Berlin. Die Krimireihe „Tatort“ ist Kult – aber auch realistisch? Eine Expertin macht den Fakten-Check und erklärt, wie die Polizei arbeitet.
Seit über 50 Jahren zieht die Fernsehreihe „Tatort“ Menschen in Deutschland vor die Bildschirme. Die Zuschauerinnen und Zuschauer verfolgen in rund 90 Minuten einen Kriminalfall von Anfang bis Ende. Aber was hat das eigentlich mit richtiger Polizeiarbeit zu tun?
Gina Rosa Wollinger ist Soziologin und Kriminologin. Seit 2018 lehrt sie an der Hochschule für Polizei und öffentliche Verwaltung Nordrhein-Westfalen in Köln und hat dort mit angehenden Polizei-Anwärterinnen und -Anwärtern zu tun. Im Interview erklärt sie, ob die „Tatort“-Kommissare wirklich alles allein machen müssen und wie realistisch das Bild des Täters ist.
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Schauen Sie selbst gerne und regelmäßig „Tatort“?
Gina Rosa Wollinger: Sehr gerne sogar. Obwohl ich eigentlich nicht so ein Krimi-Fan bin, aber der „Tatort“ ist ja eine Art Institution in Deutschland. Meine liebsten Ermittler sind die aus Münster und Ulrich Tukur in Wiesbaden. Das sind beides zwei „Tatorte“, die gar nicht erst versuchen, realistisch zu sein. Das gefällt mir.
Was die meisten „Tatorte“ gemeinsam haben: Es geht um einen Mord, die Leiche wird am Anfang der Folge gefunden. Beginnen so wirklich viele Fälle?
Wollinger: Die Ermittlungen würden schon so beginnen, dass die Polizei hinzugerufen wird, wenn ein Mensch tot aufgefunden wurde. Dann benötigt es einen Arzt, der feststellt, ob der Tod eine natürliche Ursache hat oder nicht.
Damit Mord zutrifft, müssen spezifische Merkmale erfüllt sein, die unter anderem mit den Motiven des Täters zusammenhängen. Die stehen am Anfang selten fest. Darum ist es falsch, wenn im „Tatort“ sehr schnell von Mord oder Mordermittlungen gesprochen wird.
Kriminologin: „Das dürfte ein rein erzählerisches Element sein“
Nun scheinen die Kommissarinnen und Kommissare im „Tatort“ trotzdem ausschließlich mit Mord beschäftigt zu sein.
Wollinger: Wenn wir das Tötungsdelikt in die Gesamtkriminalität in Deutschland einordnen, bleiben Mord und Totschlag eher eine Ausnahme. In einem Jahr handelt es sich um rund 300 vollendete Morde in Deutschland.
Außerdem wird im „Tatort“ suggeriert, dass die Mordkommission aus einer festen Gruppe besteht und immer die gleichen zwei Personen die Ermittlungen leiten. In Wirklichkeit sind die Gruppen meist aber viel größer und werden, je nachdem wie komplex der Fall ist, immer wieder neu zusammengestellt.
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Aber die Ermittler werden sogar bei privaten Festen angerufen und müssen direkt zum Tatort kommen.
Wollinger: Das dürfte im „Tatort“ ein rein erzählerisches Element sein. Die Beamtinnen und Beamten haben natürlich Urlaub und Freizeit. Die Ermittlungsgruppe sollte groß genug sein, sodass die Arbeit sich gut aufteilen lässt. Übrigens ist auch der Begriff des Kommissars sehr weit gefasst. Bei den „Tatort“-Kommissaren würden wir richtigerweise eher von Sachbearbeitern bei der Kriminalpolizei sprechen.
„Tatort“: Warum die Ermittlungsarbeit in Wahrheit anders aussieht
Das klingt aber nicht nach einem Beruf, bei dem man so viel unterwegs ist, wie es im „Tatort“ gezeigt wird.
Wollinger: Ja, ein großer Unterschied zur richtigen Ermittlungsarbeit ist dann doch, dass der größte Teil davon Büro-Arbeit ist. Es müssen viele Berichte ausgewertet werden. Die Ermittler brauchen nicht direkt eine Leiche zu inspizieren, sondern sie studieren pathologische Berichte oder andere Spurenauswertungen am Schreibtisch.
