Berlin. Schmerzmittel werden eifrig verschrieben, machen aber zum Teil süchtig. Gaby Guzek über die schleichende Gefahr und den harten Entzug.

Bis zu zwei Millionen Menschen in Deutschland sind medikamentenabhängig, schätzt die Techniker Krankenkasse (TK). Das wären mehr als alkoholabhängige Menschen. Dabei suchen die Betroffenen meist nicht einmal den Rausch. Ihre Laufbahn beginnt in der Regel beim Arzt oder der Ärztin. Dieser verschreibt Medikamente gegen starke Schmerzen, zur Beruhigung oder zum Einschlafen.

Für eine kurze Zeit sind diese Mittel segensreich, nur machen sie auch relativ schnell abhängig. Bei Benzodiazepinen, also den am häufigsten verschriebenen Beruhigungsmitteln, kann das schon nach zwei Wochen der Fall sein, bei Morphium-ähnlichen Schmerzmitteln geht es mitunter sogar noch schneller.

Sucht auf Rezept: Abhängig von Medikamenten

Auch dann greifen viele Ärzte weiterhin zum Rezeptblock und werden damit gewissermaßen zum „Dealer in Weiß“. Damit das Ganze nicht den Krankenkassen auffällt, stellen einige sogar Privatrezepte aus. Allerdings werden viele Süchtige auch sehr kreativ, wandern von Arzt zu Arzt, mit immer neuen Geschichten, auch die Apotheken wechseln sie. Manche gehen sogar dazu über, die Rezepte zu fälschen.

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Trotz der aufwändigen Beschaffung sind sich die meisten Betroffenen nicht darüber im Klaren, dass sie abhängig sind und schwören Stein und Bein, jederzeit aufhören zu können. Können sie aber nicht. Egal ob Beruhigungs- oder Schmerzmittel: Die Entzugserscheinungen sind brutal, bei schwerer Abhängigkeit können sie sogar lebensgefährlich werden.

Beruhigungsmittel: Zwei von drei Abhängigen sind Frauen über 40

Jeder Dritte, dem ein Beruhigungsmittel vom Arzt verschrieben wurde, erhält das länger als eigentlich medizinisch erlaubt. Die Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen schätzt, dass etwa 1,5 Millionen Menschen von diesen Medikamenten abhängig sind. Zwei Drittel davon sind Frauen über 40 Jahre.

Raus aus der Sucht
Autorin Gaby Guzek ist Wissenschaftsjournalistin und Coach. In unserer Serie „Raus aus der Sucht“ beleuchtet sie verschiedene Süchte und Wege aus der Abhängigkeit. © Carmen Wilhelmer | Carmen Wilhelmer

Der Weg in die Abhängigkeit verläuft wie so oft schleichend. In der ersten Zeit kommen die Betroffenen mit der immer selben Dosis zurecht. Dann aber reicht das nicht mehr, es entwickelt sich eine Toleranz. Die Betroffenen schlucken mehr, um einen Effekt zu spüren.

Die Folge: Sie werden irgendwann teilnahmslos. Die Wesensveränderung fällt häufig zuerst Angehörigen oder Freunden auf, nicht mal dem Betroffenen selbst. Der muss im weiteren Verlauf die Dosis immer weiter hoch setzen und verliert zunehmend die Kontrolle über seinen Konsum.

Benzodiazepinen: Teufelskreis aus Beruhigungsmitteln und Alkohol

Besonders schnell abhängig von Beruhigungsmitteln werden Menschen, die viel Alkohol trinken. Wer viel und regelmäßig trinkt, entwickelt eine Alkoholtoleranz – und die Toleranz für Beruhigungsmittel gleich mit. Deshalb müssen diese Betroffenen die Medikamentendosis viel früher und stärker steigern, um einen Effekt zu erzielen.

Das wiederum ist die Schussfahrt in die Abhängigkeit. Es klingt fast ironisch, aber viele Alkoholiker erhalten in der Klinik Benzodiazepine gegen die Entzugssymptome. Manche Betroffene gehen mit einer Alkoholsucht in die Klinik und kamen mit einer Benzodiazepin-Abhängigkeit wieder heraus.

Sucht bei Beruhigungsmitteln: So schwer ist der Entzug

Ein Entzug ist bei Benzodiazepin kein Zuckerschlecken. Fällt das Beruhigungsmittel weg, läuft der Körper Amok. Übelkeit, Kopfschmerzen, Panik, Unruhe oder Schlaflosigkeit machen den Ausstieg unglaublich schwer. Keinesfalls darf man Benzodiazepine abrupt absetzen, sonst drohen tödliche Krampfanfälle.

