Drolshagen. David Bieker aus Drolshagen leidet unter Muskelschwund und sitzt im Rollstuhl. Doch er geht tauchen, auf Safari und Fallschirmspringen.
Auf dem Handy verwahrt er seine Schätze. David Bieker (32) scrollt die Fotos von oben nach unten mit geübter Daumenbewegung durch. Endlos viele scheinen es zu sein, während sie wie ein Schwarm bunter Vögel über das Display fliegen. „Zweiundzwanzigtausendeinhundertundsieben“, sagt er und grinst. Allein auf dem Handy.
Diagnose Muskelschwund - die Muskeln bilden sich zurück
Jedes einzelne ein Moment, eine Geschichte, ein Erlebnis: Paragliden, tauchen und Fallschirmspringen, Safari und Konzerte, Reisen und Sport - und der Alltag. „Ich will so viel wie möglich machen, solange es noch geht“, sagt er. Solange es noch gut geht.
Mit zehn Jahren hat er die Diagnose erhalten: Muskeldystrophie. Eher zufällig sei das herausgekommen, nicht weil ihn Schmerzen plagten. Das bedeutet: Seine Muskeln bilden sich langsam, aber unweigerlich zurück, ohne dass er viel dagegen tun könnte.
Mit 16 bekam David Bieker den ersten Rollstuhl
Erst fingen die Beine an, ihn nicht mehr überall hin tragen zu können. Mit 16 bekam er den ersten Rollstuhl, den er damals noch gar nicht immer brauchte. Mittlerweile sitzt er in einem elektrischen Rollstuhl. „Zuletzt ein Stück gelaufen bin ich vor einem Jahr.“ Wenn er sein Glas Wasser hochheben will, dann stützt er mit der Hand des anderen Arms den Ellenbogen.
Den Ort für das Gespräch mit dem Reporter - ein Restaurant - hat er bestimmt: nach Barrierefreiheit. Eine einzige Stufe in Drolshagen, wo er mittlerweile wieder im Elternhaus wohnt, oder in Olpe, wo er als Rechtspfleger am Amtsgericht arbeitet, kann ihn aufhalten. Trotzdem bereist er die Welt und lässt sich kaum Grenzen setzen.
Zwei Wochen Florida, damit fing alles an
Wie er das macht? Mit Mut. Und guten Freunden. „Ob etwas funktioniert, weiß ich ja nur dann, wenn ich es mache“, sagt er. Einerseits. Andererseits: Allein könnte er das alles nicht. „Es liegt nicht an mir, dass ich das alles tun kann, es liegt an meinen Freunden. Wenn ich die nicht hätte, säße ich vermutlich allein zu Hause.“
David Bieker scheut kein Abenteuer
2015 hat alles angefangen. Mit Chris und Christian, zwei Kommilitonen, will er nach Abschluss des Studiums in Bad Münstereifel wegfahren: zwei Wochen Florida. Zuvor war David Bieker in Ägypten, wo er mit Tauchen ging. Sein Daumen sucht das entsprechende Bild heraus, wie er am Bootsrand sitzt.
Paragliden in Südadfrika: ein Bild wie gemalt
Der Daumen lässt weitere Bilder vorbeischnellen. „Hier“, sagt er: „Da war ich Paragliden in Südafrika.“ 2017 war das, mit dem Auto die Südküste entlang, Safari im Krüger-Nationalpark. Er zeigt das Foto vom Paragliden: Tandemsprung, blauer Himmel, über David die Wolken, unter ihm Kapstadt. In seinem Gesicht: ein breites Lächeln. Aber kein ganz neues Gefühl für ihn.
Seit 2002 geht David Bieker jedes Jahr im Sommer in der Reha, um den Verfall der Muskeln zu verlangsamen. Viele, die herkommen, kennt er. Viele, die er kannte, auch Jüngere, die die gleiche Krankheit hatten, nur in stärkerer Ausprägung, sind bereits verstorben.
Er kann alt werden mit seiner Krankheit
Muskelschwund kann bedeuten, dass die Atem- und Herzfunktion ebenfalls beeinträchtigt werden. „So schlimm wird es bei mir wohl nicht werden“, sagt er. Er könne alt werden mit der Krankheit. Doch mit der Zeit werden die Einschränkungen spürbarer. So ist es ja jetzt schon. Unaufhaltsam.
Damals - 2016 - in der Reha in Höxter stand er jedenfalls in einer der oberen Etagen der Klinik und schaute aus dem Fenster. Wie das wohl ist, wenn man Fallschirm springt? Er fragt sich solche Sachen dann nicht bloß, er macht sie. In Hessen fand er jemanden, der sich mit ihm aus dem Flugzeug stürzte - und der die Landung sicherstellte. „Ich konnte ja meine Beine nicht anheben, geschweige denn mitlaufen“, sagt David Bieker.
