Siegen. Der Schauspieler hat kein Geld für eine lebenswichtige OP. Kein Einzelfall. Wie Betroffenen geholfen wird? Ein Beispiel aus Siegen.

Das Schicksal von Schauspieler Heinz Hoenig („Der König von St. Pauli“) hat zu Diskussionen über die seit 2009 geltende allgemeine Krankenversicherungspflicht in Deutschland geführt: Weil der 72-Jährige nicht krankenversichert ist, wird derzeit mithilfe von Spenden Geld für eine lebenserhaltende Operation gesammelt.

Seine Ehefrau Annika Kärsten-Hoenig sagte jetzt dem „Spiegel“, dass sie erst 2021, zwei Jahre nach der Hochzeit, erfahren habe, dass ihr berühmter Ehemann nicht krankenversichert ist. Der Darsteller sei lange privat versichert gewesen, hätte mit seiner „kleinen Rente“ die Beiträge eines Tages nicht mehr zahlen können. Die Aufnahme in die gesetzliche Versicherung sei ihm verweigert worden.

Annika Kärsten-Hoenig sagte dem Nachrichtenmagazin auch, dass sie mit der Schilderung der fehlenden Krankenversicherung bewusst in die Öffentlichkeit gegangen sei, um etwas zu bewegen: Nach ihrer Auffassung ist es ein „Unding“, dass Zehntausende Bundesbürger nicht krankenversichert seien: „Wir brauchen eine Bürgerversicherung, wirklich für jeden.“

Beim Ehrenamtsprojekt „Malteser Medizin für Menschen ohne Krankenversicherung (MMM)“ in Siegen - eine in Südwestfalen einzigartige Einrichtung - kennt man solche Fälle wie den von Heinz Hoenig. Zum Beispiel den des Handwerkes, der schweren Herzens seinen Betrieb schließen musste. Eine chronische Erkrankung hatte ihn zur Aufgabe gezwungen. Während die Einnahmen wegfielen, liefen die Ausgaben für seine private Krankenversicherung (PKV) weiter.

Schnell konnte der Selbstständige mit deutschem Pass die Beiträge nicht mehr zahlen. Die Krankenkasse ließ einige Zeit verstreichen, bis sie die erste Mahnung verschickte – eine Nachforderung im deutlich fünfstelligen Bereich. Viel zu viel, angesichts seiner Schuldenlast.

Er flog aus der PKV und hätte nur die Chance zur Rückkehr gehabt, wenn er die Rückstände begleicht. Doch das schafft er nicht, zumal er Sorge hat, dass sein kleines Haus draufgehen könnte, wenn er sich für Unterstützungsleistungen an eine Behörde wendet, Also ist er weiter nicht krankenversichert – auch wenn es in Deutschland seit dem 1. Januar 2009 eine allgemeine Krankenversicherungspflicht gibt.

„Das soziale Netz hat manchmal riesengroße Lücken“, sagt Nicola Mühlhahn, wenn Menschen ihr gegenüber überrascht sind, dass es im lange Zeit weltweit gerühmten deutschen Gesundheitssystem Bürgerinnen und Bürger ohne Krankenversicherungsschutz gibt. Nicola Mühlhahn ist Koordinatorin beim Ehrenamtsprojekt „Malteser Medizin für Menschen ohne Krankenversicherung (MMM)“ in Siegen.

Nach Angaben des Statistischen Bundesamts sollen mindestens 60.000 Menschen in Deutschland nicht krankenversichert sein. Gesundheitsökonomen halten die Dunkelziffer für deutlich höher. Aus ihrer Sicht könnten es gut und gerne zwischen einer halben und einer Million Menschen sein.

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Nicola Mühlhahn ist Krankenschwester und findet ihre Erfüllung darin, „dass ich den eigenen Beruf dazu nutzen kann, auch in meiner Freizeit Menschen zu helfen“. Die Hilfe geschieht im Katholischen Pfarrheim St. Marien in der Siegener Innenstadt, wo das Ehrenamtsprojekt „Malteser Medizin für Menschen ohne Krankenversicherung (MMM)“ ein Behandlungszimmer und einen Warteraum eingerichtet hat.

Jeden Donnerstag Sprechstunde

Zwei Schreibtische, Stühle, eine Liege, ein Verbandswagen, Infusionsständer sowie ein Ultraschall- und ein EKG-Gerät finden sich im Behandlungszimmer. Mehr nicht. Nur das Nötigste. Es geht um die Grundversorgung für Patienten, die nicht krankenversichert sind und sich eine ärztliche Untersuchung oder Beratung nicht leisten können. Jeden Donnerstag von 18 bis 20 Uhr findet die kostenlose Sprechstunde für Erwachsene und Kinder statt. „Es ist ein kleiner Tropfen“, sagt Nicola Mühlhahn, „aber für die, die uns aufsuchen, eine wertvolle Sache.“

19 Ehrenamtliche

Dr. Felizitas Hoferichter hat im Behandlungszimmer neben Nicola Mühlhahn Platz genommen. Die Allgemeinmedizinerin aus Siegen ist eine von fünf Ärztinnen und Ärzten, die zusammen mit insgesamt 14 medizinischen Fachangestellten, Pflegekräften und Verwaltungsfachangestellten das im Jahr 2016 gegründete Angebot ehrenamtlich am Laufen halten. „Ich halte es für ein Unding“, sagt die Hausärztin, „dass so etwas in Deutschland möglich ist.“ Also dass es Menschen gibt, die nicht krankenversichert sind. Für sie ist es ein Stück soziale Gerechtigkeit, etwas für jene zu tun, die sich unter dem Radar des Gesundheitssystems bewegen, „ihnen ein Stück Menschenwürde zu geben: Wir dürfen sie nicht im Regen stehen lassen“.

