Berlin. Olaf Scholz setzt die Vertrauensfrage als Verhandlungsmasse ein, die Union ist empört. Auf das Land kommen turbulente Monate zu.
Deutschland steuert nach dem Ampel-Aus auf Neuwahlen zu – die große Frage ist nur, wann diese stattfinden. Kanzler Olaf Scholz (SPD) wollte eigentlich erst Mitte Januar im Bundestag die Vertrauensfrage stellen und so einen Urnengang im März ermöglichen, zeigt sich aber inzwischen bei den Terminen kompromissbereit. Bei „Caren Miosga“ sagte Scholz am Sonntagabend, er könne sich vorstellen, die Vertrauensfrage noch vor Weihnachten zu stellen.
Die Union um Kanzlerkandidat Friedrich Merz (CDU) verlangt eine Vertrauensfrage bereits in der kommenden Woche und Wahlen in der zweiten Januar-Hälfte. Dem hat Olaf Scholz nun aber erneut eine Absage erteilt. Die Grünen, die der scheidenden Bundesregierung weiterhin angehören, sind offen für einen frühen Termin.
So oder so steht dem Land eine mehrmonatige Hängepartie bevor. Ganz unabhängig vom parteipolitischen Taktieren müssen in dieser Zeit noch wichtige Entscheidungen getroffen werden. Vermutlich werden SPD, Union und Grüne nicht umhinkommen, sich an der einen oder anderen Stelle zusammenzuraufen. Ein Überblick.
Der zockende Kanzler:
Olaf Scholz verfügt über keine Mehrheit mehr. Der Termin für die Vertrauensfrage und damit für Neuwahlen ist das letzte As, das er noch im Ärmel hat. Er will es einsetzen, um mithilfe der Union noch einige Gesetze durch den Bundestag zu bringen – etwa die Rentenreform, ein Paket zur Belebung der Wirtschaft, die Umsetzung der Europäischen Asyl-Reform und Beschlüsse zur langfristigen Finanzierung der Bundeswehr.
Zustimmung der Union zum einen oder anderen Gesetz gegen eine frühe Vertrauensfrage, das wäre der Deal. CDU und CSU lassen den Kanzler bislang auflaufen. Sie wollen erst die Vertrauensfrage und dann über den Rest reden.
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Vizekanzler Robert Habeck (Grüne) warb am Wochenende im Deutschlandfunk dafür, rechtzeitig das im Grundgesetz verankerte Sondervermögen für die Bundeswehr zu verlängern. Die 100 Milliarden Euro seien 2027 aufgebraucht. Mit Blick auf AfD und BSW, die nach der Wahl womöglich über eine Sperrminorität verfügen werden, meinte Habeck, es sei keine gute Idee, über die Finanzierung der Bundeswehr indirekt mit dem russischen Machthaber Wladimir Putin verhandeln zu müssen.
Der Parlamentarische Geschäftsführer der Unionsfraktion im Bundestag, Thorsten Frei, warnte am Sonntag im Gespräch mit dieser Redaktion vor einem Vertrauensverlust der Politik. Mit Blick auf das Taktieren des Kanzlers sagte Frei: „Profiteure dieses unwürdigen Spektakels sind die politischen Ränder, die mit Hohn und Spott auf die gegenwärtige Lage reagieren.“
Eine Hängepartie könne sich Deutschland nicht leisten. Der scheidende Grünen-Chef Omid Nouripour sagte der Bild am Sonntag: „Wir Grünen könnten auch gut mit einem früheren Termin leben. Wir haben unsere Arbeit gemacht, sind auf alles vorbereitet.“
Der Faktor AfD:
Strategen aus der politischen Mitte gehen davon aus, dass die Rechtsaußen-Partei die Zeit der Unsicherheit bis zur Wahl für schmutzige Tricks im Bundestag nutzen wird. Sie könnte etwa systematisch Anträgen der Union zustimmen und die Merz-Truppe damit in Erklärungsnot bringen.
Oder sie könnte eigentlich aussichtslose Vorschläge der Rumpf-Ampel von SPD und Grünen mittragen und ihnen damit zur Mehrheit verhelfen, was für die Regierung ebenfalls ein Problem wäre. SPD-Generalsekretär Matthias Miersch mahnte am Sonntag: „Jetzt ist die Zeit für alle demokratischen Kräfte, gemeinsam sicherzustellen, dass die AfD niemals das Zünglein an der Waage wird.“
Schutz des Verfassungsgerichts:
Eines der Gesetzesvorhaben, die nach Auffassung vieler Akteure unbedingt noch vor Neuwahlen verabschiedet werden sollten, hat unmittelbar mit der AfD zu tun – und zu einem gewissen Grade auch mit dem linkspopulistischen BSW von Sahra Wagenknecht. Es geht um das Bundesverfassungsgericht.
