Hagen. Ein Spieler wird nicht aufgestellt und lässt aus Rache den Trainer auf dem Platz verprügeln. Warum Zeugen schweigen und der Staat hilflos ist.

Sie haben ja jetzt bald alles, der Bau des neuen Vereinsheims ist weit fortgeschritten. Sechs Kabinen, 22 Duschen, Schankraum, Terrasse, Glasfassade, Erdwärme und Photovoltaik. Viel mehr geht für einen Breitensportverein wie Fichte Hagen nicht. Aber eines, das wird auch weiterhin fehlen. „Ich habe“, bekennt Fichtes Vorsitzender Reinhard Flormann achselzuckend, „keine Zeugen.“

Keine Zeugen – für eine Auftragsschlägerei, bei der vor sechs Jahren ein Trainer und ein Linienrichter bei einem Amateur-Fußballturnier auf dem Platz von Fichte Hagen zum Teil lebensgefährlich verletzt wurden. Der ganze Vorgang ist ein Problem, vor allem für die Justiz, aber auch für die Gesellschaft. Täter und Anstifter kamen aus dem Milieu einer Hagener Großfamilie. Es war eine brutale Wild-West-Aktion vor den Augen von rund 300 Zuschauern. Trotzdem sind die Täter auf freiem Fuß. Im Namen des Volkes ergingen drei Urteile: drei Bewährungsstrafen – nur Bewährungsstrafen, finden viele. Und nun ist Volkes Zorn groß.

„Meiner Meinung nach gehören alle, die daran beteiligt waren, hinter Schloss und Riegel. Ein solches Urteil entfaltet nicht die abschreckende Wirkung, die ich mir persönlich gewünscht hätte“, sagt etwa Peter Alexander, der Vorsitzende des Hagener Fußballkreises. Ärger und Unverständnis der Bürger, aber auch von Polizeivertretern treffen die Justiz. Letztere steht schlecht da, hält jedoch ihren Kritikern den Spiegel vor. Denn von den rund 300 bei der Tat anwesenden Zuschauern – darunter ein Polizist in seiner Freizeit – halten es die meisten wie die drei Affen: nichts sehen, nichts hören, nichts sagen.

300 Zuschauer am Tatort – aber kaum einer hat etwas gesehen

„Was die Empörung der Öffentlichkeit angeht, kann ich nur sagen: Ich hätte mir eine etwas empörtere Öffentlichkeit beim Tatvorgang gewünscht. Wenn die Damen und Herren, die Augenzeugen waren, sich im Ermittlungsverfahren auskunftsfreudiger gezeigt hätten, wären wir schneller zum Zuge gekommen“, sagt der Hagener Oberstaatsanwalt Dr. Gerhard Pauli und ergänzt: „Ich kann es nachvollziehen, dass sich Leute nicht unbedingt besonders mutig verhalten haben, aber dann sollte man auf der anderen Seite nicht von den Ermittlungsbehörden erwarten, dass die die Täter hurtig dingfest machen und eine Verurteilung zu hohen Strafen erreichen.“

Angesichts der Umstände hält der Oberstaatsanwalt den Ausgang des Verfahrens für keinen Misserfolg. Und so geht es in diesem komplexen Fall, der auch 74 Monate nach der Tat juristisch immer noch nicht abgeschlossen ist, um Gewalt, Integration, Zivilcourage, den Konflikt zwischen Recht und Gerechtigkeit, es geht um Abschreckung, juristische Feinheiten und um die Frage, ob sich der Staat auf der Nase herumtanzen lässt.

Oberstaatsanwalt Dr. Gerhard Pauli sieht den Ausgang der Verfahrens rund um die Prügelattacke beim Fritz-Kahl-Turnier nicht als Misserfolg.
Oberstaatsanwalt Dr. Gerhard Pauli sieht den Ausgang der Verfahrens rund um die Prügelattacke beim Fritz-Kahl-Turnier nicht als Misserfolg. © Michael Kleinrensing

Bundeskanzler Olaf Scholz erinnere sich ja auch nicht, sagt einer

Ein Tag im September. Reinhard Flormann, Fichte-Klubchef ohne Zeugen, empfängt am Tatort. Er feierte damals, am 21. Juli 2016, Geburtstag, war deshalb nicht dabei, als auf der Anlage seines Vereins die Fäuste flogen. Aber Flormann hat jemanden mitgebracht, der damals vor Ort war. Die Person sagt, sie habe leider nichts Genaues sehen können; das Areal ist recht weitläufig, auch war bei dem Turnier viel los. Ansonsten will der Zeuge nichts Weiteres zu dem Vorfall sagen. Sei ja auch schon lange her, und wenn sich Bundeskanzler Olaf Scholz im Hamburger Cum-Ex-Skandal auf Gedächtnislücken berufe, dürfe man vom einfachen Volk nicht mehr erwarten.

