Hagen/Dortmund. AOK-Chefermittler Jürgen Mosler spürt auch in Südwestfalen falsche Abrechnungen und erfundene Behandlungen auf. Es geht um Millionen.

So richtig viel kann den Mann nicht mehr überraschen, zu lange schon macht er den Job. Einerseits. Andererseits sagt Dr. Jürgen Mosler: „Teilweise ist man erschrocken, was man da feststellt.“ Mosler ist Chefermittler bei der Krankenkasse AOK. Er ist der, der den Ärzten, Apothekern, Pflegediensten und Physiotherapeuten auch in Südwestfalen auf die Finger und in die Abrechnungen schaut – mit Erfolg.

Was er findet: zum Beispiel manipulierte Abrechnungen, gefälschte Rezepte, erfundene Behandlungen. „Manchmal“, sagt er, „scheint jede Scham zu fehlen.“ In einem Fall, der in Westfalen-Lippe spielt, seien einem Kind angeblich 18 Füllungen an einem Tag von einem Zahnarzt gemacht worden. Mosler atmet entgeistert durch und fügt an, dass so ein Kindergebiss ja nur 20 Zähne habe.

1300 Fälle von Fehlverhalten im Wert von 3,8 Millionen Euro

Mosler, gebürtiger Dortmunder, Anwalt von Beruf, ist der Kopf eines mittlerweile achtköpfigen Ermittlerteams. Bei ihm laufen die Fäden zusammen. Er entscheidet in seinem Büro in Dortmund, wie mit den Fällen verfahren werden soll. Allein in den vergangenen zwei Jahren spürten die Praxis-Detektive 1300 Fälle von Betrug und Fehlverhalten im Gebiet der AOK NordWest (Westfalen-Lippe, Schleswig-Holstein) auf. Insgesamt holten sie der Allgemeinheit auf diese Weise 3,8 Millionen Euro zurück. Geld, das sonst in dunklen Kanälen versickert wäre. Stolz? Nein, das Wort mag Mosler nicht verwenden. „Wir sind froh um jeden Fall, den wir entdecken.“

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Ein Klassiker bei den Betrugsfällen: gefälschte Abrechnungen bei Pflegediensten. Mosler sagt, dass er nicht zu viele Details, keine genauen Orte und Schadenshöhen nennen dürfe, denn das Thema sei sensibel. Es gehe um Straftaten, Staatsanwaltschaften seien involviert. Aber Fälle wie diesen gäbe es auch in Südwestfalen: Da ergeben die Recherchen, dass die Pflegerin, die Mosler – nur, um es anschaulich zu machen – Susi nennt, plötzlich über erstaunliche Fähigkeiten verfügt. „Die Susi ist um 9 Uhr morgens nicht nur bei einem Patienten, sondern bei vier weiteren unterschiedlichen Patienten an vier unterschiedlichen Orten“, sagt Mosler.

Beliebte Masche im Pflegedienst: Beamen wie bei Star Trek

Eine bekannte Masche sei das, die sogar einen eigenen Namen hat: Beamen. Wie bei Star Trek. Die vier weiteren Patienten würden zwar meist ebenfalls vom entsprechenden Pflegedienst besucht, allerdings von Personal, das nicht ausreichend qualifiziert sei, was wiederum den vertraglichen Vereinbarungen mit der Krankenkasse widerspreche und daher nicht statthaft sei.

