Essen. Die AfD hat auf TikTok riesige Reichweiten – mit diesen psychologischen Tricks lockt sie junge Menschen in die rechte Szene

42 Sekunden. 16 Videos. Die erste Lüge. Ein Selbstexperiment unserer Redaktion stellt den Status-quo der AfD in dem sozialen Online-Netzwerk TikTok dar. Auf der Startseite, der sogenannten „Für dich“-Seite, tauchen kurz nach Neuanmeldung bereits zahlreiche Videos der Partei auf. Wie gelingt es der AfD auf TikTok, junge Menschen für sich zu begeistern? Was unscheinbar rüberkommt, hat psychologisch System.

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Die Nutzerinnen und Nutzer der einzelnen sozialen Netzwerke unterscheiden sich, wie die ARD-ZDF-Onlinestudie (2023) zeigt: Während 30- bis 69-Jährige am häufigsten Facebook verwenden, verbringen die 14- bis 29-Jährigen die meiste Zeit bei Instagram, gefolgt von Snapchat und TikTok. 30 Prozent von ihnen öffnen demnach das chinesische Netzwerk TikTok täglich – und bekommen dort mit großer Wahrscheinlichkeit Kurzvideos, die gleichnamigen TikToks, der „Alternativen für Deutschland“ eingespielt.

Fungiert TikTok als Nährboden für Falschinformationen?

In einer Analyse von NewsGuard, dem „Misinformation Monitor“, fand das US-Unternehmen heraus, dass im Jahr 2022 innerhalb von 40 Minuten nach Neuanmeldung die ersten Falschinformationen über den Ukraine-Krieg ausgespielt wurden – ohne gezielt danach gesucht zu haben. Der Anteil an Falschinformationen zu vergleichbaren Themen lag 2022 laut NewsGuard bei 20 Prozent. Im Oktober letzten Jahres verwarnte die EU TikTok zudem wegen der Verbreitung von Falschinformationen über den Angriff der Hamas auf Israel.

Wie lange dauert es, bis die ersten Inhalte der AfD auf der sogenannten „Für dich“-Seite landen? Nach der Neuanmeldung auf einem bisher nicht für TikTok genutzten Smartphone erscheint nach nur 42 Sekunden ein Video von Alice-Weidel, Co-Vorsitzende der AfD-Bundestagsfraktion: „Also erstmal bleibt zu hoffen, dass von diesem Land noch etwas übrig ist, wenn diese Leute mit der Regierung fertig sind.“ Gemeint ist offenbar die Ampel, die Migrantinnen und Migranten massenhaft ins Land lässt. Ihr zufolge seien die Tore offen für „jeden Total-Abschreiber aus der Welt, der in unseren Sozialstaat einwandert und hier voll versorgt wird“. Parallel dazu müssten die „eigenen“ Rentnerinnen und Rentner Flaschen sammeln gehen. „Weit über 30 Prozent der deutschen Rentner sind in der Grundsicherung“, behauptet Weidel in dem Video vom 15. Dezember 2023.

Der AfD Bundestagsfraktion folgen rund 389.000 Menschen auf TikTok. (Symbolbild)
Der AfD Bundestagsfraktion folgen rund 389.000 Menschen auf TikTok. (Symbolbild) © picture alliance/dpa | Carsten Koall

Eine kurze Recherche genügt, um hier nach 55 Sekunden Video-Laufzeit die erste nachweisbare Desinformation zu identifizieren, die das jüngere Publikum auf TikTok zu sehen bekommt. Bei insgesamt 22 Millionen Rentnern in Deutschland entsprächen 30 Prozent 6,6 Millionen Menschen. Nach Daten des Statistischen Bundesamtes vom Juni 2023 gibt es allerdings „nur“ rund 692.000 Bürger, die zusätzlich zu ihrer Altersrente die Sozialleistung der Grundsicherung beziehen – umgerechnet 3,15 Prozent.

