Berlin. Ob „Maischberger“, „Anne Will“ oder „Hart aber fair“ – die fünf großen Polit-Talks von ARD und ZDF stehen seit langem in der Kritik.
Talkshows gehören zu unserem Leben: Zwölf bis 15 Millionen Bundesbürger verfolgen die fünf großen Shows von ARD (Will, Maischberger, Plasberg) und ZDF (Lanz, Illner) wöchentlich, darunter viele Doppelseher. Jeder zehnte Deutsche bekennt sich zum Talkgucken. Talks liefern Stoff für das Alltagsgespräch in der Kantine oder am Abendbrottisch. Doch der Talk ist in der Krise.
ARD und ZDF: Reformbedarf bei Talkshows von „Anne Will“ bis „Maischberger“
Ein Geheimpapier aus der ARD-Spitze fordert radikale Reformen: mehr Vielfalt an Themen, Gästen, Moderatoren – aber weniger Talkshows. Das war 2012. Die Talker hießen Beckmann, Jauch, Maischberger, Plasberg, Will. Weil deren Redaktionen sich jede Woche die Gäste abjagten, wurde ein Koordinationswerkzeug namens „Wir 5 sind 1“ entwickelt. Leider wirkungslos.
Sogleich trug Schlaufuchs Frank Plasberg eine Latte von Themen und Gästen für seinen Montag ein, sodass für die anderen nicht viel übrigblieb. Plasbergs Wunschgast: „Baron Münchhausen“. Elf Jahre später dasselbe Bild: ARD-Programmchefin Christine Strobl fordert eine „Neujustierung“ von „Anne Will“, „Maischberger“ und „Hart aber fair“, mit schärferen Profilen und mehr Vielfalt.
Ungewohnt scharf mahnte die Gremienvorsitzendenkonferenz der ARD „zeitnahe Information und beratende Einbeziehung hinsichtlich einer künftigen crossmedialen Gesamtkonzeption“ an. Wie das Land, so sein politisches Fernsehen – eine Großbaustelle. Neben Energie- und Verkehrswende braucht Deutschland eine Talkwende.
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Politische Talkshows: Sinnvolle Diskussion oder Bühne für Streit?
Dabei geht es nicht um flottere Studiodeko oder Moderatoren, die auf Tiktok tanzen, sondern um das Erfüllen einer demokratischen Kernaufgabe. Neben Nachrichten und Politmagazinen sorgt Talk für die politische Grundversorgung der Republik: Da verliert sich Wirtschaftsminister Habeck in der Insolvenz einer Bäckerei, SPD-Klingbeil keilt gegen FDP-Lindner, der ukrainische Botschafter ruft nach Waffen, und ohne Lanz wäre Lauterbach wohl nie Minister geworden. Relevanz satt.
Weil es den Privaten nie gelang, eine bundesweit relevante Talkshow zu etablieren, bleibt der abendliche Gesprächskreis ein Monopol der Öffentlich-Rechtlichen. Die Großkrisen Corona, und Nahost bescherten dem deutschen Talk eine Sonderkonjunktur und überdeckten die Probleme: überalterte Zuschauerschaft, viel Déjà-vu, mehr Zoff als Erkenntnisgewinn.
Polit-Talkshows werden durch digitale Medien überholt
Wie orchestriert man Talk in einer aufgewühlten Republik? Diskutieren die richtigen Leute die richtigen Themen in angemessenem Ton? Lässt sich der Schwund klassischer TV-Gucker durch ein Ausweiten ins Digitale kompensieren, ohne sich in der binären Garstigkeit zu verlieren? Dem deutschen Talk geht es wie dem Verbrennermotor: Das Ende ist in Sicht, das Neue noch nicht. Zugleich wächst die Konkurrenz, denn getalkt wird überall im Netz.
Wie groß der Bedarf an guten Gesprächen ist, beweisen die steil steigenden Abrufzahlen von Podcasts. Nachwuchskräfte wie Jan Böhmermann haben zudem auf Youtube so viele Zuschauer wie im linearen Fernsehen. Davon sind Lanz und Co. weit entfernt.
Verlässt sich das ZDF seit Jahren auf drei Mal Lanz und ein Mal Illner die Woche, sucht die ARD nach einer neuen Ordnung. Der quotenstarke Sonntag wird mit Caren Miosga neu besetzt. Auf Urgestein Plasberg folgte Anfang 2023 der junge Louis Klamroth, 34. Ginge es nach Christine Strobl, würde „Hart aber fair“ sich Richtung Internet bewegen und Sandra Maischberger, wie Lanz, drei Mal wöchentlich senden.
Bis heute ist die Medienforschung nicht einmal sicher, wie Talk wirkt. Wägen Bürger die vorgetragenen Argumente neutral ab, um die eigene Meinung zu schärfen? Oder nehmen sie bevorzugt Inhalte wahr, die eigene Einstellungen bestätigen?
Zukunft der deutschen Talkshows: Eine kritische Phase für das öffentlich-rechtliche Fernsehen
Wirkt Talk also tendenziell konservativ, weil er Bestehendes zementiert, oder emanzipatorisch, weil neue Ansätze geboten werden? So wird die Akzeptanz von Talk zu einer Überlebensfrage für das öffentlich-rechtliche Fernsehen: Schaffen die Sender einen demokratischen Mehrwert und damit die Legitimation des Rundfunkbeitrags?