BVB-Fan, Konzertbesucher, Ballermannreise
Der 32-Jährige ist glühender BVB-Fan, sieht fast jedes Heimspiel live im Stadion, verreist mit dem Klub auch international (Lissabon, London, Madrid, Barcelona). David Bieker ist im Schützenverein und im Kegelverein. Wenn der auf Abschlussfahrt am Ballermann ist, dann ist Kegelbruder Bieker dabei. „Mal zieht mich der eine durch den Sand, mal der andere“, lacht er.
Zuletzt ging es mit den Keglern auf Skandinavien-Kreuzfahrt. Biekers Zimmerpartner war Moritz Kampschulte. Sie kennen sich schon von damals vom Gymnasium. „Wir ermöglichen ihm ein paar Sachen, die er allein nicht könnte. Aber das ist für uns selbstverständlich. Wir sind mit ihm groß geworden“, sagt er. „Wir wissen, welche Handgriffe nötig sind, David muss nicht um Hilfe fragen.“
In die Sauna? Warum denn eigentlich nicht?
Aber vom Drehbuch abweichen geht auch: Auf dem Weg zur Skandinavien-Kreuzfahrt brach schon im Zug ein Griff des Rollstuhls ab. Auf einer Baustelle besorgte sich die Reisegruppe zwei Stücke Metall und Panzertape - und flickte alles. Später auf dem Schiff fiel der Landgang aus wegen Regens. „Da entstand die Idee, in den Wellnessbereich zu gehen, in die Sauna“, erzählt Kampschulte. „David sagte, dass er das noch nie gemacht habe und dass er es gern ausprobieren würde - wenn wir ihm helfen.“ Ein paar Leute hätten komisch geguckt, aber was soll‘s? „Er fand es super.“ So sei er eben, unternehmungsfreudig, lustig, spontan. „Wir wissen, dass wir ihm guttun“, sagt Kampschulte. „Es macht immer Spaß mit ihm.“
Konzerte besucht David Bieker gern. Beim Parookaville-Festival in Weeze 2022 campten er und seine Freunde fünf Tage lang. „Hier“, der Daumen saust wieder durch die Erlebnisse, noch ein Bild. Auch bei einem Konzert, Green-Juice-Festival in Bonn 2016. Zu sehen ist David Bieker, wie er vor der Bühne samt Rollstuhl auf Händen getragen wird - von völlig Fremden. Als wäre er ein Rockstar. Ein Rockstar im Rollstuhl. „Ich war weit vorne, als mich jemand fragte: Willst du hoch?“ Er überlegte nicht lang: „Wenn ihr das schafft...“
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Sein Leben ist voll von Menschen, die Dinge möglich machen. Vor allem natürlich seine Familie - und die Freunde. Der große Vorteil sei, sagt er, dass er als Jugendlicher noch nicht im Rollstuhl saß. „Ich war immer mit dabei, immer mittendrin. Ich habe Schritt für Schritt gelernt, mit meinen Einschränkungen umzugehen - und meine Freunde auch“, sagt er. „Ohne sie wäre das alles nicht möglich.“
Zur Not trägt ihn ein Freund ins Appartement
Natürlich gebe es berhindertengerechte Reisen zum Beispiel nach Südafrika. Aber die seien zumindest für ihn kaum zu bezahlen. Dann steigt er lieber in seinen handbetriebenen Rollstuhl, mit dem er flexibler ist, weil der zusammenfaltbar und leichter ist. „Dann muss mich zwar immer jemand schieben. Aber meistens sind wir mehrere, da kann man sich abwechseln. Und zur Not trägt mich einer hoch ins Appartement, wenn da Treppen sind.“
Seine Liebe für Fotos kennen die Freunde. Am Kap der guten Hoffnung in Südafrika ist es felsig. David Bieker sagte seinen Freunden im Auto, dass sie ohne ihn schauen gehen sollten. Kam nicht infrage. Kurzerhand trugen sie ihn hinab zum großen Schild und stellten sich für ein gemeinsames Foto auf.
Dankbarkeit, dass er mit seinen Freunden so viel erlebt
„Ich habe großes Glück. Man muss erst einmal Gruppen finden, die einen so unterstützen“, sagt David Bieker, „Das hat ja auch nicht immer viel mit Urlaub zu tun, weil wir auf den Reisen viel unterwegs sind.“ Von Ort zu Ort, so viel wie möglich sehen. Heißt aber auch: Unterkunft wechseln, einpacken, auspacken. „Es ist wirklich anstrengend für die anderen.“
Trotzdem machen sie es. Immer wieder. 2024, sagt David Bieker, soll es am liebsten mal wieder eine größere Reise werden. Neuseeland vielleicht, oder nochmal die USA. Damit neue Bilder entstehen, neue Erlebnisse. „Ich“, sagt David Bieker, „will niemals sagen müssen: Hätte ich mal...“