Dortmund. Gefährdet TikTok junge Menschen? Das will die Europäische Kommission prüfen. Warum viele NRW-Politiker die App trotzdem für sich nutzen wollen.
- Die Europäische Kommission hat ein neues Verfahren gegen TikTok eröffnet. Es soll geprüft werden, ob der chinesische Konzern die psychische Gesundheit von Minderjährigen gefährdet – und damit gegen EU-Regeln verstößt.
- Gleichzeitig wagen sich viele Politikerinnen und Politiker aus NRW auf einmal auf TikTok.
- Angetrieben werden sie von einer großen Sorge: Rund zwei Drittel der jungen Menschen informieren sich hauptsächlich auf Social Media über Politik. Und auf der beliebten Plattform TikTok hat die AfD die Vorherrschaft.
- Was andere Parteien nun, vor der Europawahl, dagegen tun können – und warum Politikerinnen und Politiker auf TikTok besser nicht tanzen sollten.
Ausgerechnet jetzt kommt die Sonne raus. Ina Brandes dreht sich noch einmal, damit kein Schatten auf ihr Gesicht fällt. Dann hält sie den Selfie-Stick in die Höhe und drückt auf den roten Knopf. Die Aufnahme läuft. „Hallo zusammen! Das ist tatsächlich mein erstes TikTok-Video. Ich hoffe, dass es einigermaßen wird“, sagt die NRW-Ministerin für Kultur und Wissenschaft (CDU). Neben ihr lächelt BVB-Legende Lars Ricken in die Kamera. „Was bedeutet für dich Europa? Warum ist Europa wichtig?“, fragt die 46-Jährige den Ex-Fußballer.
Ina Brandes ist längst nicht die einzige Politikerin, die sich neuerdings auf die chinesische Video-Plattform wagt. Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach, die Grünen um Annalena Baerbock und Robert Habeck und sogar Bundeskanzler Olaf Scholz – sie alle laden nun, knapp zwei Monate vor der Europawahl, Videos hoch.
Junge Menschen in NRW informieren sich auf TikTok über Politik
Angetrieben werden sie von einer großen Sorge: Rund zwei Drittel der jungen Menschen informieren sich hauptsächlich auf Social Media über Politik. Auf der inzwischen beliebtesten Plattform TikTok erreicht keine andere Partei so viele Nutzer wie die AfD.
Dagegen wollen viele Politikerinnen und Politiker etwas tun. Die Regierung in NRW hat sogar die Landeszentrale für politische Bildung damit beauftragt, in den sozialen Medien gezielt Erstwählerinnen und Erstwähler anzusprechen. Kommen sie zu spät?
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Montagmorgen im Fußballmuseum Dortmund. Hier filmt Ina Brandes nicht nur ihr erstes TikTok-Video, sondern will auch rund 100 Schülerinnen und Schüler vor Ort motivieren, am 9. Juni ihre Stimme abzugeben. Dass im Sommer die Europawahl stattfindet, wussten viele von ihnen nicht. Dass sie als 16- und 17-Jährige zum ersten Mal wählen dürfen, auch nicht.
Auf TikTok werden ihm vor allem lustige Videos angezeigt, erzählt ein Schüler. Von Menschen, die auf „komische Weise“ hinfallen. Oder andere parodieren. Dazu Clips von bekannten Sportlern. „Und manchmal Videos von der AfD. Von diesem Politiker, der sagt, was echte Männer sind“, sagt er.
AfD-Politiker Maximilian Krah: Umstrittener Star auf TikTok
Die Rede ist von Maximilian Krah. Der ist AfD-Spitzenkandidat für die Europawahl und auf TikTok sowas wie ein Star. Seine Videos, in denen er gegen Geflüchtete und Schwule hetzt und vom Bevölkerungsaustausch fantasiert, gingen so viral, dass sich die Plattform gezwungen sah, einzugreifen. Bis zur Europawahl werde seine Reichweite einschränkt, weil er gegen die Richtlinien verstoßen habe, begründete TikTok den Schritt.
Auch die NRW-AfD ist im Netz erfolgreich. Auf dem TikTok-Account der Landtagsfraktion sind seit 2021 vor allem kurze Ausschnitte der Landtagsreden zu sehen. Sie tragen Titel wie „Präsident (SPD) vs. AfD“, „DAS läuft nicht in der Tagesschau...“ oder „AfD an ,Ehrenmörder‘!“ – und werden teilweise bis zu einer halben Million Mal geklickt.