Deutschlands Talker, die sich derzeit in die Weihnachtspause verabschieden, werden in ein bewegtes Jahr starten. Wie entwickelt sich der schwächelnde Sonntag unter der neuen Gesprächsleiterin Caren Miosga? Schafft Louis Klamroth die Quotenvorgaben und hält „Hart aber fair“ im Hauptprogramm? Wird Sandra Maischberger für die ARD künftig drei Mal die Woche antreten, als Gegengewicht zum ZDF mit Markus Lanz? Hat Talkqueen Maybrit Illner nach einem Vierteljahrhundert Talk-Dienst langsam genug? Eines steht jetzt schon fest: 2024 wird ein Jahr der Reformen. In dieser Serie wird die Enkeltauglichkeit der fünf großen deutschen Talks analysiert.
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„Hart aber fair“, „Maischberger“, „Anne Will“: Sind sich die Talks zu ähnlich?
Ein Kernproblem: Das Personal ist ziemlich ähnlich, auch wenn mal ein runder Tisch, mal ein Tresen, mal ein Wohnzimmer im Bild sind. Maischberger (57), Will (57) und Miosga (54) sind westdeutsche ARD-Gewächse und in einer Altersklasse mit Lanz (54) und Illner (58).
Die beiden ZDF-Talker bieten zumindest biografisch etwas Vielfalt. Illner wuchs in der DDR auf, Lanz auf einem Bauernhof in Südtirol. Alle verfügen über die Ausdauer und Disziplin von Kunstturnerinnen: immer fit, optisch stabil und nie gelangweilt, nicht mal beim zwölften Wagenknecht-Auftritt. Das Leben als öffentliches Eigentum, das jederzeit angequatscht und fotografiert werden darf, ist mit der durchaus üppigen Gage abgegolten.
Diese Politikerinnen und Politiker hatten die meisten Auftritte in den fünf Talkshows von ARD und ZDF:
Jahr | Rangsieger | Partei | Anzahl der Auftritte |
2022 | Norbert Röttgen | CDU | 21 |
2021 | Karl Lauterbach | SPD | 40 |
2020 | Peter Altmaier, Karl Lauterbach | CDU, SPD | 14 |
2019 | Annalena Baerbock | Grüne | 10 |
2018 | Robert Habeck | Grüne | 13 |
2017 | Sahra Wagenknecht, Ursula von der Leyen | Die Linke, CDU | 11 |
2016 | Sahra Wagenknecht | Die Linke | - |
2015 | Wolfgang Bosbach | CDU | 11 |
2014 | Wolfgang Bosbach | CDU | 8 |
2013 | Jürgen Trittin | Grüne | 6 |
2012 | Ursula von der Leyen, Wolfgang Kubicki | CDU, FDP | 9 |
2011 | Jürgen Trittin | Grüne | 9 |
2010 | Heiner Geißler | CDU | 12 |
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Studie kritisiert Talkshows – Bildung und Soziales kommen kaum zu Wort
Die Gäste, so kritisiert die Studie „Die Talkshow-Gesellschaft“, entstammen zu zwei Dritteln dem politisch-medialen Komplex, vulgo der „Berliner Blase“. Von insgesamt 544 verschiedenen Gästen im Jahre 2022 vertraten 457 eine Partei. Nationale Themen überwiegen, obgleich viele politische Fragen in der Kommune entschieden werden.
Doch Regionalpolitiker oder -journalisten treten allenfalls in Krisen auf. Die neuen Bundesländer werden vorwiegend als Mangelregionen dargestellt. Große gesellschaftliche Gruppen wie Mindestlohnempfänger oder Alleinerziehende sind kaum vertreten.
„Anne Will“ und Co: „Zugespitzt formuliert“
Die Themen folgen der Logik des Fernsehens. Gefragt sind einfache, konträre und personalisierte Positionen: Merz gegen Scholz, Lindner gegen Habeck, Wagenknecht gegen alle. Zukunftsthemen wie Bildung, Rente, Europa tauchen kaum auf; zu komplex für schlichtes Pro/Contra. Differenzierung gilt als Quotengift, Zoff geht dagegen immer.
Der Stil gehorcht dem Zoff-Diktat. Talk will keine gepflegten Gespräche mit Erkenntnisgewinn wie sie einst Roger Willemsen oder Günter Gaus pflegten, sondern Duell: Konfrontation statt Kompromiss, flotter Spruch toppt differenzierten Gedanken, Schuldzuweisungen und Problembeschreibungen statt konstruktiver Lösungssuche. Die Zuschauer werden mit einem Auweia-Gefühl in die Nacht entlassen.
Der Fetisch Aufmerksamkeit beschert dem Talker widersprüchliche Aufgaben. Für die flüchtige Sichtbarkeit in sozialen Medien sind Krawallschnipsel gefragt, eine komplexe Realität aber verlangt mehr Erklärtiefe. Neben quantitativen Erfolgskategorien wie Quote und Klickzahlen werden neue, qualitative Messkriterien gebraucht.
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Bürger kommen in TV-Talkshows zu kurz
Das Gesellschaftsbild des Talks ist besonders bedenklich. Denn die wöchentlichen Redearenen geben Bürgern das Gefühl, passive Beobachter zu sein, die Politik bewerten wie Internethändler. Demokratie aber ist weniger eine Serviceleistung von „denen da oben“ als vielmehr eine Mitmachveranstaltung. Talk vergrößert die Distanz zwischen Wählern und Politik, anstatt Bürger beispielsweise zum Handeln zu ermutigen.
Würde nur ein kleiner Teil der während Millionen von Talks verbrachten Stunden für bürgerschaftliches Engagement genutzt, hätte das Land einige Probleme weniger.