Bad Berleburg. Demografischer Wandel ist vor allem in ländlichen Regionen ein Problem. Aue-Wingeshausen geht aktiv gegen die Überalterung vor.
- Neue Prognose bestätigt: In Südwestfalen werden bis 2040 viel weniger Menschen leben - und die sind dann immer älter.
- Ein Dorfgemeinschaft im Kreis Siegen-Wittgenstein will sich dem Schicksal nicht hingeben und wird aktiv.
- Eine Mittags-Mensa mit einem gemeinsamen Mittagessen ist ein entscheidender Baustein - und kann Vorbild sein.
Karin Jäckel ist jedes Mal dabei. „Es fehlt mir, wenn ich nicht hier bin“, sagt die 85-Jährige. Vor allem eines ist ihr wichtig: der Kontakt zu den anderen Dorfbewohnern. „Und das Essen hier bietet sich doch dafür an.“ Aber auch nicht zu vergessen: „Es schmeckt.“ Wittgensteiner Grüne Soße mit Eiern und Drillingskartoffeln stehen heute auf dem Speiseplan. Dazu als Vorspeise Räucherlachs auf Haferflockenbrot und als Nachtisch Rote Grütze mit Sahne. Karin Jäckel sitzt an einem Tisch mit Bekannten und Nachbarn. Reger Austausch, Stimmengewirr. Die Atmosphäre: entspannt und gesellig. Willkommen in der Bürgerhaus-Mensa in Aue-Wingeshausen.
Das Bürgerhaus ist ein unscheinbarer Funktionsbau aus den 1970er Jahren. Drinnen in der großen Halle teils Holzvertäfelung und Geweihe an der Wand, auf der einen Seite eine Bühne, auf der anderen eine Theke mit Küche dahinter. Wenn dort einmal im Monat die langen Tafeln eingedeckt sind, dann wird dieser Ort zum Zentrum des Dorfes. Ein gemeinsames Mittagessen in der Bürgerhaus-Mensa steht an. Offen ist dieses für alle Dorfbewohner. „Jung trifft alt“ hat der Dorfverein, der die Mensa initiiert, die Aktion überschrieben. Aber es sind vor allem die Älteren, die regelmäßig kommen.
Die Prognose zeigt: So alt wird die Bevölkerung bald sein
Davon gibt es bereits viele – und es werden noch mehr. Aue-Wingeshausen gehört zur Stadt Bad Berleburg und die zum Kreis Siegen-Wittgenstein. Bis zum Jahr 2040 wird der Kreis einen Bevölkerungsrückgang von 5,1 Prozent zu verzeichnen haben. Einer der höchsten Werte in der Region. Das sagt der neueste „Wegweiser Kommune“, eine Studie der renommierten Bertelsmann-Stiftung. Im Stadtgebiet Bad Berleburg wird die Zahl der 65- bis 69-Jährigen bis zum Jahr 2040 um fast 22 Prozent steigen, die der Über-80-Jährigen sogar um gut 29 Prozent. Bei den Unter-65-Jährigen gibt es dagegen ein dickes Minus. Vor allem die heute 45- bis 65-Jährigen, die aktuell fast ein Drittel der Bevölkerung in Bad Berleburg ausmachen, werden bis 2040 nach und nach in die Renten-Zone wechseln.
Man könnte schwarz sehen angesichts der Zahlen, Zukunftsängste haben – oder aber eine „Mensa“ für das Dorf ins Leben rufen. Das gemeinsame Essen läuft – wie der Name schon sagt – wie in einer Mensa ab. Die Dorfbewohner zahlen an der Kasse – ein Hauptgericht mit Vorspeise und Nachtisch kostet 5,50 Euro – und gehen weiter zur Essensausgabe. Getränke stehen auf dem Tisch bereit. Aber das Ambiente ist nicht kalt und unpersönlich, wie es bisweilen in einer Mensa ist. „Es ist eher wie in einem Restaurant“, sagt Ute Boshof-Schaumann.
Die gelernte Ernährungsberaterin hat die Bürgerhaus-Mensa vor fünf Jahren ins Leben gerufen. Etwa 75 Leute werden diesen Mittag erwartet. Bei 80 Personen ist Anmeldestopp. „Mehr gibt der Herd nicht her“, sagt Boshof-Schaumann. „Der Aufwand für 20 Leute zu kochen ist genauso groß wie für 80“, sagt sie. Die Produkte werden regional gekauft, alles wird selbst hergestellt, nichts kommt aus der Dose.
Die Anmeldeliste für das nächste Mal füllt sich schon beim Mittagessen
Der soziale Aspekt sei beim gemeinsamen Mittagessen entscheidend, sagt Helmut Keßler, der Vorsitzende des Dorfvereins, der an diesem Tag an der Kasse steht und jeden Besucher begrüßt – persönlich, mit Namen: „Die Leute kommen nicht wegen der 5,50 Euro fürs Essen, sondern um zu reden und sich auszutauschen.“ Noch während des Mittagessens im Bürgerhaus füllt sich die Anmeldeliste für den nächsten Termin, die neben der Kasse ausliegt. „Wir haben 80 Prozent Stammkundschaft“, sagt Keßler.