Deshalb für alle, die dabei oder nicht dabei waren, eine Zusammenfassung des Geschehenen: Ein Kicker des Vereins Cemspor Hagen heuerte einen Trupp um Profiboxer Muhammed E.Z. an, um seinem Trainer in der Halbzeitpause des Spiels gegen ETuS Schwerte einen Denkzettel verpassen zu lassen. Vor großer Kulisse. Die Situation eskalierte, Cemspor-Trainer Atila A. wurde niedergestreckt, am Boden liegend ins Gesicht getreten. Er erlitt einen Mittelhandbruch. Der Linienrichter und Cemspor-Geschäftsführer Hasan G., der dem Opfer zur Hilfe eilte, bezahlte seinen Rettungsversuch gar mit lebensgefährlichen Kopfverletzungen. Sonst schritt niemand ein, denn bei dem Schlägertrupp, der unbehelligt abzog, habe es sich um „zehn Kleiderschränke“ gehandelt, erzählt einer.

Anlass der Aktion war wohl eine Nichtigkeit. Der Spieler, Dogan S., soll sich wiederholt von seinem Trainer gedemütigt gefühlt haben. Am Tag der Tat war er nicht aufgestellt worden. Also – das ist gerichtlich festgestellt – schickte er einen Schlägertrupp. Das kann man als Beleg für eine große Dummheit werten – oder für den Glauben, sich alles erlauben zu können: das archaische Recht des Stärkeren. „Es war“, urteilt Polizeigewerkschafter Michael Mertens, „ein bestelltes Zusammenschlagen durch Täter, die dem Clan-Milieu zuzuordnen sind.“

Der Tatort, Jahre nach der Tat: Auf diesem Kunstrasen an der Wörthstraße in Hagen fand die Prügelattacke statt.
Der Tatort, Jahre nach der Tat: Auf diesem Kunstrasen an der Wörthstraße in Hagen fand die Prügelattacke statt. © Axel Gaiser

Die Täter? „Menschen mit internationaler Familiengeschichte“

Clan – der Begriff taucht in diesem Kontext immer wieder auf, ist allerdings umstritten, weil er auch unschuldige Familienmitglieder in Sippenhaft nehmen kann. Außerdem stehe der Begriff nicht im Strafgesetzbuch, bemerkt Oberstaatsanwalt Dr. Gerhard Pauli, der daher in diesem Fall – politisch und juristisch korrekt – von „Menschen mit internationaler Familiengeschichte“ spricht. Der Begriff Clan, ob hier angemessen oder nicht, entfaltet aber eine gewisse Wirkung. Auch auf Zeugen?

Manche, wie es bei dem privat anwesenden Polizisten gewesen sein soll, konnten wohl tatsächlich nicht genug für gerichtsfeste Aussagen sehen. Aber „viele Zeugen sind einfach eingeschüchtert“, stellte der Vorsitzende Richter Marcus Teich in einem ersten Prozess zu dem Fall im Jahr 2017 fest. „Wer bereit ist, Schläger für eine derart brutale Attacke zu beauftragen, wird vermutlich auch versuchen, Einfluss auf die Zeugen zu nehmen. Der Verdacht liegt zumindest nahe“, meint Michael Mertens, NRW-Landesvorsitzender der Gewerkschaft der Polizei (GdP).

Die Sache „ist aus dem Ruder gelaufen“

Gerichtlich festgestellt ist, dass die Aktion die Auftragsarbeit eines Mitglieds einer in Hagen bekannten Großfamilie war. Es soll jedoch eine Einzeltat gewesen sein, kein orchestriertes Verbrechen einer Bande. „Mit der Clan-Thematik hat der Fall nicht im Ansatz etwas zu tun“, sagt Lutz Mollenkott.

Er hat den Anstifter der Tat, Dogan S., in dem Verfahren vertreten. Der Verteidiger legt Wert darauf, dass sein Mandant die Eskalation am Tatort „weder gewollt noch billigend in Kauf genommen“ habe. Dogan S. habe seinem Trainer – der sich auf Anfrage dieser Zeitung nicht äußerte, während der Linienrichter „mit der Sache abgeschlossen“ hat – lediglich einen Denkzettel verpassen wollen. Was auf dem Platz als Drohkulisse und Rangelei gedacht gewesen sei, ist dann aber „aus dem Ruder gelaufen“. So beschreibt es Mollenkott.

Die Anwälte Marisa Scholten, Philipp Muffert und Lutz Mollenkott mit dem Anstifter und einem Gehilfen im Prozess in Hagen.
Die Anwälte Marisa Scholten, Philipp Muffert und Lutz Mollenkott mit dem Anstifter und einem Gehilfen im Prozess in Hagen. © WP | Michael Kleinrensing

„Populismus hat im Gerichtssaal nichts zu suchen“

Nicht jeder Ersatzspieler im Amateursport kommt auf die Idee, seinem Trainer einen Schlägertrupp vorbeizuschicken. Das weiß auch Mollenkott, der den Hinweis, dass hierbei das Milieu der Täter eine Rolle gespielt haben könnte, nicht zurückweist. Am Ende ist das für ihn aber auch nicht entscheidend. Der Verteidiger hat für seinen Mandanten ein Jahr auf Bewährung rausgeholt. Das Urteil, das viele für falsch halten, hält Mollenkott juristisch für richtig. „Populismus hat im Gerichtssaal nichts zu suchen. Es ist nicht Aufgabe des Gerichts, auf eine mögliche Akzeptanz eines Urteils in der Öffentlichkeit zu achten, sondern ein Verfahren nach rechtsstaatlichen Grundsätzen durchzuführen“, sagt er und betont: „Es war ein ordnungsgemäßes Verfahren.“

