Bad Berleburg. Ein Dorf kämpft um eine gut integrierte Familie, der die Abschiebung droht. Warum hier auch das neue Ausländerrecht der Ampel nicht helfen wird.

Sevine Muradi (28) hat den Dienstag bei ihrer Familie verbracht, bei ihrem Mann Elvin (31), bei den Kindern, zwei, fünf und sieben Jahre alt. Endlich wieder zusammen sein. Trotzdem habe sie immer wieder bitterlich geweint. „Sie konnte nicht schlafen und ist traumatisiert von den vergangenen Tagen. Ich musste sie minutenlang trösten“, so schildert es Helmut Kessler, der Mann, der die afghanische Familie als Vorsitzender des Dorfvereins betreut und derzeit täglich bei ihr ist.

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Ihr Fall bewegt nicht nur die Menschen in ihrer neuen Heimat, einem Dorf namens Aue-Wingeshausen bei Bad Berleburg. Ihr Fall löst Empörung in ganz NRW aus. Er hat es bis in die Spitze der Landespolitik geschafft – und er wirft Fragen auf zur Einwanderungspolitik in der Bundesrepublik.

Am Freitag vergangener Woche war Sevine Muradi bei einem Termin im Kreishaus in Siegen in Gewahrsam genommen worden. Kessler war dabei. Sie und ihre ganze Familie, seit 2018 in Deutschland und bislang geduldet, sollen abgeschoben werden. Eine Frau, die einen Ausbildungsvertrag zur Frisörin hat, ihr Mann, der die Möglichkeit hätte, in der Altenpflege zu arbeiten. Einer Branche, in der es seit Jahren in Deutschland an Kräften fehlt. Elvin spricht gut deutsch, die Kinder gehen in die Schule beziehungsweise in den Kindergarten. „Ich dachte, die, die sich integrieren, will man unterstützen“, sagt Kessler. „Was das angeht, sind die Muradis eine Vorzeigefamilie.“ Elvin habe sich im Dorfverein eingesetzt, habe Rasen gemäht.

Kein gültiger Pass vorhanden

Doch all das könnte nicht ausreichen. Um in Deutschland bleiben zu können, braucht Elvin einen gültigen Pass, den er nur mit dem Wehrdienst in Aserbaidschan bekäme. Doch zurück könne er nicht, sagt Kessler, dort ist er in Gefahr. Er habe in einem Pharmaunternehmen gearbeitet, in dem er sich weigerte, die günstigen Tabletten in die Verpackungen der teuren zu füllen – und dies angezeigt. Er habe deswegen fliehen müssen.

Die letzten Tage, so schildert es Kessler, waren die Hölle für die Familie. Sevine Muradi war von der einen auf die andere Sekunde von ihrer Familie getrennt worden und in die Abschiebeanstalt nach Ingelheim in die Pfalz gebracht worden. Dort habe sie, sagt Kessler, in einem fensterlosen Raum gesessen, zwei mal fünf Minuten am Tag Ausgang gehabt und zwei mal drei Minuten zum Telefonieren am Tag. Helmut Kessler hatte die Kinder zwischendurch einmal bei sich zu Hause. Sie schrien bitterlich nach der Mama, sagt er. Abschiebedatum für Familie Muradi: Montag, 14. Februar.

Abschiebung vorerst ausgesetzt – zumindest bis Donnerstag

Dass es dazu nicht kam, dass die Abschiebung vorerst bis Donnerstag ausgesetzt ist, wenn der Petitionsausschuss im Landtag tagt, liegt an der Intervention von verschiedenen Stellen. Ob es aber nach Donnerstag zu einem gänzlich anderen Szenario kommen wird, erscheint indes mehr als fraglich. Nach der geltenden Rechtslage hätte die Familie schon längst ausreisen müssen. Einen Asylantrag haben die Behörden abgelehnt – und gerichtlich wurde das inzwischen auch bestätigt. Eine Ausbildungsduldung wurde geprüft, ist aber nach der jetzigen Rechtslage nicht möglich, weil Vater Elvin keinen Pass hat. Andreas Müller (SPD), der Landrat des zuständigen Kreises Siegen-Wittgenstein, kann alles dezidiert erklären, warum seine Ausländerbehörde keinen Spielraum habe, die Abschiebung zu verhindern.