AfD-Politikerin aus Gelsenkirchen erreicht auf TikTok Millionen
Viele AfD-Mitglieder in NRW haben darüber hinaus noch eigene Profile. Besonders erfolgreich ist die Gelsenkirchenerin Enxhi Seli-Zacharias. Mit einem einzelnen Post erreicht sie bis zu 1,5 Millionen Menschen. Zum Vergleich: Der vor kurzem gestartete Account der SPD-Landesgruppe im Deutschen Bundestag wird – trotz bekannter Gesichter wie Gesundheitsminister Karl Lauterbach – im Durchschnitt von gerade mal 500 TikTok-Nutzern aufgerufen. Auch der Account der Grünen in NRW ist weit entfernt von den Klick-Erfolgen der AfD.
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Das liegt zum einen an den Spielregeln der Plattform, sagt Stefan Marschall. Er ist Parteienforscher und Professor für Politikwissenschaft an der Heinrich-Heine-Universität in Düsseldorf. „Der TikTok-Algorithmus bevorzugt Videos, in denen radikale, provokative Positionen vertreten werden. Daher haben populistische Parteien schon einen gewissen Vorteil.“
Zum anderen habe die AfD die Relevanz von TikTok viel früher erkannt als andere. Während die meisten Politikerinnen und Politiker noch vor Datenschutz-Risiken warnten oder gar von einem Verbot der Plattform träumten, sprach die AfD online gezielt junge Menschen an. „Die AfD hat die sozialen Medien von Anfang an sehr professionell genutzt und da viele Ressourcen reingesteckt. Die anderen Parteien haben das teilweise verschlafen“, sagt Marschall.
Trotzdem haben die anderen Parteien noch eine Chance, glaubt der Experte. Denn der oft kritisierte TikTok-Algorithmus bietet auch einen großen Vorteil: Man braucht nicht viele Follower oder viele Clips, um mit einem einzigen Video viele Menschen zu erreichen. Vorausgesetzt, man kennt und beachtet die Spielregeln.
Düsseldorferin Strack-Zimmermann startet TikTok-Account
„Sachen auf den Punkt bringen zu können, das ist wichtig“, sagt Marschall. Eine Politikerin aus NRW sei darin besonders gut und daher auch in den sozialen Medien erfolgreich: Marie-Agnes Strack-Zimmermann. Die Düsseldorferin ist FDP-Spitzenkandidatin für die Europawahl, hat 55.000 Follower auf Instagram und ist seit wenigen Wochen auf TikTok aktiv.
Auf ihrem Profil sieht man, wie sie im Bundestag eine Rede hält oder im Fernsehstudio ein Interview gibt. In einem „Entweder Oder“-Video verrät sie aber auch, dass sie Oppenheimer besser als Barbie findet und lieber Motorrad als Auto fährt. In einem anderen Clip ordnet sie verschiedene Kartoffel-Gerichte in ihr persönliches Top-10-Ranking ein. Ist das noch Politik?
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„Sie ist als eine Politikerin bekannt, die frei heraus redet und auch durchaus mal etwas Provokatives sagt. Es wirkt authentisch und nicht erzwungen. Bei Scholz zum Beispiel wäre das sicherlich nicht so“, sagt Marschall. Wer als Politiker auf TikTok erfolgreich sein will, müsse vor allem eins sein: authentisch. Daher dürfe auch gerne mal etwas Persönliches geteilt werden. „Aber weder Strack-Zimmermann, Scholz noch Brandes sollten tanzen. Das würde lächerlich wirken“, sagt Marschall.
Ein Rat, den Ina Brandes gerne befolgt. „Ich kann mit Sicherheit ausschließen, dass ich einen Tanz-Trend mitmache“, sagt sie. Vielmehr wolle sie auf TikTok ihren Alltag als Ministerin zeigen. „Vielleicht mache ich mal den ein oder anderen Trend mit und zeige zum Beispiel, was sich in meiner Handtasche befindet.“
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Ihr erstes Video lädt sie nur wenige Minuten nach dem Dreh hoch. Ihr Gesicht ist stellenweise nur halb zu sehen, die Aufnahme wackelt leicht und ist mit mehr als 1,5 Minuten vergleichsweise lang. 24 Stunden nach dem Hochladen haben rund 1000 Menschen das Video aufgerufen. Damit ist sie noch weit entfernt von den viralen Videos der AfD– und hat doch deutlich mehr junge Menschen erreicht als vor Ort in Dortmund. Am Ende ihres Clips appelliert Ina Brandes: „Wir haben nur eine Demokratie, also beschützen wir sie. Macht‘s gut.“
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