Essen. Am 9. Juni wird das neue Europa-Parlament gewählt. Erstmals dürfen 16- und 17-Jährige in Deutschland mitentscheiden. Was ist ihnen wichtig?
- Am Sonntag, 9. Juni, ist Europawahl. Allein in NRW sind über 13,8 Millionen Menschen zur Wahl aufgerufen.
- Erstmals dürfen auch 16- und 17-Jährige das größte multinationale Parlament der Welt mitwählen. In NRW geht es um rund 300.000 Jugendliche.
- Was bewegt die Erstwählerinnen und Erstwähler?
Michael Daub kennt sein Publikum. In der Aula der Gustav-Heinemann-Gesamtschule in Essen verteilt der Europabeamte nur auf den vorderen Plätzen Gummibärchen und Flyer. „Bitte nur dahin setzen, wo auch etwas auf den Stühlen liegt“, dirigiert Daub gut zwei Dutzend Oberstufenschüler durch den Raum mit rund 250 Holzstühlen.
Eine Stunde lang berichtet der Beamte den meist 17-Jährigen aus dem Innern der EU. Auf der letzten Folie der Präsentation kommt er dann zum Punkt: Am 9. Juni 2024 ist Europawahl. „Nutzt eure Stimme!“
Bei vielen seiner Zuhörer kommt die Bedeutung dieses Satzes allerdings erst nach der Veranstaltung an. „Was, ehrlich? Ich darf wählen?“, sagt eine Schülerin mit weit geöffneten Augen. „Ich bin doch erst 17.“ Eben.
Rund 300.000 Jugendliche im Alter von 16 und 17 Jahren dürfen erstmals wählen
Nach langen Debatten hat der Bundestag 2022 auf Vorschlag der Regierungsfraktionen von SPD, Grünen und FDP das Wahlalter für die Europawahl von 18 auf 16 Jahre abgesenkt. Dadurch dürfen hierzulande nun erstmals auch Jugendliche im Alter von 16 und 17 Jahren über die Zusammensetzung des größten multinationalen Parlaments der Welt mitentscheiden. Auch in Belgien, Malta und Österreich dürfen 16-Jährige wählen. In Griechenland muss man 17 Jahre, in den übrigen Mitgliedstaaten 18 Jahre alt sein.
In NRW geht es um rund 300.000 junge Menschen im Alter von 16 und 17 Jahren, weniger als ein Drittel aller Erstwähler.
Nur – so richtig gut darauf vorbereitet sehen sich längst nicht alle. Im Gespräch mit Essener Gesamtschülern erklären die Jugendlichen, dass ihnen vor allem eins fehlt: Informationen.
Wer sind die wichtigsten EU-Politikerinnen und Politiker? Welche europäischen Gesetze haben Einfluss auf unser Leben in NRW? Wie ist die EU aufgebaut? Und was bewirkt die eigene Stimme am 9. Juni eigentlich? Bei Schülerinnen und Schüler bleiben viele Fragen unbeantwortet. Damit dürfte es ihnen mutmaßlich gehen wie vielen anderen Bürgern im Land. Und doch hegten die Befürworter der Absenkung des Wahlalters große Hoffnung in die Neuwähler, um die Wahlbeteiligung zu steigern.
Was also bewegt die Erstwählerinnen und Erstwähler?
Rümeysa Sinecek will auf jeden Fall am 9. Juni zur Wahl gehen. Doch die 17-Jährige ärgert, dass die EU im Unterricht zu kurz komme. Was sie bislang darüber wisse, habe sie vor allem durch Veranstaltungen ihres Schülerstipendiums erfahren, sagt die Elftklässlerin. „Bei Treffen bin ich immer diejenige mit den meisten Fragen. Viele andere Schüler haben diese Chance sich zu informieren aber nicht, das finde ich nicht fair.“
Essener Schule macht Platz für EU im Unterrichtsplan
An der Gustav-Heinemann-Gesamtschule haben sie im Rahmen auf den hohen Informationsbedarf reagiert: Anders als im Lehrplan vorgesehen befassen sich die elften Klassen der Europaschuleschon jetzt mit der EU und nicht erst kurz vor dem Abitur. Das Treffen mit dem Europabeamten Daub gehört zu dem Programm. Reicht so etwas?
