Berlin. Für Gaby Guzek war Alkohol über Jahre hinweg harter Alltag. Heute ist die Autorin Coach für Abhängige – und erzählt ihre Geschichte.

Der Wecker klingelt, ich bin völlig gerädert. Die erste Nachthälfte verdient die Bezeichnung Schlaf nicht. Koma wäre treffender. Um 3 Uhr knallwach, mit dem üblichen Herzrasen. Alltagsdinge pusten sich zu Angstgespenstern auf und sitzen auf meinem Kopfkissen. Irgendwann verziehen sie sich wieder und ich schlafe ein. Zwei Stunden noch – dann muss ich raus.

Den Blick in den Spiegel beschränke ich auf einen Sekundenbruchteil. Das aufgequollene, müde Gesicht mag ich nicht sehen. Gedankennebel umwabert meine Hirnzellen. Es reicht gerade, um die Brote für die Kids zu schmieren. Ein starker Kaffee muss her, an Frühstück ist überhaupt nicht zu denken, mir ist schlecht.

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Verstohlener Blick in den Mülleimer. Wie viel war es denn gestern eigentlich wieder? Zu viel, so viel steht fest. Genauso steht fest: Das war es nun wirklich. Heute Abend trinke ich nichts mehr, das schwöre ich. Dieser Schwur und ich, wir sind seit Jahren beste Freunde. Alle 24 Stunden wiederhole ich ihn.

Volksdroge Alkohol: Allein in Deutschland sind 1,6 Millionen Menschen alkoholabhängig, weitere 6,7 Millionen trinken schädliche Mengen an Alkohol.
Volksdroge Alkohol: Allein in Deutschland sind 1,6 Millionen Menschen alkoholabhängig, weitere 6,7 Millionen trinken schädliche Mengen an Alkohol. © Getty Images | Instants

Alkoholsucht: Wie Abhängige ihren Konsum rechtfertigen

Natürlich habe ich die Lage völlig unter Kontrolle. Ich könnte jederzeit aufhören. Die Tage sind halt nur so anstrengend. Voll berufstätig, selbstständig, drei Kinder. Da braucht man abends was zur Entspannung. Aber auch ohne Stress gibt es immer einen Grund für einen Schluck. Im Urlaub beispielsweise, da lässt man es sich doch gut gehen.

Sicher ist es noch niemandem aufgefallen, wie viel ich trinke. Die Kinder merken zwar, dass ich oft schon um acht auf dem Sofa einschlafe, aber das ist ja auch plausibel. Ich arbeite halt viel und bin müde. Dass ich voll bin, wissen sie ja nicht. Okay, mein Mann ist ein anderes Thema. Der reibt mir mein Pensum schon regelmäßig unter die Nase. Aber ich bin ja schlau und habe mindestens eine Reserveflasche im Haus.

Ex-Alkoholikerin: Ich habe die Sucht geleugnet

Trinken wir nach dem Abendessen etwas, habe ich vorher meinen Küchenwein gekippt. Das ist nichts Schlimmes, das hat Biolek auch immer gemacht. Auch die Zweitflasche ganz hinten im Küchenschrank macht sich gut. Im Laufe des Abends daraus noch was nebenbei und die Menge passt. Gehen wir abends aus, sind diese Extravorräte zum Vorglühen praktisch.

Für mich war klar: Ich bin keine Alkoholikerin. Ich bin glücklich, habe eine wunderbare Familie, ein gutes Einkommen, bin beruflich erfolgreich. Alkoholiker? Das sind die zusammengesunkenen Gestalten vor dem Hauptbahnhof. Sie waren meine morgendliche Bestätigung, wenn ich den ersten ICE erwischen musste, um rechtzeitig zum Termin in Frankfurt zu sein. Egal wie miserabel ich mich fühlte, wie sehr mein Kopf auch hämmerte und wie verquollen die Augen waren – mit den Menschen, die dort saßen, hatte ich nichts gemein. Ich eilte ja mit einer schicken Laptop-Tasche auf Pfennigabsätzen zum Geschäftstermin.

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Dieses Alkoholiker-Bullshit-Bingo ist das dämlichste Spiel der Weltgeschichte: Es gibt nur einen Mitspieler, trotzdem dauert es Jahre, manchmal Jahrzehnte. Noch blöder: Niemand hat es je gewonnen. Ich spielte es schon in der Meisterklasse. Natürlich wusste jeder, dass ich zu viel trinke. Und natürlich hatte ich das alles nicht mehr im Griff. Es hat lange gedauert, bis ich das endlich akzeptierte. Aber irgendwann gestand ich mir ein: Auch ich bin Alkoholikerin.