Die bisherigen Ampel-Parteien und die Union hatten sich bereits darauf verständigt, dass das oberste deutsche Gericht besser vor demokratiefeindlichen Einwirkungen geschützt werden soll. Deshalb ist geplant, wichtige Regelungen in Bezug auf das Gericht ins Grundgesetz zu überführen. Es geht um den Status des unabhängigen Verfassungsgerichts, seine Aufteilung in zwei Senate, die Zahl der Richter, deren maximale Amtszeit von zwölf Jahren und die Altersgrenze von 68 Jahren.
Bisher könnte all das mit einer einfachen Mehrheit im Parlament geändert werden. Ändern sich dort die Kräfteverhältnisse drastisch zugunsten autoritärer Parteien, könnten diese wie ehedem in Polen die Gerichtsbarkeit zu ihren Gunsten umbauen. Werden die Regelungen hingegen ins Grundgesetz aufgenommen, müsste für derartige Änderungen eine Zwei-Drittel-Mehrheit mobilisiert werden.
Die braucht man jetzt auch, um die Verfassung anzupassen. Noch haben die demokratischen Parteien diese Mehrheit. Ob das auf Dauer so sein wird, kann niemand garantieren. Wenn am kommenden Sonntag Bundestagswahl wäre, würden AfD und BSW zusammen auf rund ein Viertel der Stimmen kommen.
Chaos-Wahl nicht ausgeschlossen:
Die Verfassung gibt den Weg zu vorgezogenen Neuwahlen vor: Verliert der Kanzler im Bundestag die Vertrauensfrage (was Scholz auch will), dann hat der Bundespräsident 21 Tage Zeit, den Bundestag aufzulösen. Nach dem Beschluss des Staatsoberhaupts müssen Neuwahlen binnen 60 Tagen stattfinden.
Allerdings gibt es von kundiger Seite erhebliche Zweifel, ob die letztgenannte Frist bei einem frühen Wahltermin nicht zu knapp bemessen sein könnte: Bundeswahlleiterin Ruth Brand schrieb Ende vergangener Woche einen Brief an den Kanzler und warnte, dass bei einem Wahltermin im Januar oder Februar ein ordnungsgemäßer Ablauf des Urnengangs womöglich nicht garantiert werden könnte.
Sie verwies darauf, dass die Parteien noch ihre Listen und Kandidaten aufstellen sowie Länder und Gemeinden die notwendige IT-Infrastruktur ans Laufen und gegen Hacker-Angriffe absichern müssen. Wahlunterlagen müssen beschafft und gedruckt werden, es braucht Wahlhelfer für jedes Wahllokal, die eine entsprechende Schulung benötigen.
„Unabwägbare Risiken auf allen Ebenen“
„Soweit Termine und Fristen in die Weihnachtszeit oder in den Zeitraum zwischen den Jahren fallen würden, wäre der nur sehr knappe Zeitraum von 60 Tagen maßgeblich verkürzt“, schreibt die Bundeswahlleiterin in ihrem Brief an den Kanzler. „Dies könnte zu unabwägbaren Risiken auf allen Ebenen, insbesondere auf Gemeindeebene, führen und Beschaffungsmaßnahmen faktisch kaum realisierbar machen.“ Komme es bei der Wahl zu umfangreichen Pannen, bestehe die hohe Gefahr, „dass der Grundpfeiler der Demokratie und das Vertrauen in die Integrität der Wahl verletzt werden können“.
Alles Panikmache, meint die Union und riet Brand, sich „von niemandem instrumentalisieren“ zu lassen. CDU-Generalsekretär Carsten Linnemann nannte Brands Aussagen „skandalös und beschämend“. Die deutsche Papierindustrie teilte mit, es gebe keinen Mangel an Papier, man könne rechtzeitig liefern.
Bundeswahlleiterin Brand will sich am Montag mit ihren Länder-Kollegen beraten. Der Berliner Landeswahlleiter Stephan Bröchler sagte dem RBB: „Der Januar-Termin wäre ein echtes Problem.“ Der März hingegen wäre „für die Qualität der durchzuführenden Wahlen eindeutig der bessere Termin.“
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