Die Pathologie befindet sich auch nicht im Keller des Kommissariats, wie es in der Fernsehreihe wirken mag, sondern in einem ganz anderen Gebäude. Übrigens sehen die Leichen viel zu schön aus, es sind zu wenig Leichenflecken, Blut oder Verletzungen zu sehen.
Wird denn die Befragungen von Zeugen korrekt dargestellt?
Wollinger: Die Zeugen werden kaum, wie in den meisten „Tatort“-Folgen, zuhause aufgesucht, sondern in die Dienstgebäude geladen. Zudem müssen die Beamten sie über ihre Rechte aufklären und es muss ein Protokoll angefertigt und unterzeichnet werden. Im „Tatort“ schreibt kaum einer etwas. Auch darf in Befragungen nicht mit Täuschungen gearbeitet werden und es ist nicht erlaubt, heimlich irgendwelche Badschränke in den Wohnungen zu durchsuchen.
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Aber das sieht man im „Tatort“ immer wieder.
Wollinger: Genau, das ist tatsächlich etwas, was mich an der Darstellung der Ermittlungsarbeit stört. Es wird suggeriert, dass man Ermittlungen fast nur erfolgreich durchführen könnte, wenn sich die Beamten nicht an das Recht halten. Dem ist definitiv nicht so. Beweise, die nicht sicher rechtlich erhoben wurden, können vor Gericht normalerweise gar nicht verwendet werden.
Kriminologin Wollinger: „Die leitenden Ermittler sind nicht immer dabei“
Die Ermittler haben häufig direkt einen Plastikbeutel parat und sichern eigenhändig Spuren. Ist das üblich?
Wollinger: Tatsächlich können sie das machen. Allerdings werden in der Regel die Beamten, die für die Spurensicherung zuständig sind, tätig werden. Bei der Sicherung ist jedoch wichtig, die Lage der Spur zu dokumentieren, also ein Foto zu machen, bevor es gesichert wird.
Bei den Festnahmen sind die Kommissare jedoch immer vor Ort und neigen zu kühnen Alleingängen. Es gibt eine Verfolgungsjagd oder sogar Schusswechsel.
Wollinger: Im „Tatort“ sehen wir manchmal, wie jemand festgenommen werden soll und dann über den Balkon entwischt. Da ist die reale Polizeiarbeit doch um einiges professioneller: Es werden Einsatzkräfte aus der Nähe zur Unterstützung und der Umstellung des Gebäudes gerufen.
Die leitenden Ermittler sind auch nicht immer dabei. Je nachdem, wie gefährlich das Ganze ist, wird der Zugriff dementsprechend vorbereitet und mit Personal wie dem SEK begleitet.
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Täter: So realistisch ist die Darstellung wirklich
Die erste Spur entpuppt sich im „Tatort“ gewöhnlich als falsch. Der Täter offenbart sich erst am Ende. Ist das Täter-Bild realistisch?
Wollinger: Ich habe das Gefühl, in vielen Folgen kennen die Täter oder Täterinnen das Opfer oder pflegen Beziehungen zueinander. Die Ausnahme bilden Serientäter. Das ist durchaus wirklichkeitsnah dargestellt: Der soziale Nahraum spielt eine große Rolle. Bei rund zwei Drittel der Tötungsdelikte ist der Täter verwandt oder bekannt mit dem Opfer. Dabei kann es bei der realen Ermittlung durchaus vorkommen, dass diese Person erst im späteren Verlauf der Ermittlungen identifiziert wird.
Mit einer Verhaftung endet die Folge und der Fall. Können sich die Beamten dann in den Feierabend an der Imbissbude verabschieden?
Wollinger: In der Realität hat man ja erst einmal nur einen Tatverdächtigen festgenommen. Damit beginnt die weitere Arbeit. Die Anklage muss fertig gemacht werden und es passiert noch eine ganze Menge, bevor jemand auch wirklich verurteilt werden kann.
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