Gliwice (Polen). Sauerländer Autozulieferer Kirchhoff hat sein größtes Werk in Polen. Was es für deutsche Unternehmen dort leichter macht als zu Hause.
Immer schneller fließen Milliarden Investitionssummen aus deutschen Unternehmen ins Ausland. Die Anreize in den jeweiligen Ländern sind unterschiedlich. Das europäische Nachbarland Polen reizt seit langem mit Steuerbefreiungen, weniger Bürokratie und hoch motivierten Mitarbeitern.
Wenn Polen richtig feiern, dann reicht ein Vier-Gänge-Menü nicht immer aus. Es scheint sinnbildlich für den Hunger nach Erfolg der europäischen Nachbarn zu sein, was der Sauerländer Unternehmer Arndt G. Kirchhoff beim Abendessen im 27. Stock des Hotels Courtyard Marriott in Katowice zwischen Rote-Beete-Suppe und Hauptgericht beschreibt. Polen lehnen sich nach dem ersten Absacker am späten Abend nicht genüsslich wie müde zurück, sondern tischen erneut auf, erklärt Kirchhoff einer Delegation deutscher Journalisten, denen er am Nachmittag eine Produktion im nahegelegenen Gliwice gezeigt hat.
Es mag anekdotisch klingen und ist keineswegs der einzige Faktor, warum deutsche Unternehmer und zunehmend auch der Mittelstand lieber über Investitionen im Ausland als am Standort Deutschland nachdenken, aber: „Die Polen sind weniger satt als wir“, beschreibt der nordrhein-westfälische Arbeitgeberpräsident (Unternehmer NRW) seine Erfahrungen in den vergangenen Jahren.
Anhaltendes Wohlstandsstreben im Nachbarland
Kirchhoff erlebt die polnische Bevölkerung als enorm ehrgeizig, veränderungsbereiter als die Deutschen, eben schlicht hungriger nach Aufstieg: „Die Menschen hier sind noch nicht fertig.“ Wohlstandsstreben im Nachbarland.
Relativ gesehen zu den Lebenshaltungskosten verdienten die Beschäftigten in Polen nicht weniger als Kollegen in vergleichbarer Position in Iserlohn oder Attendorn. Absolut liegen die Gehälter für Ingenieure aber lediglich bei rund einem Drittel. Krankenstände in Polen seien ähnlich niedrig wie die Erwerbslosigkeit im Land, die bei knapp drei Prozent liegt, was nahezu Vollbeschäftigung bedeutet.
Paradiesische Steuerzustände für Unternehmen, die investieren
Zunehmend fließt Geld aus deutschen Unternehmen ins Ausland. Die Gründe dafür: Weniger Bürokratie, geringere Produktionskosten (Löhne, Energie), aber auch weniger staatliche Abgaben. Im Vergleich zu Deutschland ist die durchschnittliche steuerliche Belastung für Unternehmen im Ausland häufig deutlich geringer. Laut Leibniz Institut für Europäische Wirtschaftsforschung in Mannheim liegt sie in Deutschland bei 28,5 Prozent. Nur Spanien (29 Prozent) und Japan (34,1 Prozent) belasten Unternehmen noch stärker. In Polen liegt der Durchschnittswert bei gerade einmal 12,9 Prozent.
Gliwice zum größten Werk der Kirchhoff-Gruppe gewachsen
Polen hat nach der Demokratisierung 1990 Sonderwirtschaftszonen ausgewiesen. Auch Gliwice nahe Katowice im Süden Polens liegt in einer solchen Zone. Die Systematik: Wer, wie die Kirchhoff-Gruppe, kontinuierlich investiert und eine vorgegebene Zahl von Arbeitsplätzen schafft, bleibt nahezu unbelastet von staatlichen Abgaben. „Wir sind jetzt 19 Jahre hier am Standort Gliwice und mussten, bis auf geringe lokale Abgaben, bis heute noch keine Unternehmenssteuer zahlen“, erklärt Arndt Kirchhoff. Die Sauerländer siedelten sich nahe einem großen Opelwerk (heute Stellantis) als dessen Zulieferer für Karosserieteile an. Man begann dort 2005 auf einer Fläche von 4000 Quadratmetern mit einhundert Beschäftigten – und wuchs kontinuierlich Jahr für Jahr immer so, dass die Vorgaben für die steuerliche Entlastung erfüllt werden konnten. Alles EU-konform, heißt es. Bis heute ist das Werk in Gliwice mit knapp 2000 Beschäftigten in zwei Fabriken auf einer Fläche von mehr als 54.000 Quadratmetern zum größten Unternehmens-Standort gewachsen.
