Hagen. Sonntag, blauer Himmel, 30 Grad: An diesem Tag sterben in Hagen drei Menschen. Rekonstruktion eines Dramas, das für Entsetzen sorgte.

Bulli war sein Spitzname. Bulli war offensichtlich gern gut vorbereitet. Das Stofftier zum Beispiel hatte er bereits gekauft. Es sollte ein Geschenk werden zur Geburt des Kindes seines Kumpels. Sechs Wochen waren es noch bis dahin. Sie sprachen dauernd darüber, Bulli freute sich für die Familie. Doch das Kind, für das das Stoffhündchen bestimmt war, lernte er nie kennen.

Eigentlich legte sich Bulli, mit richtigem Namen Michael Erkelenz, im Dienst immer eine schusssichere Weste an. Er hatte sie sich in einem Urlaub in den USA selbst gekauft und mit nach Hagen gebracht. An diesem einen Sonntag hat er sie nicht getragen. Sommer im Jahr 1999, über 30 Grad. Die Weste war noch in der Wäsche. Bulli hätte frei gehabt, doch weil ein Kollege zum Fußball wollte, tauschte er den Dienst. Sonntage sind eher ruhig.  

Eine Mutter wird in ihrem Garten erschossen - während sie mit ihrem Sohn Backgammon spielt

Dieser Tag ist der 1. August 1999, heute auf den Tag genau 25 Jahre her. Es ist der Tag, an dem der Polizist Michael Erkelenz, 37 Jahre alt, erschossen wird. Im Dienst tödlich verletzte Beamte hat es in Südwestfalen seither nicht mehr gegeben, in ganz NRW danach sieben Mal. An jenem Sonntag muss auch eine Mutter von zwei Kindern (41) in ihrem eigenen Garten sterben. Sie spielte mit ihrem zwölf Jahre alten Sohn Backgammon. Der Täter in beiden Fällen: ein 24 Jahre alter Drogendealer namens Bayram Y.

Rekonstruktion eines Tages, der deutschlandweit für Entsetzen sorgte.

Bullis Kumpel, der damals Vaterfreuden entgegensah, ist Michael Funke, Taucher bei der Berufsfeuerwehr Hagen, ein kräftiger Kerl, den so schnell keine Strömung mitnimmt. Ihm kommen, wenn er an damals denkt, noch immer die Tränen. Bulli und er kannten sich vom Sport, gingen gemeinsam tauchen. „Er war ein Kamerad“, sagt Funke: „Auf sein Wort war Verlass.“

„Als der Fahrer des Rettungswagens ausstieg, hat er mich ganz komisch angeschaut, und ich habe mich gefragt warum. Er wusste, dass er meinen Freund auf der Liege hat.“

Michael Funke, am Tattag im Rettungsdienst eingeteilt

An jenem Sonntag ist Funke für den Rettungsdienst eingeteilt. Bulli besucht ihn auf der Feuerwache, die beiden trinken wie so oft einen Kaffee. Sie sprechen über die nahende Geburt und planen ihren Tauchausflug am nächsten Tag zum Gasometer in Duisburg.

Dass es der letzte gemeinsame Kaffee ist, ahnen sie nicht. Auch nicht, dass sie sich am Nachmittag am Krankenhaus wiedersehen, Bulli mit einer Patronenhülse im Körper. „Das mit dem Tauchen morgen wird nichts“, habe er gesagt. Vielleicht der schwarze Humor derer, die wissen, wie gefährlich ihr Job ist.

Der Funkspruch, mit dem alles beginnt, geht um 17.10 Uhr ein. „Verdächtige männliche Person“ nahe Landgericht, die „mehrfach Kinder angesprochen“ haben soll. Bulli, so erinnert sich ein Kollege, hatte an dem heißen Sommertag Eis für die anderen auf der Wache besorgt. Einem Duo, das gerade von einem Einsatz zurückkehrt, funkt er zu: „Esst Ihr euer Eis, das schmilzt. Wir fahren hin.“ Bulli am Steuer.

