Arnsberg/Siegen. Marco Rafolt lebt seit Jahren mit Depressionen. Wie die Behandlung ihm geholfen hat - und wie schwierig der Weg zu Therapieplätzen ist.
„Wahrscheinlich war ich in der Jugend schon depressiv“, sagt Marco Rafolt rückblickend. Mit 32 Jahren kam dann die Diagnose: Eine chronische Depression. Heilung? Gibt es nicht. Man kann nur lernen, damit umzugehen. Erst, als eine ganze Reihe von Schicksalsschlägen seine Familie und seinen engsten Freundeskreis treffen, stellt er sich seinen negativen Gedanken. „Ich habe kurzfristig einen Platz in der Tagesklinik in Unna bekommen“, erinnert sich der Hüstener - eine Mischung aus Glück, Zufall und dem Engagement seiner Hausärztin haben wohl dazu geführt. Er selbst war kaum in der Lage, seinen eigenen Tagesablauf zu organisieren - arbeiten ging er zu dem Zeitpunkt schon eine Weile nicht mehr.
Einen Termin beim Psychotherapeuten zu bekommen, ist schwer. Ein Termin zum Erstgespräch kann noch relativ schnell vergeben werden, aber die Wartelisten sind lang, wenn es um einen dauerhaften Therapieplatz geht. Woran liegt das? „Die Langzeittherapie dauert durchschnittlich 60 Einheiten, also mindestens anderthalb Jahre, inklusive Urlauben und Krankheit von Patient und Therapeut“, erklärt Professor Dr. Tim Klucken. Der Leiter der Abteilung für Klinische Psychologie und Psychotherapie an der Universität Siegen weiß aus der Erfahrung: „So lange ist der Therapieplatz für andere gesperrt - Anamnesegespräche können aber zum Beispiel geführt werden, wenn ein Patient sich für eine Sitzung krank meldet oder im Urlaub ist.“
KVWL: Bedarf für Therapieplätze ist mehr als gedeckt
Der Bedarf für Psychotherapie ist offensichtlich groß - nicht nur, aber auch für Depressionen. Und mit Blick auf die langen Wartezeiten ist der Bedarf auch augenscheinlich größer als das Angebot. Was sagt die Kassenärztliche Vereinigung Westfalen-Lippe (KVWL) dazu? Die aktuellen Zahlen der KVWL aus November 2023 zeigten: Meschede sei mit einer freien Niederlassungsmöglichkeit der einzige Planungsbereich im ganz Westfalen-Lippe, der nicht 100 Prozent Versorgung bieten könne. Eine Überversorgung, so die KVWL, werde ab einem Versorgungsgrad von 110 Prozent ausgewiesen; eine Unterversorgung bei Fachärzten erst ab 50 Prozent oder weniger. Nach dieser Definition wären lediglich Meschede (98,8 Prozent) und Brilon (108,1 Prozent) nicht mit Psychotherapeuten überversorgt.
Für ländliche oder strukturschwache Teilgebiete können zusätzliche Niederlassungsmöglichkeiten durch das Landesgesundheitsministerium geschaffen werden, so die KVWL. „In diesem Jahr werden so 19,5 neue Sitze für Psychotherapeuten in ausgewählten Kommunen in Westfalen-Lippe geschaffen.“
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Anspruch auf einen Therapieplatz habe jeder, sagt Professor Dr. Tim Klucken. „Jeder Mensch darf selbst entscheiden, ob er eine Therapie beginnen möchte oder nicht“, erklärt er. „Aber wenn man das Gefühl hat, man kommt allein nicht mehr zurecht, sollte man den Weg zum Therapeuten suchen.“ Doch genau das, weiß Marco Rafolt als Betroffener, ist das schwierigste. „Ich brauche Hilfe - das ist der schwerste Satz der Welt.“
Klinikaufenthalt auf Facebook - für mehr Öffentlichkeit
„Ich hatte so fürchterliche Angst vor der Klinik“, erinnert er sich. Dann ging er rein, sagte, er wäre jetzt hier und bereit, seine Menschenrechte abzulegen. „Da sagte die Krankenschwester zu mir: ‚Legen Sie erstmal Ihre Jacke ab, und dann trinken Sie einen Kaffee‘. Da wusste ich, man kümmert sich um mich.“ Das Gefühl ist wichtig - denn auch die Chemie zwischen Patient und Therapeut muss stimmen.