„Die Leute kommen nicht wegen der 5,50 Euro fürs Essen, sondern um zu reden und sich auszutauschen.“
So wie Karin Jäckel, die 85-Jährige. „Seit 60 Jahren wohne ich in Aue.“ Ursprünglich kommt sie aus Leipzig. Ihre Tanten haben in Berleburg gewohnt, dann sei sie dazu gezogen. „Ich habe geheiratet, drei Kinder bekommen, ein Haus gebaut. Jetzt bin ich seit 20 Jahren Witwe.“ Allein ist sie nicht: Karin Jäckel wohnt bei ihrer Tochter, aber der Besuch der Bürgerhaus-Mensa ist Pflicht – mittlerweile wird sie sogar von Tochter Uschi und deren Mann begleitet.
„Mittlere Alterung und Schrumpfung“
Als „Gemeinde mit mittlerer Alterung und Schrumpfung“ wird Bad Berleburg von der Bertelsmann-Stiftung klassifiziert. Klingt nicht so schlecht, ist aber auch entfernt von anderen Kategorien, die die Experten entwickelt haben, und die mit Schlagworten wie „stabil“ und „wachsend“ positiver klingen. In den eng beeinander liegenden Dörfern Aue und Wingeshausen wohnen aktuell etwa 2700 Menschen, 2008 waren es noch 150 Einwohner mehr. Bis zur nächsten Autobahnauffahrt dauert es von hier aus knapp eine Stunde. Es gibt viel Wald, viele Vereine, eine Grundschule, zwei Kindergärten, eine Arztpraxis und einen kleinen Supermarkt. Und mit dem Musikinstrumente-Hersteller Sonor und Busch-Jaeger-Elektro zwei große Arbeitgeber.
Aber es gab auch schon mehr Angebote: Schuhgeschäfte, mehrere Lebensmittelläden, eine Apotheke - sie sind weg. Zwei Männergesangsvereine sind inzwischen auch Geschichte. Helmut Keßler kennt die Herausforderung. „Der Dorfverein ist entstanden, um die Infrastruktur zu erhalten“, sagt der Vorsitzende. Ein Lehrschwimmbecken, das abgerissen werden sollte, konnte durch Einsatz der Einwohner und des Dorfvereins gerettet werden. Für den Radweg, der Aue nun mit dem Nachbarort Berghausen verbindet, hat der Dorfverein mit Unterstützung der Einwohner acht Jahre lang gekämpft. Auch für Flüchtlinge setzen sie sich ein: „Sie werden aktiv ins Dorf integriert. Sie verdienen ihr eigenes Geld und helfen bei den Mäharbeiten im Dorf“, erzählt Keßler. „Dadurch gewinnt man auch Bevölkerung.“ Das Leben in Aue-Wingeshausen steht exemplarisch für das in vielen, vielen anderen Dörfen im Sauerland und Siegen-Wittgenstein.
Offen für neue Ideen ist der Dorfverein immer und bietet die Möglichkeit neue Projekte unter dem Dach des Vereins umzusetzen. Von Seniorenschwimmen über Patchwork-Arbeiten bis zum gemeinsamen Stricken oder Volkslieder singen. „Das Dorf muss leben“, sagt Keßler. Aber: Wie in vielen Vereinen ist der Nachwuchs ein Problem. „Die jungen Leute, werden für die Ideen gebraucht. Aber die Jugend ist schwer zu erreichen“, sagt Keßler. Aktionen wie Grillabende blieben erfolglos.
Doch es gibt auch junge Leute im Vorstand des Vereins: Lena Fischer entschied sich nach der Geburt ihrer Tochter, aktiv im Dorf und in den Vereinen zu werden. Sie ist nun Geschäftsführerin des Dorfvereins. „So habe ich einen Anteil daran, dass alles hier vor Ort bleibt“, sagt sie. Außerdem hat sie sich dafür eingesetzt, dass jeder neugeborene Dorfbewohner mit einem Geschenk begrüßt wird: selbstgestrickte Socken von der Strickgruppe, ein gehäkelter Teddy und ein Lätzchen, das mit dem Namen bestickt ist. „Alle, die das Dorf unterstützen wollen, die hier leben, deren Kinder die Vereinsangebote wahrnehmen, rufe ich auf, auch aktiv zu werden, um das Dorf weiterzuentwickeln.“
Auch einige Kinder sind beim gemeinsamen Mittagessen dabei
Zum Essen in der Bürgerhaus-Mensa sind an diesem Tage nicht nur Senioren gekommen, sondern auch einige Kinder - wenn auch oft in Begleitung der Großeltern. Eine Ausnahme bildet Jennifer Roth mit ihrer dreijährigen Tochter Lena. „Es ist ein gutes Angebot, man trifft Leute, die man länger nicht gesehen hat“, sagt die 36-Jährige. „Vor allem für die Älteren ist es schön, die sich nicht so häufig sehen.“ Ein Vorteil: Der Kindergarten ist direkt nebenan. Roth ist in Aue aufgewachsen: „Es ist schön hier, wir haben ein Haus und sind hiergeblieben. Das Angebot ist auch für Jüngere gut“, sagt sie.
„Ich möchte nicht wieder in die Großstadt ziehen. Eine Freundin sagte neulich zu mir: ‚Bei euch ist immer was los, bei uns ist nichts mehr.‘ Und sie hat recht. “
Karin Jäckel, die währenddessen ihre Mahlzeit beendet, kann da anknüpfen. „Ich möchte nicht wieder in die Großstadt ziehen. Eine Freundin sagte neulich zu mir: ‚Bei euch ist immer was los, bei uns ist nichts mehr.‘ Und sie hat recht: Hier gibt es einen Chor, gemeinsames Stricken, Kaffeetrinken von der Kirche – man ist immer in Gesellschaft.“