Berlin. Expertinnen erklären, wie und ob man eine psychische Erkrankung bei der Arbeit ansprechen sollte. In einem Fall ist es besonders wichtig.
Depressionen, Burn-out, Angststörungen – in den vergangenen Jahren hat die Zahl der Fehltage wegen psychischer Erkrankungen kontinuierlich zugenommen. Erst vor Kurzem meldete die AOK für 2022 einen neuen Höchststand bei den Krankheitsausfällen aus psychischen Gründen. Im Vergleich zu 2012 stieg der Wert um 48 Prozent an. Zu ähnlichen Ergebnissen kommen auch Erhebungen anderer Krankenkassen. Laut der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde sind jedes Jahr knapp 28 Prozent der erwachsenen Bevölkerung von psychischen Erkrankungen betroffen.
Über die Gründe für den Anstieg wird auch unter Expertinnen und Experten diskutiert. Die Psychotherapeutin und Karriereberaterin Madeleine Leitner sieht vor allem zwei Ursachen: „Zum einen hat sich die Arbeitswelt in den vergangenen Jahren verdichtet, und zum anderen haben wir eine steigende Akzeptanz von psychischen Erkrankungen im Arbeitsumfeld.“ Oftmals seien eine Depression oder eine Angststörung heute noch Tabuthemen, über die viele Menschen nicht gerne redeten, sagt Leitner. „Und wenn, dann ist der Arbeitgeber oftmals die letzte Station.“ Doch wann ist es sinnvoll, den Arbeitgeber einzubinden? Und wie gehen Mitarbeitende dabei am besten vor?
Psychische Erkrankungen anzusprechen, ist eine individuelle Entscheidung
Grundsätzlich gebe es keine Pflicht, den Arbeitgeber über eine psychische Erkrankung zu informieren, sagt Pascal Croset, Fachanwalt für Arbeitsrecht aus Berlin. Arbeitnehmende hätten in diesem Fall keine Aufklärungspflicht. Gleichzeitig seien auch die Arbeitgeber nicht dazu berechtigt, Mitarbeitende nach psychischen Erkrankungen zu fragen. „Aber: Wer will, dass der Arbeitgeber auf bestimmte Dinge Rücksicht nehmen kann, der muss ihn darüber informieren“, so Croset. Das sei jedoch ein Risiko, das Arbeitnehmende sorgfältig durchdenken müssten.
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Ähnlich schätzt das auch Leitner ein. „Die Frage, ob ich mit meinem Arbeitgeber über eine psychische Erkrankung sprechen sollte, sollte immer individuell abgewogen werden. Das ist eine persönliche Entscheidung.“ Ein Patentrezept gebe es nicht. Ein Faktor für die Abwägung seien die Diagnose und die entsprechende Prognose, erklärt sie. „Bei einer Erkrankung, die keine Auswirkungen auf die Arbeitsfähigkeit hat, ist die Lage anders, als wenn klar ist, dass man für mehrere Wochen eine stationäre Behandlung machen muss.“
Individuelle Unternehmenskultur wichtiger Faktor
Weitere Punkte seien das Verhältnis zu den Vorgesetzten und die individuelle Unternehmenskultur. „Wenn ich ein offenes Verhältnis zu meinem Chef oder meiner Chefin habe und auch ein gewisses Maß an Vertrauen, kann es sehr sinnvoll sein, das Gespräch zu suchen“, sagt Leitner. Gleichzeitig gebe es auch heute noch Unternehmen mit einer angespannten Unternehmenskultur, in denen eine psychische Erkrankung als Schwäche gewertet werde und Offenheit negative Auswirkungen haben könnte.
Sinnvoll sei ein Gespräch jedoch grundsätzlich in Fällen, in denen die Erkrankung den Arbeitgeber unmittelbar betreffen würde, sagt Leitner. „Das kann zum Beispiel der Fall sein, wenn ich eine mittelschwere Depression habe und öfter Probleme habe, morgens aus dem Bett zu kommen.“ Der Versuch, die Krankheit zu verschleiern, könnte dann eine zusätzliche Belastung werden.
Reden über Depression: Mit Lösungsvorschlag in das Gespräch gehen
Wer sich dazu entschließe, den Arbeitgeber einzubinden, sollte sich gut vorbereiten, empfiehlt die Karriereberaterin. Im ersten Schritt rät sie dazu, sich Gedanken darüber machen, was das Ziel des Gesprächs sei. „Was will ich erreichen und was kann ich auch erreichen? Will ich meinen Arbeitgeber einfach nur informieren oder möchte ich eine Änderung erwirken?“, so Leitner. „Ich würde empfehlen, dass man sich immer auch überlegt, was man in dem Moment für sich selbst braucht – und dann einen Lösungsvorschlag mitliefern.“
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Leitner nennt das eine „Gebrauchsanweisung für sich selbst“. Dabei gehe es darum herauszufinden, an welchen Stellschrauben sich drehen ließe, damit sich die Situation für die Betroffenen verbessere, aber gleichzeitig auch die Chefin oder der Chef zufrieden sei. „Im besten Fall sage ich meinem Vorgesetzten dann zum Beispiel so etwas wie: Mir wäre geholfen, wenn ich in den kommenden Wochen vielleicht etwas weniger Kundenkontakt hätte und dafür mehr administrative Aufgaben übernehmen könnte“, führt Leitner aus. Wer mit einem Lösungsvorschlag in das Gespräch gehe, sende dem Arbeitgeber direkt ein positives Signal.
Psychische Erkrankungen können auch durch den Job entstehen
„Grundsätzlich ist es ja auch im Sinne des Arbeitgebers, dass man nicht komplett ausfällt, sondern Aufgaben übernehmen kann, die dem Unternehmen nützen“, sagt Leitner. Zudem hätten Arbeitgeber ein Interesse daran, dass es den Mitarbeitenden gut gehe. In einem Fall rät Leitner grundsätzlich dazu, Probleme zu thematisieren: nämlich dann, wenn diese ihren Ursprung am Arbeitsplatz haben. „Depressionen und Ängste können auch durch Mobbing im Job entstehen“, erklärt sie. Ein Gespräch diene in so einem Fall auch dem Selbstschutz.
Auch bei Kolleginnen und Kollegen müsse die Situation individuell abgeschätzt werden, sagt die Psychotherapeutin. „Wenn man ein Vertrauensverhältnis hat, dann kann es sehr vorteilhaft sein, psychische Probleme anzusprechen.“ So werde der Druck herausgenommen, Erklärungen für das eigene Verhalten zu finden.