Hagen. Siegfried Kasperek ist Chirurg in Hagen und lebt in Lüdenscheid. Jeden Tag steht er im Stau, oft kommt er gar nicht mehr nach Hause.
Zusätzlich zu seinem anspruchsvollen Beruf hat er einen anspruchsvollen Dienstweg: Dr. Siegfried Kasperek ist Chirurg am Agaplesion Klinikum in Hagen und wohnt in Lüdenscheid. Der 62-Jährige pendelt jeden Tag durch das Chaos, das die gesperrte Autobahn 45 hervorruft. Seit etwas mehr als zwei Jahren ist das der Fall, etwas mehr als zwei Jahre dauert es planmäßig noch, bis die neue Rahmedetalbrücke teilweise befahren werden kann. Was sagt einer wie er, der fünf Tage die Woche fahren muss, der jeden Tag im Stau steht, zur Halbzeit des Brückendesasters? Schon Routine oder immer noch Wut?
Kann man sich an den Ausnahmezustand auf den Straßen gewöhnen?
Es ist ja beim Menschen oft so, dass er sich an die Umstände gewöhnt. Das heißt: Eine gewisse Routine tritt ein. Aber der Ärger flammt natürlich immer wieder auf.
In welchen Situationen?
Vor allem dann, wenn ein gewisser Termindruck herrscht, wenn man als verabredungsgemäß am Abend irgendwo sein will oder muss – sich auf der Straße aber nichts bewegt. Dann steht man da auf der Ausweichroute im Volmetal und denkt die ganze Zeit: Ich könnte längst zu Hause sein, ich könnte längst zu Hause sein, ich könnte wirklich längst zu Hause sein. Gerade die Rückfahrt ist sehr anstrengend: den Tag in den Knochen, dann die vielen Autos, dieser Stop-and-Go-Verkehr… Ich stelle auch Verhaltensweisen an mir fest, die ich sonst nicht von mir kenne.
Welche sind das?
Ich bin eigentlich sehr ausgeglichen, aber ich erwische mich schon dabei, dass ich angespannter bin im Auto – und lauter. Keine Sorge, ich drohe niemandem mit der geballten Faust (lacht). Aber ich merke, dass ich ungeduldig bin, dass ich mich mehr ärgere über andere und schonmal vor mich hin dröhne: „Nun fahr doch endlich“. So etwas zum Beispiel.
Wie nehmen Sie die anderen Verkehrsteilnehmer wahr?
Die Aggressivität auf diesen Strecken wächst, weil die Leute so genervt sind. Man erkennt es in ihren Gesichtern, wie angespannt sie sind. Es wird gehupt, geschimpft – und die Fahrweise ist teilweise rücksichtslos, um ein paar Minuten der verlorenen Zeit wieder herauszuholen.
Wie viel zusätzliche Zeit verbringen Sie durch die Sperrung auf der Straße?
Ich bin früher etwa 30 Minuten gefahren, zu Beginn der Sperrung verdoppelte sich meine Fahrtzeit. Mittlerweile brauche ich regelmäßig 20 bis 25 Minuten länger als früher. Das hat durchaus Folgen.
Was meinen Sie genau?
Als Leitender Oberarzt habe ich sechs Mal pro Monat Bereitschaftsdienst – und zwar 24 Stunden am Stück. In dieser Zeit muss gewährleistet sein, dass ich bei Notfällen innerhalb von 30 Minuten im Krankenhaus bin. Diese Frist kann ich nicht mehr einhalten, daher kann ich die Bereitschaftsdienste nicht zu Hause verbringen, sondern bleibe jetzt auch in dieser Zeit in Hagen. Ich besuche dann und wann Freunde, gehe spazieren, erledige etwas. Wir haben in der Klinik auch ein Bereitschaftszimmer, in dem man die Zeit verbringen kann, aber das ist definitiv viel Lebensqualität, die fehlt. Es ist erstmal nur eine Brücke, aber sie betrifft viele, viele Menschen bis ins letzte Detail – ich bin ja bei weitem nicht der Einzige oder der am schlimmsten Betroffene.
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Wie hat die Sperrung Ihr Leben noch verändert?
Statt um 6.20 Uhr fahre ich bereits um 6 Uhr morgens los. Abendliche Termine müssen meine Frau und ich uns gut überlegen, weil man mit dem Verkehr so schlecht planen kann. Vor kurzem erst stand ich im Stau – früher konnte man das im Jahr an einer Hand abzählen –, so dass ich zu spät nach Hause kam. Wir haben einen Welpen, der noch nicht allein zu Hause bleiben kann – also musste meine Frau, die im Lüdenscheider Rat tätig ist, ihn mitnehmen. Früher sind wir gern in ein bestimmtes Restaurant in Dortmund gefahren – aber jede Fahrt nach Norden ist ein Risiko. Das nehmen wir nur auf uns, wenn es wirklich sein muss.
Zählen Sie die Tage, bis die Lücke in der A45 geschlossen ist?
Um ehrlich zu sein: Solche Gedanken würden mich nur noch mehr belasten und vermutlich wäre ich dann noch frustrierter, wenn es aus welchen Gründen auch immer doch länger dauern sollte. Im Jahr 2028 gehe ich in Rente. Es wäre schön, wenn ich vorher noch über die neue Brücke fahren könnte (lacht).