M. Kleinrensing WP Hagen Polizei
Straßensperrungen, Lautsprecherdurchsagen, Suche nach dem Täter per Helikopter: Am 1. August 1999 werden der Polizist Michael Erkelenz und eine 41 Jahre alte Frau in Hagen von einem Amoktäter erschossen.   © WP | Michael Kleinrensing

20 bis 25 Kinder seien aufgeregt auf der Straße unterwegs gewesen, so steht es laut Polizei in der Akte. Der Kollege, der mit Bulli unterwegs ist, kann den Verdächtigen sehen: Er steht hinter einem geparkten Kastenwagen auf dem Bürgersteig, die linke Hand unter dem rechten Bereich seiner Jacke versteckt. Napoleonhaltung, nur umgekehrt, so erinnert sich Bullis Kollege später laut Polizei. Dieser Tag hat ihn schwer belastet, seit vielen Jahren ist er nicht mehr im Dienst.

Die Beamten steigen aus, nähern sich, sprechen den Verdächtigen an. Er weist sich wie verlangt aus. Als er gebeten wird, die linke Hand aus der Jacke zu ziehen, weigert er sich. Sekunden später zückt er die Waffe, schießt auf Bulli, dann auf den Kollegen, der das Feuer nicht erwidern kann: Kinder befinden sich in der Schusslinie.

Die Schüsse hallen durch das Viertel. Der Ehemann der Frau, die später erschossen wird, hält das Geräusch für verspätete Silvesterböller.

Der Polizeibeamte Andreas Kroll verfolgte am 1. August 1999 den Amoktäter in Hagen

„Den Tag werde ich nie vergessen. Was mich besonders betroffen gemacht hat, war, dass wir der Frau nicht helfen konnten. Polizisten wissen um das Risiko ihres Berufes. Aber wenn Frauen und Kinder zu Opfern werden, geht mir das besonders nah. Es fehlte nicht viel und wir hätten es verhindern können.“

Andreas Kroll, verfolgte den Täter damals

Bulli sackt an der Fahrerseite eines schwarzen Golfs auf der Straße zusammen, getroffen in der Brust und am Handgelenk. Der Täter flüchtet, während der unverletzte Kollege das geheime interne Codewort funkt. Es ist 17.22 Uhr. Alle Beamten in der Stadt wissen, was das heißt: verletzter Polizeibeamter. Sie vertrauen einander ihr Leben an. Ein Angriff auf einen, ist ein Angriff auf alle. So empfinden sie das. Wer kann, eilt zur Verstärkung.

Michael Funke, Bullis Kumpel von der Feuerwehr, ist gerade am Krankenhaus, als er den Funkspruch hört: verletzter Polizeibeamter, Liegendanfahrt mit Voranmeldung. Das sind die kritischen Fälle. Er will helfen, wartet auf den Rettungswagen. „Als der Fahrer ausstieg, hat er mich ganz komisch angeschaut, und ich habe mich gefragt warum.“ Funke macht eine Pause. „Er wusste, dass er meinen Freund auf der Liege hat.“

Bulli sei ansprechbar gewesen. Michael Funke erinnert sich an den Dienstgürtel und die Dienstwaffe, die blutverschmiert gewesen seien. „Mich hat es erwischt“, habe Bulli gesagt. Er kommt in den Schockraum, wird für die OP vorbereitet. Funke ist bei ihm. Bullis Frau wird verständigt. Als sie da ist, verlässt Funke das Krankenhaus. „Ich habe ihn in den Arm genommen und gesagt: Wir sehen uns.“ Sie sehen sich nicht mehr.

Zunächst hieß es, das rote Notizbuch in der Brusttasche hätte dem Polizeibeamten Michael Erkelenz das Leben gerettet.
Zunächst hieß es, das rote Notizbuch in der Brusttasche hätte dem Polizeibeamten Michael Erkelenz das Leben gerettet. © WP | Repro von Zeitungsartikel

Eine Woche lang kämpft Bulli um sein Leben. Zwischenzeitlich heißt es, ein kleines feuerrotes Notizbuch, das er stets in seiner Brusttasche trägt, habe die Wucht des Schusses gebremst, habe ihm das Leben gerettet. Mehrere Notoperationen stabilisieren aber seinen Zustand nicht. Die Kugel steckt noch in seinem Körper, als Michael Erkelenz sechs Tage später im Krankenhaus verstirbt. 500 Polizeibeamtinnen und -beamte aus mehreren Bundesländern kommen zu seiner Beisetzung, ebenso der damalige NRW-Innenminister Fritz Behrens (SPD).