Juristisch dürfte das zutreffen. Offensichtlich gab es zu wenige Beweise, dafür aber eine Verständigung unter den Verfahrensbeteiligten. Mollenkotts Mandant und ein Gehilfe der Tat, Yasin C., legten Geständnisse ab, erhielten im Gegenzug Bewährungsstrafen. Ähnlich lief das 2017, im ersten Prozess zu diesem Fall, in dem der Profiboxer ein Jahr und zehn Monate erhielt, ausgesetzt zur Bewährung.

Vielleicht hat Oberstaatsanwalt Dr. Pauli sogar Recht, wenn er sagt, dass der Ausgang der Verfahren kein Desaster sei. Schließlich habe man drei Verantwortliche ermitteln und verurteilen können. Außerdem sei man im Rahmen dieser Ermittlungen auf weitere Verdachtsmomente in einem anderen Fall rund um die genannte Großfamilie gestoßen, in dem es um Steuerhinterziehung in Millionenhöhe in Spielhallen ging. Das ist mal was. Und dennoch bleiben in dem Schläger-Prozess Fragen, auch an Ermittler und Gericht.

Ein mögliches Beweisfoto taucht erst auf, als es schon zu spät war

So tauchte etwa ein Foto, das den Profiboxer nach der Tat am Tatort in Protzerpose zeigen soll, erst auf, nachdem das milde Urteil gegen ihn bereits rechtskräftig war. Zu spät also. Schon merkwürdig. Andere Fotos oder Videos von der Tat sollen nicht vorliegen. Auch das: merkwürdig – im Smartphone-Zeitalter.

Ebenfalls kein Ruhmesblatt, da darf sich wohl vor allem das Landgericht angesprochen fühlen: Von der Tat bis zur Urteilsverkündung im zweiten Verfahren, in dem der Anstifter und der Gehilfe angeklagt waren, vergingen mehr als sechs Jahre. Die lange Verfahrensdauer, die das Gericht mit (zu) viel Arbeit und mit anderen, vorrangigen Verfahren erklärt, könnte durchaus den Ausgang des Prozesses beeinflusst haben.

„Sechs Jahre Verfahrensdauer sind unerträglich. Nach einem so langen Zeitraum ist für das Gericht kaum noch nachvollziehbar, was genau passiert ist. Jeder Rechtsanwalt würde die Strategie fahren, einen Zeugen, der sich nach sechs Jahren an die Details erinnern soll, als unglaubwürdig darzustellen, weil die Geschehnisse so lange her sind“, sagt Polizeigewerkschafter Mertens.

Einer der Angeklagten will einen größeren Strafrabatt

Die Verfahrensdauer, die auch mit aufwendigen Ermittlungen zusammenhängt, spielt aber noch in anderer Hinsicht eine Rolle. Der Anstifter und der Gehilfe erhielten einen Strafrabatt. Zwei Monate ihrer jeweiligen Freiheitsstrafen gelten als verbüßt. Damit nicht genug: Der Gehilfe, zu eineinhalb Jahren auf Bewährung verurteilt, hat Revision eingelegt – nach Angaben des Gerichts noch am Tag der Verkündung des Urteils, dem er zuvor zugestimmt hatte. Warum?

„Der Grund der Revision ist, dass das Gericht wegen überlanger Verfahrensdauer zwei Monate der Freiheitsstrafe meines Mandanten als vollstreckt angesehen hat. Das müssten aber mindestens drei bis vier Monate sein“, begründet Anwalt Philipp Muffert und merkt an: „Das Verfahren lag bei Gericht einfach rum, das war zigmal angesetzt, wurde aber immer wieder verschoben.“

Polizei-Gewerkschaft kritisiert Deals mit Tätern

In Revision zu gehen ist das gute Recht des Angeklagten. Darauf verweist auch das Landgericht, das dennoch düpiert dasteht. „Ein Deal, der mit einer Revision endet, ist kein Deal“, findet Michael Mertens.

Der GdP-Landesvorsitzende vertritt Polizisten, welche die milden Urteile als Schlag ins Gesicht empfinden. Mertens hofft, dass die Justiz derartige Vereinbarungen künftig nicht mehr eingeht. „Für die Polizei ist das Verhalten des Gerichts problematisch. Der Fall zeigt doch, mit welchen Tätern wir es zu tun haben. Mit dieser Gruppe kann man keine Deals machen. Wir würden ja auch keine Deals mit Menschen machen, denen wir nicht trauen“, sagt Mertens, der noch etwas Grundsätzliches anmerkt: „Im deutschen Rechtssystem ist das Eigentum besser geschützt als die körperliche Unversehrtheit. Über diesen grundsätzlichen Fehler sollte die Politik mal nachdenken.“

Es ist nur eine der bitteren Erkenntnisse, die dieser Fall hinterlässt.