„Tax Holiday“ bis heute
„Tax Holiday“ nennt sich das Anreizmodell, bei dem es eine zeitlich begrenzte Steuerbefreiung gibt. So funktioniert im Prinzip auch der Inflation Reduction Act (IRA), den US-Präsident Joe Biden 2022 initiiert hat, um die Wirtschaft in den USA anzukurbeln, ohne Subventionen aus dem Haushalt zahlen zu müssen. Erfolgreich.
Immer mehr deutsche Firmen investieren lieber im Ausland als in deutsche Standorte. Die Wirtschaft beklagt, dass es seit 15 Jahren keine Unternehmenssteuerreform in Deutschland gegeben hat. „Wir haben mit Bundesfinanzminister Lindner darüber mehrfach gesprochen“, sagt NRW-Unternehmerpräsident Kirchhoff, der im Schnitt einmal pro Woche Gespräche in der Bundeshauptstadt führe. Der FDP-Minister Christian Lindner verstehe das Anliegen wohl, habe nach eigenen Aussagen auch Vorschläge. Die, vermutet Kirchhoff, lägen vermutlich noch auf dem Ampel-Einigungstisch. Dabei wüssten Berlin und auch Brüssel sehr wohl, dass sie schneller entscheiden müssen.
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Von Deindustrialisierung mag Kirchhoff nicht reden, jedenfalls nimmt er den beängstigenden Begriff nicht in den Mund. Nicht zum ersten Mal appelliert der Präsident allerdings, Themen wie die Energiewende nicht im Blindflug vorbei an Menschen und Wirtschaft durchzupeitschen, Zeitpläne den Realitäten anzupassen: „Wir müssen die Energiewende schaffen, aber sie muss für unsere Kunden bezahlbar bleiben, sonst verlieren wir hier die Jobs.“ Gemeint ist der Standort Deutschland.
Nicht alles im Ausland ist nach dem Geschmack des Familienunternehmers. Die USA beispielsweise seien zwar top bei digitalen Themen, aber beim Industrie-Know-how fehle es an Basisbildung. Kein Vergleich zur dualen Berufsausbildung in Deutschland. Polen sei da deutlich näher am Bildungsstandard der Deutschen. Das Sauerländer Unternehmen beschäftigt im Management an seinen Auslandsstandorten in der Regel Einheimische, jedenfalls werden keine besser wissenden Sauerländer eingeflogen. Die Folge: Auch in der Spitze herrsche hohe Motivation.
Der Führungsstil in Polen sei anders, hierarchischer als in Iserlohn und Attendorn, wo teamorientierter gearbeitet werde. Vorgaben aus dem Sauerland bleiben dennoch aus – schließlich läuft es gut, wie es ist.
Wo Kirchhoff für Standort Deutschland Chancen sieht
Kirchhoff sieht im deutschen Modell allerdings einen Vorteil bei der Entwicklung von Innovationen, zudem entspricht Augenhöhe eher seinem Verständnis von gutem Miteinander. „Wir müssen grundsätzlich eine Produktgeneration Vorsprung halten.“ Nur ist das, was den Standort Deutschland so lange ausgezeichnet hat, kein Selbstläufer mehr. Forschung und Entwicklung finden rund um den Globus statt. Dennoch traut Kirchhoff Deutschland hier auch in Zukunft einiges zu – nicht nur seinen eigenen Leuten.
Jubiläumsfeier am Wochenende nahe der ukrainischen Grenze
Das Unternehmen startete seine Internationalisierung 1993 mit der Übernahme eines Werks in Portugal. Bereits 1997 wurde ein Standort in Mexiko gegründet, 1999 startete man in Polen. Heute lässt Kirchhoff Automotive in 27 Fabriken in elf Ländern auf drei Kontinenten fertigen, beschäftigt mehr als 8000 Menschen im Ausland, davon allein in Polen rund 3000 in Gliwice, Mielec (rund einhundert Kilometer von der ukrainischen Grenze entfernt) und einem 2016 gegründeten, kleineren Werk in Gniezno östlich von Poznan (Posen).
Am kommenden Wochenende ist bei Kirchhoff Automotive in Polen ein Treffen in Mielec angesagt. 3000 Beschäftigte von allen drei Standorten werden das 25-jährige Jubiläum des ersten Kirchhoff-Standorts im Nachbarland ausgiebig feiern, so viel scheint sicher. Es dürfte eine sehr große Party werden. Arndt Kirchhoff wird dabei sein. Ausreichend Kondition bringt der inzwischen 69-Jährige anscheinend noch locker mit.