Berlin. Wenn es um Sex geht, herrscht in vielen Beziehungen Sprachlosigkeit: Experten geben Tipps, wie wir darüber reden können – ohne Scham.

Es wird viel über Sex gesprochen – in Filmen, Serien, Zeitungsartikeln, in sozialen Netzwerken und Podcasts. Auch in der Werbung und beim Sortiment im Drogerie- oder Supermarkt wird mit Sexualität offen umgegangen. Zwischen Menschen, die sich am Ende tatsächlich körperlich nah sind, sieht das dagegen oft ganz anders aus.

Dabei können offene Gespräche ungeahnte Horizonte eröffnen, Grübelspiralen beenden und Teufelskreise durchbrechen, zu intimen Momenten und Erfüllung verhelfen oder gar einen zweiten Frühling herbeizaubern.

Wichtig: „Jedes Paar muss für sich selbst entscheiden, ob es über die eigene Sexualität ins Gespräch kommen möchte und wann es dafür bereit ist“, betont Sexualtherapeutin Vivian Jückstock. „Mit Druck ist niemandem geholfen.“ Grenzen müssten nicht nur im Bett, sondern auch außerhalb respektiert werden.

Sex-Gespräch: Angst oder Scheu sollten kein Hinderungsgrund sein

Die Hamburgerin ist im Vorstand der Deutschen Gesellschaft für Sexualforschung. Als Psychotherapeutin spricht sie mit Rat- und Hilfesuchenden unter anderem über deren Sexualleben. „Es braucht immer den eigenen Gedanken, dass es mir oder uns als Paar guttun könnte, über Sex zu reden, oder es stört uns zumindest nicht.“ Dann könne man es einfach ausprobieren, so Jückstock. „Und wenn’s blöd ist, lässt man es eben wieder.“

Grundsätzlich sieht sie viele Vorteile darin, über den eigenen Schatten zu springen, Angst, Scheu und Scham abzulegen. „Meist ist es nämlich so, dass Paare, denen es wirklich guttäte, mal über die eigene Sexualität zu sprechen, genau das tunlichst vermeiden“, sagt Jückstock. Sie rät, sich selbst zu fragen: Was ist besser: in der aktuellen unbefriedigenden Situation zu verharren, diese auszuhalten, oder etwas zu ändern?

Auch Carsten Müller begleitet in seiner Duisburger Praxis für Sexualität seit vielen Jahren Menschen zu allen Fragen rund um das Thema Sexualität. Wichtig ist beiden Experten: Es muss nicht immer erst ein Problem geben, um über Sex zu sprechen. Auch regelmäßig abzuklopfen, ob beide Partner noch auf einem Nenner sind, sei wichtig. Ohne viel Tamtam, fast beiläufig, ähnlich der Frage: Wie geht’s dir heute?

Mit dem Partner über Sex reden: „Ich erlebe eine große Sprachlosigkeit“

Aber selbst das bereitet vielen bereits Probleme: „Ich erlebe eine große Sprachlosigkeit, wenn es um Sex geht“, sagt Müller. „Menschen, die am Versuch scheitern, überhaupt ins Gespräch zu kommen.“ Wenn mit einem als Kind, Jugendlicher und junger Erwachsener nie über solche Dinge gesprochen wurde, wie solle man dann gelernt haben, in Beziehungen und Partnerschaft offen zu kommunizieren?

Dass es sich immer lohnt, genau das nachzuholen, davon ist Müller überzeugt: „Die Wahrscheinlichkeit, dass man irgendwann unzufrieden ist, wenn man nicht miteinander redet, ist sehr groß.“ Paare sollten daher aus seiner Sicht über Sex genauso sprechen wie über den Sommerurlaub.

„Macht ein Partner einfach irgendwas nach Bauchgefühl, dann sind Missverständnisse wahrscheinlich und die Chance auf Unzufriedenheit ist sehr groß.“ In erster Linie sei auch Sexualität erst mal ein Sachthema und als solches solle man es auch behandeln.

„Vokabeltraining“ und Kartenspiele erleichtern Sex-Gespräche

Pauschale Tipps, über was genau gesprochen werden solle, hält Jückstock für schwierig. Der Grund: Die Varianz der Themen – von zu wenig oder zu viel Sex über Körpergeruch, Schmerzen, „Dirty Talk“ bis hin zu ausgefallenen Fantasien – sei riesig und somit auch die Art, die Gespräche anzugehen.

Um Hemmschwellen abzubauen, empfiehlt Müller zum Start eine Art Vokabeltraining: „Wie wollen wir welches Körperteil und Geschlechtsorgan nennen? Was ist die offizielle Bezeichnung? Was genau sind die Funktionen?“ Zu einem späteren Zeitpunkt könnten etwa die Fragen geklärt werden, welche Begriffe vielleicht als zu vulgär oder als erregend empfunden werden.

Ebenso kann es laut Müller ratsam sein, sich fest zu Gesprächen über Sex zu verabreden – nicht jedoch unbedingt im Frontalgespräch. „Spaziergänge oder ein Austausch etwa beim Küche-Aufräumen bieten sich gerade zu Beginn eher an“, meint Jückstock. Die Situation sei weniger verkrampft und Anspannung könne direkt in Bewegung umgesetzt werden.

Um bei solchen Gesprächen nicht selbst Themen vorgeben zu müssen, seien Kartenspiele oder Bücher oft hilfreich, so die Experten. Diese regen mit Fragen, Stichworten oder Aussagen Gespräche über Sex und Intimität, Erfahrungen und Bedürfnisse an. „Damit muss keiner der Beteiligten festlegen, über was er gerne sprechen möchte“, so Müller. „Das kann sehr entlasten und hilfreich sein.“

Bedürfnisse kommunizieren und so mehr Lust erleben

Die Kommunikationspsychologin Johanna Buchholz beispielsweise hat gemeinsam mit ihrer Schwester und dem Rat von Sexologinnen das Kartenset „nackt“ entwickelt – auch um etwas gegen die eigene Sprachlosigkeit zu tun.

Darin enthalten sind unter anderem die Frage nach dem eigenen Stellenwert von Selbstbefriedigung, dem Verhältnis zu Oralsex, aber auch die Frage, warum man überhaupt Sex hat und wie ehrlich man bisher bei seinen Antworten war.

„Sobald die erste Röte aus dem Gesicht gewichen ist, kann man sich selbst viel mehr öffnen und durch die Fragen Themen ansprechen, die unterschwellig vielleicht schon länger gebrodelt haben“, schreibt Giuliana, die durch das Set über Sexualität ins Gespräch kam, in einer Online-Rezension.

Genau darum geht es: „Scham abzulegen und Bedürfnisse zu kommunizieren, das ist das Ziel“, so Buchholz. „Auch wenn Sexualität sehr persönlich und sehr individuell ist, haben alle am Ende doch ähnliche Probleme – insbesondere was Scham und offene Kommunikation betrifft.“ Am Anfang sexueller Beziehungen kaschierten Hormone das noch gut, ergänzt Müller. Danach sei Reden angesagt.