Die Hausärztin Dr. Felizitas Hoferichter (rechts) und die Krankenschwester Nicola Mühlhahn (im Bild neben einem Ultraschallgerät) sind die Motoren des Ehrenamtsprojekts „Malteser Medizin für Menschen ohne Krankenversicherung“ in Siegen.
Die Hausärztin Dr. Felizitas Hoferichter (rechts) und die Krankenschwester Nicola Mühlhahn (im Bild neben einem Ultraschallgerät) sind die Motoren des Ehrenamtsprojekts „Malteser Medizin für Menschen ohne Krankenversicherung“ in Siegen. © Westfalenpost | Rolf Hansmann

Die, die sonst im Regen stehen würden, sind: Selbstständige, denen nach Insolvenzen oder Einkommensausfällen die Krankenversicherungsbeiträge über den Kopf gewachsen sind; Rentner, die die PKV-Beiträge nicht mehr bezahlen, aber nicht zur gesetzlichen Krankenversicherung wechseln können, weil sie eine bestimmte Altersgrenze überschritten haben; Wohnungs- und Obdachlose; Kassenpatienten, die eine Zeitlang nicht krankenversichert waren - zum Beispiel durch einen längeren Auslandsaufenthalt - und die für eine Rückkehr notwendigen Beiträge nicht nachzahlen können. Hinzu kommen Geflüchtete, die auf ihren Asylstatus warten, Bürger aus EU-Mitgliedsländern, die über keinen sozialversicherungspflichtigen Job verfügen, Menschen aus Drittstaaten, die keinen gültigen Aufenthaltsstatus besitzen oder deren Auslandsversicherung während eines Besuchs abgelaufen ist. Und es gibt offenbar auch Selbstständige mit geringen Einkünften, die sich bei der Fragen „Haus und Mobilität oder Krankenversicherung?“ gegen den Versicherungsschutz entscheiden.

Erstuntersuchung und Notfallversorgung

Patienten erhalten in der Siegener Ambulanz eine Erstuntersuchung und eine Notfallversorgung bei plötzlichen Erkrankungen, Verletzungen oder bei Schwangerschaften. „Meist kommen die Patienten sehr spät. Wenn es wirklich nicht mehr geht“, sagt Nicola Mühlhahn.

Im vergangenen Jahr wurden während der Donnerstags-Sprechstunde insgesamt 100 Behandlungen durchgeführt, die Zahl der Patienten belief sich auf 56. Die Krankheitsbilder entsprachen denen in einer ganz normalen Arztpraxis: Diabetes, Atemwegs- und Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Unfallfolgen, Hals-Nasen-Ohren- und Infektionskrankheiten, usw. „Es kommen auch Menschen zu uns, die unter akuten Zahnschmerzen leiden“, erklärt Felizitas Hoferichter das Prinzip der schnellen und unbürokratischen Grundversorgung: „Wir können ihnen helfen, die Schmerzen zu lindern. Eine Brücke ist aber nicht drin.“

Für die weitere Behandlung kann die Siegener Einrichtung für Menschen ohne Krankenversicherung auf ein Kooperationsnetzwerk von Fachärzten, Kliniken, Laboren, Hebammen, Therapie- und Diagnostikeinrichtungen und Apotheken zurückgreifen. „Wir versuchen, in jedem Einzelfall Lösungen zu finden“, beschreibt Felizitas Hoferichter.

Bei der Vermittlung der Patienten und der Frage der Finanzierung ist viel Organisationstalent gefragt. Auch bei den Versuchen, die Patienten als Beitragszahler zurück in eine Krankenversicherung zu bekommen. „Was wir hier machen, ist Sozialmedizin im besten Sinne“, sagt die Siegener Hausärztin und appelliert an die Politik: „Es müsste von dieser Seite mehr getan werden, damit auch wirklich jeder krankenversichert ist. Eigentlich müsste es doch so sein, dass unsere Sprechstunde am Donnerstag überflüssig wäre.“

19 Standorte im Bundesgebiet

Die Malteser bieten an 19 Standorten in Deutschland Behandlungen für Menschen ohne Krankenversicherung an, auf Wunsch auch völlig anonym. Das Projekt finanziert sich ausschließlich aus Spenden.

Die Ambulanz in Siegen mit dem Einzugsgebiet Kreis Siegen-Wittgenstein, Sauerland und das angrenzende Hessen ist von der Patientenzahl her eine der kleinsten im Bundesgebiet. „Kollegen aus Großstädten sagen uns schon mal, dass bei uns die Welt noch in Ordnung ist“, lacht Nicola Mühlhahn. Dennoch: „Jeder Einzelne, der zu uns kommt, braucht uns.“

Erfreut und dankbar

Zum Beispiel der Patient, der sich seit dem Start 2016 schon öfter in den Räumen der katholischen Kirchengemeinde hat blicken lassen: „Man sieht ihm die Freude und Dankbarkeit an“, sagt Nicola Mühlhahn, „wenn wir ihn mit Namen anreden und ihn fragen, wie es ihm geht.“

Spendenkonto: IBAN: DE72 3706 0120 1201 2169 38; BIC: GENODED1PA7, Betreff: MMM Siegen