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„Also haben Pflegedienste den bösen Trick erfunden, alle Leistungsnachweise von der Susi unterschreiben zu lassen, denn die hat ja alle Qualifikationen“, sagt Mosler. Führe aber dazu, dass unqualifiziertes Personal auf Patienten losgelassen werde. „Gerade zum Beispiel bei Intensivpflegepatienten, die beatmet werden müssen, ist das nicht nur Betrug, sondern auch noch gefährlich.“

Wir wissen morgens nicht, was der Tag bringen wird. Das macht den Reiz aus.
Dr. Jürgen Mosler, Chefermittler der AOK NordWest

Im ersten Moment falle das gar nicht unbedingt auf. Aber Mosler und sein Team erhalten Hinweise: unter anderem aus der eigenen Rechnungsprüfungsabteilung, von Bürgerinnen und Bürgern, von Versicherten, von ehemaligen Mitarbeitern in den Praxen, von Konkurrenten der späteren Verdächtigen. Diesen Hinweisen gehen sie nach, recherchieren, sichten Dokumente. Tausende Aktenordner wandern durch Moslers Hände. Die Krankenkassen kooperieren untereinander. Sie können sich dann zum Beispiel alle Leistungsnachweise des betreffenden Pflegedienstes in einem bestimmten Quartal anschauen. Da wird dann sichtbar, wo sich die Susi überall hingebeamt hat.

Fehlverhalten in der Medizin

Seit mittlerweile rund 20 Jahren sind alle gesetzlichen Kranken- und Pflegekassen per Gesetz verpflichtet, in ihren Organisationen Stellen zur Bekämpfung von Fehlverhalten im Gesundheitswesen einzurichten. Das Team der AOK NordWest umfasst mittlerweile insgesamt acht Ermittler, die laut Chefermittler Dr. Jürgen Mosler weisungsunabhängig im Unternehmen agieren. Dies soll verhindern, dass Einflussnahmen eine objektive Ermittlungsarbeit beeinträchtigen oder verhindern.

Auch der Verband der Ersatzkassen vermeldet Erfolge im Kampf gegen Abrechnungsbetrug: Sie haben im vergangenen Jahr deutlich mehr als eine halbe Million Euro wegen falscher Abrechnungen und anderer Manipulationen zurückerhalten. 40 Fälle wurden 2023 in NRW untersucht und abgeschlossen. Der Verdacht der Manipulation bestätigte sich in 33 Fällen. Bei sechs der bestätigten Fälle wurde die Staatsanwaltschaft eingeschaltet, da sich zudem der Verdacht auf eine strafbare Handlung ergeben hat. Im Zentrum der Überprüfungen standen ambulante Pflegedienste.

Anderes Beispiel: Physiotherapeuten. In einer Praxis in Westfalen-Lippe sei eine große Menge an Leistungen wie manuelle Therapie und Lymphdrainage abgerechnet worden. Behandlungen, für die es Zusatzqualifikationen brauche, die in der entsprechenden Praxis aber nur der Chef besessen habe. Um das zu leisten, hätte er vermutlich rund um die Uhr Patienten kneten müssen. Der entstandene Schaden von rund 160.000 Euro wurde zurückgefordert.

Verlust der Zulassung droht

Seit 2002 macht Mosler den Job als Chefermittler, schon vorher war er mit Ärzte-Betrügereien bei der AOK beschäftigt. Er betont, dass es wenige schwarze Schafe seien, die den Schaden verursachten. Und dass von den jetzt mehr als 1300 Fällen nur 100 zu einer Strafanzeige geführt hätten. Denn manches Fehlverhalten geschehe aus Unwissenheit, aus Nachlässigkeit. Diese Fälle gingen nicht an die Staatsanwaltschaft. Anders sei das bei grober Fahrlässigkeit und vor allem vorsätzlichem Betrug. Entsteht ein Schaden, holen Mosler und Co. das Geld zurück. In manchmal zähen Verhandlungen mit Anwälten – oder eben durch Strafanzeigen. Im schlimmsten Fall können Betrüger ihre staatliche Zulassung verlieren.

„Wir wissen morgens nicht, was der Tag bringen wird. Das macht den Reiz aus“, sagt er. Es ist wie bei Polizei und Verbrechern auch: immer neue Maschen, immer neue Methoden, immer neue Schlupflöcher. Die Betrüger haben naturgemäß einen Schritt Vorsprung – aber die Ermittler sind ihnen auf den Fersen.