M. Kleinrensing WP Hagen Polizei
Am 1. August 1999 wurden eine Frau und der Polizist Michael E. von einem Amoktäter erschossen. Der Täter erschoss sich auf der Flucht.  © WP | Michael Kleinrensing

Michael Erkelenz fuhr gern VW-Bulli, schon damals beim Bundesgrenzschutz, deswegen der Spitzname. Er tauchte und jagte, machte Kraftsport, ging gern Knobeln. Er liebte Amerika, fuhr privat einen US-Geländewagen. „Er war Polizist durch und durch. Regeln waren ihm wichtig“, sagt der pensionierte Kollege Dirk Blome (63), der mit Bulli viele Jahre Dienst schob. „Privat konnte man das letzte Hemd von ihm haben.“

Ein anderer Kollege ist Andreas Kroll, heute 56 Jahre alt, ein drahtiger Kerl mit Kurzhaarschnitt. Er hört damals den Notruf über Funk und steuert den Streifenwagen, der als erster am Tatort ankommt. Der Täter überquert zu dem Zeitpunkt die nahe Hauptstraße, läuft den Beamten fast vors Auto – die Waffen, die er in der Hand hält, richtet er sofort auf Kroll. Neben einer Pistole der Marke Czeska, Kaliber 7,65 Millimeter, hat Bayram Y. auch noch eine Schreckschusswaffe dabei.

Der frühere Polizeibeamte Dirk Blome saß oft mit dem am 1. August 1999 im Dienst tödlich verletzten Michael

„ Er war Polizist durch und durch. Regeln waren ihm wichtig. Privat konnte man das letzte Hemd von ihm haben.“

Dirk Blome, früherer Schichtkollege von Michael Erkelenz

„Er hat direkt auf meinen Kopf gezielt. Es war wie im Film, als ob man das nicht selbst erlebt, sondern sich dabei zusieht“, erinnert sich Kroll, „als ich in die Pistolenläufe schaute, der blaue Himmel im Hintergrund, dachte ich, dass es jetzt vorbei ist. Dieses Gefühl der Hilflosigkeit war kurz da, dann habe ich den Wagen beschleunigt.“ Der Täter schießt nicht, sondern flüchtet weiter, durch einen nahen Garten in eine Nebenstraße. Die Polizisten verfolgen ihn.

Hildegard M. (41) wohnt in dieser Straße. Sie sitzt hinter dem Haus auf der Terrasse, spielt Backgammon mit dem 12 Jahre alten Sohn. Ihr Mann ist im Obergeschoss mit der älteren Tochter.

Bayram Y., geboren in der Türkei, ist mehrfach vorbestraft: schwere Körperverletzung, Freiheitsberaubung, Nötigung. Wegen des Verstoßes gegen das Betäubungsmittelgesetz erhält er eine Jugendstrafe von vier Jahren und sechs Monaten. Zum 28. Februar 1998 kommt er aus dem Gefängnis frei. Zum Zeitpunkt der Tat wohnt er in der Nähe des Tatorts und bezieht monatlich 285,60 D-Mark Arbeitslosenhilfe. Ihm droht die Abschiebung.

Plötzlich steht der Mann mit gezogener Waffe auf der Terrasse

Mit der Waffe in der Hand steht er plötzlich auf der Terrasse. Er fordert - so steht es laut Polizei in den Akten - den Zwölfjährigen auf, zur Seite zu treten und verlangt Geld von Hildegard M. Als sie der Aufforderung nicht sofort nachkommt, drückt Bayram Y. ab und flüchtet. Hildegard M. ist tödlich getroffen. Ihr Mann eilt herunter, ruft den Notarzt. Der Sohn sieht alles mit an.