Während seiner stationären Therapie führt er Tagebuch auf Facebook: Er berichtet von seinem Austausch mit den anderen Patienten in der „WG“, wie er es nennt. „Dafür habe ich auch viel negatives Feedback bekommen - warum ich denn mit den Depressionen so in die Öffentlichkeit gehe“, erinnert Marco Rafolt sich. „Aber das ist doch so wichtig: In unserer kleinen Therapiebubble wissen wir alle, wie es ist, krank zu sein. Aber wir müssen ja auch irgendwann in die Welt entlassen werden - und wenn die Welt nicht weiß, was Depressionen mit uns machen, ist uns auch nicht geholfen.“
Zu Beginn der Therapie, so Dr. Tim Klucken, sollte eine ausführliche ärztliche Diagnostik durchgeführt werden - denn eine Schilddrüsenunterfunktion kann ähnliche Symptome mit sich bringen. Seien andere Gründe ausgeschlossen, führe man weitere psychotherapeutische Sprechstunden, auch Erstgespräch oder Diagnostik-Gespräch. Das kann bis zu vier Sitzungen dauern, währenddessen wird der Bedarf für eine therapeutische Behandlung ermittelt.
Das sind Depressionen
Eine so genannte unipolare Depression gibt es in sechs verschiedenen Verläufen und drei gesicherten Schweregraden. Unipolar bedeutet, dass die depressive Episode ohne weitere Begleitkrankheiten wie zum Beispiel einer Angststörung einhergeht.
Die Hauptsymptome sind eine gedrückte Stimmung, Interessenverlust und Freudlosigkeit sowie Antriebsmangel und erhöhte Ermüdbarkeit - immer im Vergleich zum nicht-depressiven Status, immer anhaltend für zwei Wochen oder länger. Zusatzsymptome sind: Sinkende Konzentration und Aufmerksamkeit, vermindertes Selbstwertgefühl und Selbstvertrauen, Schuldgefühle, innerliche Ruhe oder Hemmung, Hoffnungslosigkeit, Schlaf- und Apetitstörungen oder Suizidgedanken oder sogar -handlungen.
Eine leichte Depression zeigt sich, wenn zwei oder mehr Hauptsymptome mit einem Zusatzsymptom festgestellt werden, bei drei oder mehr Zusatzsymptomen spricht man von einer mittelgradigen Depression, bei allen drei Hauptsymptomen und mindestens fünf Zusatzsymptomen von einer schweren Depression.
Eine depressive Episode kann mit vollständiger Remission enden, der Patient wird also wieder symptomfrei, oder mit unvollständiger Remission - dann bleibt eine Restsymptomatik bestehen. Dadurch entsteht auch ein höheres Risiko für eine wiederkehrende Depression oder eine Dysthymie - das bedeutet, dass dauerhaft in geringem Maße depressive Symptome auftreten, die aber nicht ausgeprägt genug für eine Diagnose sind. Wenn dann eine depressive Episode diagnostiziert wird, spricht man von einer „double depression“. Erst, wenn eine depressive Episode länger als zwei Jahre andauert, spricht man von einer chronifizierten Depression; meistens, wenn im Volksmund von einer chronischen Depression gesprochen wird, redet man von einer wiederkehrenden depressiven Episode, einer Dysthymie oder einer „double depression“, so Psychologieprofessor Dr. Tim Klucken von der Universität Siegen.
Die Therapie, so Marco Rafolt, war schwierig für ihn - sowohl der stationäre Aufenthalt als auch die Langzeittherapie im Anschluss. „Ich habe alles hinterfragt, was die Therapeuten mich gefragt haben“, erinnert er sich. Außerdem hat es eine Weile gedauert, bis die richtige Medikamentenzusammenstellung für ihn gefunden war. Mittlerweile nimmt Marco Rafolt dauerhaft ein Medikament, das bei seinem ADS hilft - eine Nebendiagnose zu der Depression, die erst später in seiner Therapie gefunden wurde.
Man muss lernen, sich selbst zu verstehen
Die Antidepressiva, die ihm in den schwierigen Zeiten vor zehn Jahren sehr geholfen haben, hat er zwischendurch abgesetzt - erst nach einer Magenverkleinerung im vergangenen Jahr begann er wieder, sie zu nehmen. „Ich habe die psychische Komponente deutlich unterschätzt“, gibt er zu. Bevor er wieder in ein Loch fallen konnte, ließ er sich wieder Antidepressiva verschreiben. Insgesamt kommt er aber gut mit seinen Depressionen zurecht. „Seit der Therapie 2015 war ich keinen Tag mehr wegen Depressionen krank“, sagt er stolz. Wenn eine schlechte Phase kommt, weiß er, mit was er sich helfen kann. „Man lernt, die kleinen Dinge im Leben zu genießen.“
Wichtig zu wissen: Unbehandelte Depressionen können zum Teil schwere körperliche Folgen haben. Sie können Diabetes oder Asthma hervorrufen, aber auch Herz und Kreislauf belasten. „Unbehandelte Krankheiten haben Konsequenzen“, sagt Professor Dr. Tim Klucken. „Bei schwerwiegenden Erkrankungen käme niemand darauf, keine Medikamente zu nehmen - und bei einem gebrochenen Bein wären Wartezeiten von sechs Monaten und mehr vor der Behandlung undenkbar.“