Als Königsweg hinaus gilt das Ausschleichen, also die Dosis sehr langsam zu reduzieren. Was sich so einfach anhört, ist oft kaum machbar. Das ist in etwa so, als würde man einem Alkoholiker raten, jeden Tag etwas weniger zu trinken, um dann irgendwann aufzuhören. Vor allem sind die Beruhigungsmittel ja ursprünglich mal aus einem bestimmten Grund verschrieben worden, etwa wegen Unruhe, Angst und Schlafstörungen. Das kommt dann alles wieder – und das muss möglichst weg, wenn der Ausstieg langfristig halten soll.

Schmerzmittel: Ibuprofen, Aspirin und Co. sind nicht harmlos

Viele schlucken Schmerzmittel wie Smarties. Aspirin, Ibuprofen und Co. sind zwar bei weitem nicht harmlos, machen aber nicht wirklich abhängig. Jedenfalls nicht so, wie ihre deutlich potentere Verwandtschaft: Opiate und Opioide.

  • Opiate sind Substanzen, die aus dem Schlafmohn gewonnen werden, also Codein und Morphin, auch Morphium genannt. Aus Letzterem wird Heroin hergestellt.
  • Opioide hingegen sind künstlich hergestellte Wirkstoffe, die allerdings wie Opiate wirken.

Sie alle docken im Hirn an den Endorphin-Rezeptoren an. Endorphine produziert der Körper auch selbst. Sie helfen uns, Schmerzen besser zu ertragen und möbeln unsere Laune kräftig auf. Überschwemmt man die Rezeptoren mit Opioiden, verschwinden Schmerzen komplett. Der Nebeneffekt: Die Patienten merken, wie die Laune steigt und fühlen sich damit sehr wohl. Das wird dann zur Suchtfalle.

Der Wirkstoff Tramadol wird in Deutschland heute oft gegen mäßige bis starke Schmerzen verschrieben. Er gehört genau in diese Kategorie. Ursprünglich hieß es, Tramadol mache nicht abhängig. Heute braucht man nur zwei Klicks, um in Betroffenenforen genau das Gegenteil zu lesen.

This should help ease that pain
Schmerz- und Beruhigungsmittel können zur Suchtfalle werden, etwa im Zusammenspiel mit Alkohol. © iStock | AlexanderFord

Einige künstlich hergestellte Opioide sind sogar noch viel potenter. Fentanyl beispielsweise ist eines der stärksten Schmerzmittel überhaupt – schon betitelt als „Zombie-Droge“. Es ist 50-mal stärker als Heroin und 100-mal stärker als Morphium. In den USA ist Fentanylsucht ein Riesenproblem, alle sieben Minuten stirbt dort ein Mensch an einer Überdosis. Zwei Milligramm Fentanyl reichen dafür aus. Prominentestes Fentanyl-Opfer: Der Musik-Gigant Prince.

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Die Substanz ist rein synthetisch, die Herstellung nicht besonders kompliziert. Illegale Drogenlabore vor allem in Mexiko haben es einfach und der Schmuggel ist unaufwändig. Weil man nur so extrem wenig davon braucht, bleiben die Minimengen in der Regel unentdeckt. Vertrieben werden die Fentanyl-Tabletten sogar über TikTok, Facebook oder Instagram.

Schwere Abhängigkeit: Entzug dauert bis zu einem Jahr

Der Entzug von Beruhigungs- und Schmerzmitteln ist schwierig und teilweise fast brutal. Von den Grauen eines Heroin-Entzugs hat man so eine grobe Vorstellung und Heroin gehört ja nun auch zu den Opiaten. Ärzte versuchen zwar, den Betroffenen mit anderen Medikamenten über das Schlimmste hinwegzuhelfen. Trotzdem kann es gerade bei Beruhigungsmitteln bei schwerer Abhängigkeit bis zu ein Jahr dauern, bis das Thema endlich erledigt ist.

Zur Person

  • Gaby Guzek ist seit mehr als 30 Jahren Fachjournalistin für Wissenschaft und Medizin.
  • Sie arbeitete nach ihrem Studium unter anderem bei der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ und der Fachzeitschrift „Die Neue Ärztliche“. Jahrelang selbst von schwerer Alkoholsucht betroffen und mit den Therapiemöglichkeiten unzufrieden, begann sie, sich intensiv mit dem Phänomen Sucht auseinanderzusetzen. 2020 veröffentlichte sie im Eigenverlag ihr Buch „Alkohol adé“* und steht heute als Coach unter gaby-guzek.com und in ihrem Forum alkohol-ade.com Alkoholsüchtigen zur Seite.
  • Ihr aktuelles Buch „Die Suchtlüge. Der Mythos von der fehlenden Willenskraft: Wie Sucht im Hirn entsteht und wie wir sie besiegen“ ist bei Heyne erschienen.

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