelernte Altenpflegerin, aber an Berufstätigkeit ist nicht zu denken. Das Leben dreht sich um Stuart.

Der Wünschewagen des Arbeiter-Samariter-Bundes bringt schwerstkranke Menschen an ihre Lieblingsorte: zum Beispiel ans Meer.
Der Wünschewagen des Arbeiter-Samariter-Bundes bringt schwerstkranke Menschen an ihre Lieblingsorte: zum Beispiel ans Meer. © ASB | ASB

Der liegt noch immer schlafend in ihren Armen, er atmet ruhig, zuckt dann und wann kaum sichtbar mit den Armen. Schmerzen habe Stuart eigentlich nicht, sagt Madeline. Und wenn doch, hat sie Morphium im Haus. „Ich nehme viele Dinge im Leben jetzt anders wahr. Ich bin dankbarer.“ Für das, was sie hat.

Die Geschichte von der Schildkröte, die den Hasen vermisst

Lucy und Melia wissen längst, dass der Tag kommen wird, an dem Stuart nicht mehr da sein wird. Sie erleben mit, wenn die Mama in traurigen Momenten zu weinen beginnt. „Lucy ist jetzt schnell groß geworden. Sie hat das Gefühl, helfen zu müssen und Verantwortung zu übernehmen“, sagt die junge Mutter. „Das soll sie aber nicht. Sie soll Kind sein.“

Wünschewagen Westfalen

Seit zehn Jahren gibt es den Wünschewagen des Arbeiter-Samariter-Bundes. Mittlerweile ist er in allen Bundesländern mindestens einmal vertreten, in NRW gibt es sogar drei Standorte: einen für das Gebiet Westfalen in Münster, einen für Rhein/Ruhr in Essen, einen für das Rheinland in Erftstadt. Das Projekt finanziert sich ausschließlich aus Spenden, Kinderkrankenschwestern und Sanitäter opfern ehrenamtlich ihre Zeit. Für die schwer kranken Menschen ist der Ausflug komplett kostenfrei und bis ins Detail durchgeplant.

Den Standort Westfalen (0251/2897-270) gibt es seit sechs Jahren. Im kommenden Jahr wird er die 500. Fahrt machen. Mitfahren darf jeder, der noch transportfähig ist. „Möglichst jeder Wunsch wird erfüllt“, sagt Birgit Bäumer-Borgmann, die Ansprechpartnerin für Westfalen.

Die Große holt ein weiteres Buch aus ihrem Zimmer. Eines, in dem es um eine Schildkröte geht und ihren besten Freund den Hasen. Eines Tages ist der Hase fort und kommt auch nicht mehr wieder. „Durch die Erinnerungen, die man an einen Menschen hat, bleibt er am Leben“, sagt die Mama. Lucy legt das Buch auf den Wohnzimmertisch und beginnt zu weinen. Titel des Buches: „Du fehlst so, Hase.“

Dieser Artikel gehört zu den meistgelesenen unserer Redaktion im Jahr 2024. Erstmals erschienen ist er im November 2024. Wir präsentieren Ihnen unter #meistgelesen2024 zur Jahreswende noch einmal eine Auswahl von sehr beliebten Artikeln.

<<< Spendenkonto >>>

Die Familie des kleinen Stuart hat ein Spendenkonto eingerichtet, auf dem Geld gesammelt werden soll, um die Beerdigung und die Grabausstattung zu bezahlen, wie Madeline sagt. Die Bankverbindung lautet:

Nicole Ikert
IBAN : DE74 360 60 591 000 133 2015
BIC: GENODE1SPE
Verwendungszweck: Stuart