Autorin Gaby Guzek ist Wissenschaftsjournalistin und Coach. In unserer Serie „Raus aus der Sucht“ beleuchtet sie verschiedene Süchte und Wege aus der Abhängigkeit.
Autorin Gaby Guzek ist Wissenschaftsjournalistin und Coach. In unserer Serie „Raus aus der Sucht“ beleuchtet sie verschiedene Süchte und Wege aus der Abhängigkeit. © Carmen Wilhelmer | Carmen Wilhelmer

Alkoholtherapie: Erschreckende Erfolgsquote, viel Frust bei Abhängigen

Als Wissenschaftsjournalistin schaute ich mir natürlich an, wie jetzt meine Behandlung aussehen würde. Mein Frust wuchs ins Unendliche. Körperliche Entgiftung, danach Langzeittherapie und lebenslanger Besuch einer Selbsthilfegruppe. Erfolgsquote: miserabel. Maximal einer von fünf schafft es so, die Finger langfristig vom Glas zu lassen.

Die gängige Therapie holte mich einfach nicht ab. Ich hatte nie das Gefühl, mein ständiger Drang zum Glas hätte etwas mit meiner Psyche zu tun. Ich musste keinen Kummer wegschwemmen oder mir Mut antrinken, Freunde hatte ich genug und glücklich war ich auch. Ich konnte trotzdem nicht aufhören. Ich war mir sicher: Das lag nicht an einem zu schwachen Willen. Ich bin ein sehr willensstarker Mensch, Durchsetzung ist mein zweiter Vorname. Nur beim Wein, da klappte das nicht.

Für mich fühlte sich das körperlich an. Etwa so, wie meine zuckerkranke Schwiegermutter ihren übermächtigen Drang nach Süßem beschrieb. Diabetiker hecheln dem Zucker ja auch nicht hinterher, weil sie ein „Psychoproblem“ haben. Das hat handfeste medizinische Gründe. War da vielleicht eine Parallele?

„Raus aus der Sucht“: Lesen Sie jede Woche einen neuen Teil unserer Serie.
„Raus aus der Sucht“: Lesen Sie jede Woche einen neuen Teil unserer Serie. © iStock | istock; ZRB

Alkoholabhängigkeit wissenschaftlich erklärt: Das passiert im Hirn

Ich begann zu recherchieren, fräste mich durch die internationale Forschungsliteratur. Ich wollte wissen: Wie entsteht Sucht wirklich? Was passiert da in meinem Kopf? Wie kommt es, dass ich mich wie ferngesteuert fühle und trotz besserer Vorsätze immer wieder trinke?

Je mehr ich las, umso erstaunter war ich. Die Wissenschaft kennt die Antworten auf all diese Fragen. Sucht ist eine medizinisch erklärbare Veranstaltung. Drogen wie auch Alkohol werfen unsere Hirnchemie aus der Bahn und verändern unser Gehirn so, dass am Ende scheinbar nur noch das Suchtmittel das Chaos wieder fixen kann. Bis zum nächsten Rausch. Das alles heilt aber wieder, man kann das in speziellen Hirnaufnahmen sogar sehen. Nur erklärt das Süchtigen niemand. Dabei würde das so viel verändern.

Sucht: Medizinisches Wissen hilft gegen Scham und Schuldgefühle

Wenn ich einmal verstanden habe, was sich da neurobiologisch in meinem Kopf abspielt, warum ich deshalb wie eine Marionette immer wieder die nächste Suchtrunde drehe, dann hat sich das Thema Schuld und Scham erledigt. Es gibt knallharte medizinische Gründe dafür. Mit Willens- oder Charakterschwäche hat das so viel zu tun, wie ein Fisch mit einem Fahrrad.

Ich bin heute knapp acht Jahre trocken und mir geht es so richtig gut. Ich liebe die Freiheit, die die Abstinenz mit sich bringt. Ich bin frei davon, täglich meinen Nachschub ranzuschaffen, ihn zu verstecken und die leeren Flaschen unbemerkt entsorgen zu müssen.

Ich wache morgens mit klarem Kopf und ausgeruht nach einer erholsamen Nacht auf. Und ich weiß, dass ich am Vorabend nicht irgendwelche Nachrichten verschickt habe, für die ich mich morgens abgrundtief schäme. Ich muss nicht mehr lügen und meinen Liebsten wehtun. Ich genieße mein Leben in vollen Zügen. Ich bin un-abhängig.

Zur Person

  • Gaby Guzek (56) ist seit mehr als 30 Jahren Fachjournalistin für Wissenschaft und Medizin.
  • Sie arbeitete nach ihrem Studium unter anderem bei der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ und der Fachzeitschrift „Die Neue Ärztliche“. Jahrelang selbst von schwerer Alkoholsucht betroffen und mit den Therapiemöglichkeiten unzufrieden, begann sie, sich intensiv mit dem Phänomen Sucht auseinanderzusetzen. 2020 veröffentlichte sie im Eigenverlag ihr Buch „Alkohol adé“* und steht heute als Coach in ihrem Forum alkohol-ade.com Alkoholsüchtigen zur Seite.
  • Ihr aktuelles Buch „Die Suchtlüge – Der Mythos von der fehlenden Willenskraft: Wie Sucht im Hirn entsteht und wie wir sie besiegen“ ist bei Heyne erschienen.

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Gaby Guzek: Die Suchtlüge
Der Mythos von der fehlenden Willenskraft: Wie Sucht im Hirn entsteht und wie wir sie besiegen. HEYNE Verlag, Taschenbuch mit 224 Seiten, 13 Euro

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