Rettungssanitäter Bernward Rieke (57) kann sich noch heute an den Tag erinnern. Er habe den Jungen später eine Etage tiefer gefunden, „zusammengekauert an der Wand. Er wollte nicht sprechen, konnte nicht sprechen“, erinnert sich Rieke, der heute beim Amt für Brand- und Katastrophenschutz arbeitet - auch deshalb, weil da nicht so viele Bilder anfallen, die man mit nach Hause nimmt. „Wir sind neben dem Haus die Treppe hinauf. Ich habe die Terrasse gesehen, nach links geguckt: Die Tür stand auf - und da lag die Frau auf dem Boden.“

EKG.

Nulllinie.

Die Frau ist nicht zu retten, trotz aller Versuche des kurz danach eintreffenden Notarztes. Rieke bleibt am Tatort. Er konnte und wollte die Familie „nicht alleine lassen. Wir haben zusammen auf den Seelsorger gewartet.“

Hinterbliebene

Sowohl die damalige Ehefrau des getöteten Polizeibeamten Michael Erkelenz als auch die Familie des zweiten Todesopfers, der 41 Jahre alten Frau, möchten sich auf Anfrage nicht öffentlich äußern. Jedes Jahr am 1. August erinnert die Polizei Hagen an den verstorbenen Kollegen. Für ihn wird im neuen Hagener Polizeipräsidium, das derzeit gebaut wird und in etwa zwei Jahren bezogen werden soll, eine Gedenktafel im Foyer angebracht.

Andreas Kroll, der Polizeibeamte, der die Verfolgung aufgenommen hatte, gelangt kurz nach dem Schuss auf die Terrasse. Auch ihm brennt sich der Anblick ins Gedächtnis. Die Geschehnisse arbeitet er Jahre später mit ärztlicher Hilfe auf. „Den Tag werde ich nie vergessen. Was mich besonders betroffen gemacht hat, war, dass wir der Frau nicht helfen konnten. Polizisten wissen um das Risiko ihres Berufes. Aber wenn Frauen und Kinder zu Opfern werden, geht mir das besonders nah“, sagt Kroll. „Es fehlte nicht viel und wir hätten es verhindern können.“ Das Motiv des Täters ist bis heute unklar. Hinweise auf erheblichen Drogen- oder Alkoholkonsum wurden nicht festgestellt.

Nach kurzer Flucht erschießt sich der Amoktäter am 1. August 1999 in diesem kleinen Waldstück.
Nach kurzer Flucht erschießt sich der Amoktäter am 1. August 1999 in diesem kleinen Waldstück. © Polizei Hagen | Polizei Hagen

Das Gebiet wird großräumig abgesperrt, ein Hubschrauber kreist darüber, die Bewohner werden mit Megafondurchsagen aufgefordert, im Haus zu bleiben. Der Täter flüchtet durch ein Wohngebiet, in ein Waldstück. Dort tötet er sich selbst durch einen aufgesetzten Schuss in die linke Brust. Bei ihm werden 21 Deutsche Mark, vier Telefonkarten, ein handgeschriebener Zettel und eine Kundenkarte vom Otto-Versand gefunden.

Forderung nach schusssicheren Westen für die Polizei

Knapp ein Jahr nach Bulli werden in Dortmund und Datteln drei Polizeibeamte getötet. Die Gewerkschaft der Polizei fordert schusssichere Westen, die zwei Jahre danach tatsächlich zur Ausstattung gehören. Westen, wie Bulli eine hatte. Die er immer trug. Nur an diesem Tage nicht.

„Wenn sich der Todestag jährt, denken wir besonders an Bulli“, sagt Michael Funke, der Taucher von der Feuerwehr. Dann sprechen sie über ihn auf der Feuer- und Polizeiwache, die älteren Kollegen, die ihn kannten. Und die jüngeren, die neu dabei sind. Zu den jüngeren im Polizeidienst gehört mittlerweile auch Michael Funkes Sohn. Das Stoffhündchen, das Bulli damals besorgt hatte, bekam er zur Geburt geschenkt – von Bullis damaliger Ehefrau.

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