AfD ist auf TikTok sehr präsent – mehr als andere Parteien

Den Erfolg auf TikTok verdankt die AfD simplen psychologischen Mechanismen, die das Online-Marketing Unternehmen „My Best Concept“ aus Bochum aufbereitet hat: Das „WYSIATI-Phänomen“ bedeutet übersetzt „Was du siehst, ist alles, was es gibt“. Es beschreibe die Tendenz, Entscheidungen auf der Grundlage verfügbarer Informationen zu treffen – ungeachtet dessen, was fehlt oder übersehen wird. Hinzu kommt das „Priming“, also der Umstand, dass bisher erlebte Erfahrungen unser Verhalten nachhaltig beeinflussen, demnach prägen auch AfD-Videos unsere Wahrnehmung. Kurzum: Wer diese Inhalte für die einzig verfügbaren Informationen hält, sieht die weiteren Videos mit hoher Wahrscheinlichkeit mit demselben Blick.

TikTok bietet wenig Kontrastprogramm: Kurz nach Weidels Wutrede über die Einwanderungspolitik der Bundesregierung, wird ein Video von der Kundgebung am vergangenen Sonntag in Berlin gezeigt. Klimaaktivistin Luisa Neubauer spricht in der kurzen Sequenz über die wehrhafte die Demokratie, darüber dass nicht nur die Extremen laut sein können. Erst der 29. Beitrag zeigt schließlich ein Video einer anderen Partei, der SPD. Von den 50 ersten Beiträgen waren acht von Accounts, die die Partei im Titel trugen, viele weitere übernahmen ihre Narrative. Das ist zwar nur eine Momentaufnahme, gibt aber einen Einblick in die Social-Media-Präsenz der Partei.

Landtagsfraktion der AfD in NRW holt auf TikTok zum Rundumschlag aus

Auf dem Profil der AfD Fraktion NRW präsentiert diese kurze Ausschnitte von Reden der, weitestgehend männlichen, Politikerinnen und Politiker im Düsseldorfer Landtag. 102.400 Personen haben sich dazu entschieden, dem Account zu folgen. Die bisher 417 Videos sammelten durchschnittlich 49.608 Aufrufe – insgesamt 1,2 Millionen Herzen.

Die Redner thematisieren hauptsächlich Migration, Asyl und Sozialhilfen, gehen aber auch gezielt auf Menschen mit türkischer und arabischer Abstammung los; nennen letztere pauschal im Zusammenhang mit Clan-Kriminalität und Terrorgefahr. Daneben stellen sie Bildung, Verschwendungen von Steuergeldern, Klimaschutz, Gendern und Energiekosten in den Vordergrund. Die Methode der Online-Beiträge: Die AfD wirft der Bundesregierung vor, mit ihrer Politik einen für Deutschland schädlichen Zweck zu verfolgen, Hauptgegner sind dabei die Grünen.

Auffällig ist ein Video von Sven Tritschler, dem stellvertretender Landessprecher der AfD NRW, in dem der Abgeordnete auf die Mitte-Studie der SPD-nahen Friedrich-Ebert-Stiftung verweist. Tritschler behauptet: „In dieser Studie gilt es als ,rechtsradikale Einstellung‘, wenn man der Meinung ist, dass die Migration nach Deutschland begrenzt werden muss.“ Richtig ist: Man muss in der Studie zahlreiche Sichtweisen unter anderem zur rechtsgerichteten Diktaur, Antisemitismus und Fremdenfeindlichkeit befürworten, um ein „manifest rechtsextremes Weltbild“ zu haben. Demnach ist die Studie deutlich differenzierter, als Tritschler es darstellt.

Die Teilnehmer der Studie werden zur Kategorie der Fremdenfeindlichkeit gefragt, ob Ausländer nach Deutschland kämen, um den Sozialstaat auszunutzen; sie wieder in ihre Heimat zurückgeschickt werden sollten, wenn Arbeitsplätze fehlten; und ob Deutschland durch die vielen Ausländer überfremdet sei. Ungeachtet der Tatsache, dass Tritschlers Behauptung nicht durch die Mitte-Studie gestützt ist, fügt der AfD-Landtagsabgeordnete voller Überzeugung hinzu: „Wenn das die Definition ist, bin ich gerne rechtsradikal.“