Berlin. Bei einer Sexsucht suchen sich die Betroffenen ständig neue Sexualpartner. Eine 32-Jährige erzählt, wie sie letztlich Hilfe fand.
Seit 2018 erkennt die Weltgesundheitsorganisation (WHO) ein „zwanghaftes Sexualverhalten“ – besser bekannt als Sexsucht – als psychische Störung an. Hilfe bekommen die Betroffenen zum Beispiel bei Selbsthilfeorganisationen wie SLAA, den anonymen Sex- und Liebessüchtigen. Eine von ihnen ist die 32-jährige Marie E., die eigentlich anders heißt. Im Gespräch mit unserer Redaktion hat sie von ihren Erfahrungen berichtet.
Wann hast du gemerkt, dass dein Sexualverhalten zu einem Problem wird?
Marie E.: Ich habe mir Anerkennung und Bestätigung schon in der Pubertät von Jungs gesucht. Mit Mitte 20 habe ich dann zum ersten Mal bemerkt, dass mein Verhalten total entgleist und ich keine Kontrolle mehr habe. Ich war damals in einer langjährigen Beziehung und hatte ständig Angst, von meinem Partner verlassen zu werden oder nicht gut genug zu sein.
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Diese Ängste habe ich mit Affären kompensiert, die irgendwann zu Parallel-Beziehungen wurden. Das hat mich in ein unglaublich schlechtes Selbstwertgefühl und ein schlechtes Gewissen gestürzt.
Hat sich das auch auf das alltägliche Leben ausgewirkt?
E.: Ich steckte in einem Leben fest, das sich weder erfüllt noch glücklich anfühlte. Ich war ein Mensch, der ich nicht sein wollte und der es nicht geschafft hat, nach seinen eigenen Maßstäben zu handeln. Das hat zu einer ganz großen Abneigung mir selbst gegenüber geführt. Dazu kam das schlechte Gewissen.
Ich war so mit mir beschäftigt, dass ich meinen Beruf teilweise nicht mehr ausüben konnte. Auch meine Freundschaften haben gelitten, weil Freundinnen gefragt haben, was ich hier eigentlich mache. Das wollte ich aber nicht hören. Die Sucht hat fast jeden Lebensbereich durchdrungen und irgendwann habe ich mich so geschämt, dass ich mich sogar vor meiner Familie zurückgezogen habe.
Welche Rolle hat Sex dabei gespielt?
E.: Sex war ein Macht-Werkzeug für mich, um schnell Intimität und Bindung zu erzeugen. Wenn ich das Gefühl hatte, alles entgleitet mir, habe ich die Person durch Sex wieder an mich gebunden. Letztendlich war es gar nicht so entscheidend, wer der Mann war. Es gab kein ehrliches Interesse aneinander und das habe ich durch Sex kompensiert.
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Ich komme aus einer alkoholbelasteten Familie. Die Verfügbarkeit von elterlicher Liebe spielt in meinem Fall eine große Rolle. Zwischen meiner Mutter und mir stand lange etwas im Raum, das eine aufrichtige Beziehung unmöglich machte. Dazu kommt ein abwesender Vater und ein Freundeskreis, der sehr früh von sexuellen Erfahrungen geprägt war. Ich glaube, all diese Faktoren spielen da mit rein.
Wie wichtig war dir Sex an sich?
E.: Bei Sexsucht geht es eigentlich nie allein um Sex. Es gibt immer auch eine Sucht nach Anerkennung, Liebe oder Aufmerksamkeit. Die Gewichtung variiert allerdings. Bei mir hat sie sich eben auf diese Weise geäußert – ich kenne aber auch junge Frauen, die sehr viel anonymen Sex über Dating-Plattformen hatten. Andere sind jahrelang in einer abhängigen Beziehung und kommen da nicht raus. Sexsucht hat viele Facetten.
Wann wurde dir bewusst, dass du dir Hilfe suchen möchtest?
E.: Ich habe schon gemerkt, dass ich Dinge immer wieder mache, obwohl ich sie gerne anders machen würde. So richtig ins Rollen kam das Thema aber erst, als meine Mutter trocken wurde und zu den Anonymen Alkoholikern ging. Durch die Angehörigen-Gruppen habe ich erfahren, dass es etliche Gruppen für Menschen gibt, die süchtig sind.
Aus einem Gefühl heraus habe ich dann gegoogelt, ob man auch liebessüchtig oder beziehungssüchtig sein kann und bin bei SLAA gelandet – den anonymen Sex- und Liebessüchtigen.
Hattest du dich vorher schon mit deiner Sucht auseinandergesetzt?
E.: Zu dieser Zeit war ich bereits in Therapie, um das Verhältnis zu meiner Mutter aufzuarbeiten. Da wurde aber nie von Sex- und Liebessucht gesprochen. Ich glaube, dass diese Verhaltenssucht noch sehr unbekannt ist und oft ein bisschen abgetan wird. Für meine Therapeutin war ich einfach eine junge Frau, die sich ausprobieren will und mal nicht zwischen zwei Männern entscheiden kann.
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Wie lief dein erstes SLAA-Meeting ab?
E.: Mein erstes Meeting war ein Online-Meeting in New York. Danach hat es noch eine Weile gedauert, bis ich in ein deutsches Meeting gegangen bin. Da war plötzlich ein Raum, in dem ich dazu gehörte und die Hilfe bekam, die ich sonst nirgendwo bekommen habe.
In den ersten Meetings mitzubekommen, wie ehrlich und auf gewisse Art auch schonungslos sich die anderen Frauen ihrer Sucht stellten, war für mich unglaublich inspirierend. Ich konnte zum allerersten Mal den Abgrund, in dem ich mich befunden habe, aussprechen.
Ich habe Frauen erlebt, die sich erstmals für ein Leben ohne Partnerschaft entschieden haben, um sich selbst kennenzulernen und Wertschätzung für sich zu entwickeln. Diese Suche nach Frieden und Stabilität in sich selbst hat mich so inspiriert, dass ich dachte: Das will ich auch.
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Glaubst du, dass du dir früher Hilfe gesucht hättest, wenn das Thema weniger stigmatisiert wäre?
E.: Auf jeden Fall. Ich glaube, hier spielen drei Faktoren eine große Rolle: Eine starke Stigmatisierung, das fehlende Wissen um Hilfsangebote und die Tatsache, dass sich eine Sex- und Liebessucht oft sehr spät eingestanden und auch von außen selten gesehen wird. Wie oft habe ich von wirklich engen Freunden gehört, dass ich doch nicht so streng zu mir sein soll?
Mir wurde regelmäßig gesagt, dass doch etwas in meiner Beziehung nicht stimmen müsse, wenn ich so oft fremdgehe. Das kann auch durchaus sein, aber viel wichtiger ist: Ich bin so aufgewachsen. Ich wusste an manchen Stellen einfach nicht anders zu handeln, weil bestimmte Handlungen Überlebensstrategien für mich waren.
Ich habe gelernt, dass sich das Leben für mich besser und lebendiger anfühlt, wenn ich mir auf diese Art Anerkennung und „Liebe“ erarbeite. Wenn dann eine moralische Komponente wie Betrug hinzukommt, wird es super schwierig. Man muss sich selbst eingestehen, dass es etwas gibt, wofür ich Hilfe bekommen darf, statt mich nur zu verurteilen.
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