Es brauche mehr Zeit, sagt Benno Justfelder, Lehrer für Sozialwissenschaften und Geschichte. „Schule macht das Thema im Rahmen der Möglichkeiten, aber wir sind nicht die einzige Institution, die etwas tun muss.“ Er sieht auch Parteien, Medien und Eltern in der Pflicht.
Besuch in einem Geschichtskurs. Die Jugendlichen interessieren sich durchaus für Politik, sagen sie. Mit ihren Eltern sprechen sie über politische Themen. Und sie verfolgen die Nachrichten, meist informieren sie sich darüber in den sozialen Medien. Dort treffen sie, berichten sie, dann vor allem auf eine Partei: die AfD.
Essener Gesamtschüler: „Wichtig ist mir der Schutz der Menschenrechte“
Wen sie wählen wollen, wissen bisher nur wenige der Schüler. Aber grundsätzlich wollen sie schon zur Wahl gehen, sagen sie. Was ist ihnen in der EU wichtig? Ein Schüler hebt die Hand. Er denke zuerst an Schutz, nennt ganz alltäglich den Krankenversicherungsschutz in der EU, aber auch: „Der Schutz der Menschenrechte. Und dass man hier seine Meinung sagen darf.“
Wajd Alzaour hat eine besondere Sicht auf die EU. Sie ist aus Syrien nach Deutschland gekommen, diese Wahl wäre für sie die erste als deutsche Staatsbürgerin. „Ich hoffe, dass ich meinen Pass noch rechtzeitig bekomme“, sagt die Essenerin Schülerin eines Sozialwissenschaftskurses. „Für mich wäre die Wahl der Tag, an dem ich eine richtige Bürgerin dieses Landes bin.“
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Die EU steht für die 17-Jährige für Sicherheit: „Ich komme aus einem Land, in dem man abends nicht weiß, ob man die Nacht überlebt. Die EU und Deutschland, das ist wie ein anderer Planet.“ Auch sie bemängelt fehlendes Wissen, sieht das Problem aber nicht nur in der Schule: „Bei der EU geht es mir zu oft um Deutschland und Frankreich. Andere Länder werden zu selten erwähnt.“
Von der Union als Gemeinschaft zeichnet auch ihr Mitschüler, Pauli, ein positives Bild: Im Kriegs- und Krisenfall sei man in der Gruppe stärker, auch wirtschaftlich bringe Gemeinschaft Sicherheit. „Das ist wie eine Familie, da hat man auch Leute, die einem helfen.“
EU-Bürger? Jugendliche identifizieren sich eher mit Deutschland
Leidenschaftlich erklärt der Albaner, der selbst am 9. Juni gar nicht mitwählen darf, dass die allermeisten Probleme dieser Zeit aus seiner Sicht nur in der Gemeinschaft gelöst werden könnten, dass man miteinander arbeiten müsse und gerade die EU dafür ein gutes Beispiel sei. „Die EU ist die richtige Idee“, sagt er. Spontan fallen dem 19-Jährigen konkrete Vorteile ein, die er von der EU gehabt habe: Auch die iPads an der Schule seien ja durch EU-Mittel finanziert worden.
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Fühlen sich diese jungen Menschen denn als ? Rümeysa Sinecek schüttelt mit dem Kopf. Sie identifiziere sich mit Deutschland, nicht mit der EU. Dafür wisse sie auch zu wenig über andere EU-Länder. „Darin liegt ja auch eine Chance der Austauschprogramme der EU. Man kann andere Länder sehen und damit besser verstehen.“