Eine Hoffnung könnte dagegen die neue liberalere Rechtslage sein, die die Ampel-Bundesregierung schaffen will. SPD, Grüne und FDP haben in ihrem Koalitionsvertrag ein „Chancenbleiberecht“ formuliert. Dass soll zum Beispiel Familien, die gut integriert sind und am Stichtag 1. Januar 2022 seit vier Jahren in Deutschland sind, ein dauerhaftes Bleiberecht ermöglichen. Doch abgesehen davon, dass die konkrete Gesetzesänderung noch gar nicht auf den Weg gebracht worden ist, erfüllen die Muradis auch diese neue Anforderung nicht. Die Familie ist erst seit August 2018 in Deutschland – es fehlen acht Monate, damit die Regel greift.

Vage Aussichten von den Ampel-Vertretern

Gibt es trotzdem eine Chance für die Familie, für die sich eine ganze Dorfgemeinschaft einsetzt? Sehr unsicher. Diese Redaktion hat mit dem zuständigen NRW-Integrationsminister Joachim Stamp (FDP), dem für Innen- und Rechtspolitik zuständigen Vize-Chef der SPD-Bundestagfraktion, Dirk Wiese aus Brilon, und mit der für Siegen-Wittgenstein zuständigen Grünen-Abgeordneten Laura Kraft gesprochen. Mit drei Vertretern der Ampel-Koalition also. Sie bekennen sich alle zu einem liberalen Ausländerrecht – konkrete Hoffnung können sie der Familie Muradi aber nicht machen, die Aussage bleiben vage (siehe Hintergrund weiter unten). SPD-Mann Dirk Wiese formuliert es noch am deutlichsten: „Irgendwo müssen wir eine Grenze ziehen.“

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Am Donnerstag entscheidet sich nun also wahrscheinlich das weitere Leben der Muradis bei der Sitzung des NRW-Petitionsausschusses, der empfehlen könnte, die Abschiebung noch einmal auszusetzen. Aber die Angst ist da, dass der Versuch scheitert, sich ein neues Leben aufzubauen, eines, das nicht von Angst und Ungewissheit bestimmt ist. „Die Hoffnung“, sagt Helmut Kessler, „stirbt zuletzt. Die Menschlichkeit muss siegen.“

>> HINTERGRUND: Bund oder Land am Drücker?

  • Sie alle bekennen sich zu dem, was im Koalitionsvertrag der Ampel-Regierung steht: Gut integrierte Ausländer, deren Statuts bislang ungeklärt ist, die sich von Duldung zu Duldung hangeln müssen und straffrei geblieben sind, die sollen eine dauerhafte Perspektive in Deutschland erhalten.
  • Doch konkret zum Fall der Familie Muradi, der das neue Ampel-Gesetz wohl nicht helfen wird, äußert sich von den drei angefragten Vertretern der Regierungs-Parteien nur die Grünen-Politikerin Laura Kraft: „Der Fall der Familie Muradi ist mir sehr nah gegangen. Es darf nicht sein, dass eine Familie sich von Duldung zu Duldung hangeln muss und dann vielleicht doch letztlich keine Chance auf ein Bleiberecht hat“, sagt die für den Kreis Siegen-Wittgenstein zuständige Grünen-Abgeordnete.
  • Eine Lösung hat sie indes auch nicht parat. Die gesetzgeberischen Änderungen seien noch nicht auf dem Weg: „Wir warten weiter auf die diesbezügliche Planungen der Bundesinnenministerin.“
  • Sie spielt aber den Ball in das Feld der NRW-Landesregierung. Die könne schon jetzt – wie etwa in Rheinland-Pfalz und Schleswig-Holstein geschehen – eine so genannte Vorgriffsregelung in Gang setzen. Damit müssten die Ausländerbehörden mit Blick auf die neuen gesetzlichen Regelungen keine Abschiebungen von Menschen durchführen, die von dem neuen Gesetz profitieren könnten.
  • Ähnlich sieht es auch SPD-Fraktionsvize Dirk Wiese: „Die Länder können diese Vorgriffsregelung schaffen, wie zum Beispiel in Rheinland-Pfalz längst passiert.“
  • NRW-Integrationsminister Joachim Stamp (FDP) will sich zum laufenden Verfahren Muradi nicht äußern. Sein Ministerium macht aber deutlich, dass es jetzt den Bund am Drücker sieht. „Sobald bundesgesetzliche Regelungen vorliegen“, werde NRW diese „im Sinne gut integrierter Ausländer umsetzen“. Ob Familie Muradi davon wird profitieren können, bleibt sehr ungewiss.