Berlin. Anne Will moderierte am Sonntag ihre letzte Talkshow. Sie hat alles erlebt: Machtspielchen, Druck und eine deutliche Demütigung.
Aufregende Jahre. Großartiges Team. So viel Spaß. Zum Schwärmen hat sie ihr in 16 Jahren Talk gestähltes Gesicht aufgesetzt, mit diesem leicht spöttischen Anne-Will-Blick. Nein, sie mag zum Abschied nicht mäkeln, auch wenn es Gründe gäbe.
Zu den Gründen zählen zum Beispiel die Machtspielchen der ARD, Disziplindruck und Wochenendverzicht, da das Publikum dämliche Fragen eher verzeiht als drei Kilo zu viel oder das Gerücht, ihr Abschied sei kein Akt reiner Freiwilligkeit gewesen. Ganz abgesehen von der Demütigung 2011, als sie den Sonntag fünf Jahre lang für Günther Jauch räumen durfte.
Anne Will (57) ist ein Kind der ARD, seit sie vor 32 Jahren beim SFB, heute RBB, volontierte. Sie hat das Anforderungsprofil des Senderkomplexes inhaliert: Übe dich klaglos in Gehorsam und behaupte, dass alles dufte sei.
Anne Will trifft jetzt auf junges Publikum
Auffallend befreit tingelt Anne Will seit Wochen durch Uni-Säle oder Podcasts, wo sie auf ein junges, aufgewecktes Publikum trifft, das lineares Fernsehen für den Inbegriff von gestern hält. „Du verlässt die Titanic...“ umriss Podcaster Micky Beisenherz die Lage ebenso hemdsärmelig wie treffend. Sie dementierte nur halbherzig.
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„Anne ist eine exzellente Journalistin, sehr akribisch“, loben Weggefährten, „aber über all die Sonntage hinweg ist sie versteinert.“ Dass offenbar in den Konferenzen weder Husten noch der Biss in einen Apfel gern gehört wurden – geschenkt. Die angebliche Sneaker-Pflicht fürs Team – na gut. Aber am Ende soll auch die Atmosphäre in der Redaktion ein wenig bleiern gewesen sein, heißt es.
Die fröhlich-kritische Sportreporterin, zum Talkstart 2007 mit Journalistenpreisen überhäuft, wurde dem Format gehorchend zur Moderationsbeamtin. Keine Experimente. Manche Sendungen so berechenbar, als sei eine KI am Werk gewesen.
Die einzige Neuerung, die sogenannte „Betroffenencouch“, auf der richtige Menschen aus dem echten Leben erzählten, wurde wieder abgeschafft. „Anne Will“ war zuletzt eine Sendung wie Deutschland: gepflegte Trägheit unter Mehltau.
ARD-Talk: Anne Wills Show hatte die höchste Politikerquote
Zu Recht misstraut Anne Will den „auf Dauerempörung“ angelegten sozialen Medien, die „unsere Gesellschaft aufreiben“. Paradoxerweise aber muss die Sendung nach digitalen Aufmerksamkeitsregeln funktionieren, um zu überleben. Die Generalüberholung darf Nachfolgerin Caren Miosga erledigen.
In der ARD gilt der Sonntag als wichtigste Talk-Bühne, wo sich Sendezeit gegen Wohlwollen der Politik tauschen lässt. Wills Show hat die mit Abstand höchste Politikerquote. Dass Kanzlerin Angela Merkel sich vier Mal zum Solo einlud, ist nicht unbedingt Beleg für journalistische Güte.
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Stolz weist Will darauf hin, dass Friedrich Merz den Besuch stets verweigert habe. Vielleicht zieht der Oppositionsführer einfach nur einen geruhsamen Sonntagabend vor, so wie mancher Zuschauer auch. „Über drei Millionen“ sagt Anne Will mit Blick auf die Quote der vorvorletzten Folge. Immer noch mehr als die Konkurrenz. Aber früher guckten fünf Millionen.
Während sich andere Talks ihr Publikum erkämpfen, profitiert der Sonntagstalk vom Tatort davor. Ein Teil des Millionenpublikums bleibt gewohnheitsmäßig sitzen oder schläft schon. Gehörte der Sonntag einst zum Pflichtprogramm der politischen Klasse, handelt es sich heute bestenfalls um einen Kann-Termin. Schon wieder Norbert Röttgen? Muss nicht.
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Gleichwohl markiert Wills Abschied einen medienhistorischen Moment. Denn beim Sonntags-Talk, Konstante und Heiligtum des deutschen TV, wechseln Moderatoren so selten wie Kanzler.
Den Start 1998 machte Sabine Christiansen, die von Kritikern hingebungsvoll niedergemacht wurde („Sendung mit der Maus“). Assistiert von Stammgästen wie FDP-Chef Guido Westerwelle oder Arbeitgeberpräsident Hans-Olaf Henkel wurde der Standort schlechtgeredet. Es folgten Will, Jauch und wieder Will. Allen dreien war am Ende die Müdigkeit anzusehen. „Floskel-Frisbee“, urteilte Moderator Jörg Thadeusz treffend.
Das Sendungshonorar für Anne Will wird deutlich gekürzt
Nachfolgerin Caren Miosga (54), die Will vor 16 Jahren bei den Tagesthemen beerbte, soll den taumeligen Tanker wieder auf Kurs bringen, allerdings mit deutlich geschrumpftem Etat.
Kassierte Wills Produktionsfirma noch 7,5 Millionen Euro pro Jahr, was neben dem Sendungshonorar von 22.000 Euro weitere 1,2 Millionen Euro Gewinn einbrachte, gab sich Miosgas Miomedia nach drei erbitterten Verhandlungsrunden mit dem NDR mit 5,8 Millionen für etwa 70 Mitwirkende zufrieden.
Spannend wird der Kampf um den neuen Kurs. Während sich ARD-Chefin Strobl eine etwas aufgefrischte Sechserrunde wünscht, steht Miosgas neuer Redaktionsleiter Stephan Kittelmann für radikale Moderne.
Für die Neubelebung der Talkshow wird viel von Miosga erwartet
Gute Talk-Produzenten sind rar wie exzellente Trainer und entsprechend eigen. Kittelmann war bei der Boulevardpresse, im ZDF-Studio Johannesburg, floh nach eineinhalb Jahren Gastspiel bei Will und sorgte maßgeblich dafür, dass „Lanz“ den Schwenk vom Hupfdohlen-Geplauder zur politischen Relevanz schaffte.
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Kittelmann wird das Phrasodrom des betulichen Stuhlkreises gehörig renovieren. Hat Caren Miosga auch die Nerven, das Format gegen die Beharrungskräfte zu modernisieren? Oder endet auch sie in bitterer Routine?
Anne Will scheint den Trennungsschmerz bereits überwunden zu haben. Hat sie sich für ihre letzte von 553 Sendungen am 3. Dezember was vorgenommen? „Nö. Ich sage einfach: ‚Tschüssing‘. Und das war’s dann.“
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