Menden. Recherchen zeigen, welchen Führungsstil der frühere WSG-Geschäftsführer pflegte - und wie Verfehlungen heruntergespielt werden sollten.
Die Mendener Wirtschaftsförderung steht im Mittelpunkt eines der größten Polit- und Wirtschaftsskandale, den die Hönnestadt je erlebt hat. Neue Dokumente enthüllen, welchen Führungsstil der frühere Geschäftsführer Tim Behrendt an der Bahnhofstraße pflegte und wie der geschasste Aufsichtsratsvorsitzende Peter Maywald versuchte, Missmanagement und Verfehlungen zu vertuschen.
Kapitel I: Ohne Plan in die Zukunft
Um die gesamte Tragweite der Korruptionsvorwürfe rund um die Mendener WSG zu verstehen, muss man zurück an den Anfang. Dezember 2018. Der Stadtrat entscheidet mit großer Mehrheit, den Vertrag mit Geschäftsführer Stefan Sommer nicht mehr zu verlängern. Einzig ein klares Konzept für die Zeit nach Sommers Abgang im Mai 2019 fehlte. So auch ein Nachfolger. Also sprang kurzerhand Kämmerer Uwe Siemonsmeier ein. Im Februar 2020 dann die erlösende Nachricht: Tim Behrendt wird ab Mai 2020 neuer Geschäftsführer. Der durchaus charismatische, junge Mann aus Möhnesee soll die Wende bringen und die Mendener Wirtschaftförderung wieder ankurbeln. Schließlich hat sich die Stadt eines Großprojektes angenommen: des Gewerbegebiets Hämmer II. Das „modernste Industriegebiet Südwestfalens” soll zum Aushängeschild des wirtschaftlichen Aufschwungs in der Hönnestadt werden.
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An Ideen für das Gewerbegebiet mangelt es nicht. Auf bis zu 250.000 Quadratmetern gibt es Platz für neue Unternehmen. Gut ein halbes Jahr nach Amtsantritt gibt Tim Behrendt der Politik einen ersten Überblick. Glaubt man dem WSG-Chef, ist Hämmer gefragter denn je; Unternehmen stehen regelrecht Schlange für ein Plätzchen (WP berichtete). Hämmer, soviel ist klar, ist Chefsache. In Hochzeiten der Corona-Pandemie schafft es Behrendt zudem, die Mendener Innenstadt zu beleben. Auch mithilfe einer Landesförderung geht es Leerständen sprichwörtlich an den Kragen. Manche Unternehmer haben sich selbst in dieser wirtschaftlich herausfordernden Zeit gehalten – manche haben das Feld geräumt.
Intensive Recherche und viele Fragen
Von Dirk Becker
Der Skandal um den Beratungsvertrag, den der ehemalige Aufsichtsratsvorsitzende Peter Maywald mit der WSG Menden geschlossen hat, bewegt die Menschen in unserer Stadt. Dazu konnte es wahrlich nur kommen, weil Tim Behrendt als Geschäftsführer aus der Wirtschaftsförderungsgesellschaft ausgestiegen und so ein Vakuum in der Führung entstanden ist.
Unsere Redaktion wurde im Zuge der Berichterstattung zur WSG immer wieder angesprochen, auch die Person Tim Behrendt näher zu beleuchten und den Geschehnissen vor dessen Ausscheiden auf den Grund zu gehen. Was die Fragenden nicht wissen konnten: Mein Kollege Tobias Schürmann hatte sich längst auf eine intensive Spurensuche begeben.
Er hat vertrauliche Gespräche geführt, Dokumente zusammengetragen und natürlich auch Fragen an alle Protagonisten gestellt. Diese Recherchen erstreckten sich über mehrere Monate. Heute veröffentlicht die WESTFALENPOST erste Ergebnisse dieser Recherchen, weitere Berichterstattungen mit anderen Schwerpunkten werden folgen.
Tobias Schürmann hat unangenehme Fragen gestellt. Er hat viele Antworten bekommen, es bleiben aber auch einige Fragen offen. Das macht er entsprechend kenntlich. Wenn im vorliegenden Text an einigen Stellen von „Recherchen der Westfalenpost“ die Rede ist und Namen nicht genannt werden, dann hat das einen guten Grund: Die Gesprächspartner genießen Informantenschutz. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte bezeichnet den Schutz journalistischer Quellen als Grundvoraussetzung der Pressefreiheit.
Gut vier Jahre später ist von dieser anfänglichen Euphorie nicht mehr viel zu sehen. Zwar ist die Erschließung im Gewerbegebiet Hämmer so gut wie abgeschlossen, einzig an neuen Gebäuden fehlt es. Sitzungsprotokolle, die der Redaktion mittlerweile vorliegen, belegen: Der frühere WSG-Geschäftsführer Tim Behrendt hat die Vermarktung nicht weiter vorangetrieben. Aus den Unterlagen wird klar: „Eine aktive Vermarktung des Gewerbegebietes Hämmer hat nicht stattgefunden.” Dabei ist das lediglich die Spitze des Eisbergs an Verfehlungen und Missmanagements, wie Recherchen der WP dokumentieren.
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Kapitel II: Schikane und ein Bild, das nicht der Wahrheit entspricht
Der Anfang vom Ende der Führungsriege in der WSG beginnt im Herbst 2023. „Mögliche berufliche Neuausrichtungen” hätten dazu geführt, dass Aufsichtsrat und Gesellschafter den Vertrag mit Tim Behrendt auflösen wollen, heißt es dazu am 15. September. „Zur Trennung der WSG von Behrendt mindestens beigetragen haben sollen nach Informationen der WP deutliche atmosphärische Störungen zwischen dem siebenköpfigen WSG-Team und dem Geschäftsführer”, schrieb die WP seinerzeit dazu. Doch anders als das Bild nach außen kommuniziert wurde, nämlich als einvernehmliche Trennung, reichen diese „Störungen” tiefer. Deutlich tiefer.
„Versichern darf ich Ihnen allerdings, dass es während des Dienstverhältnisses von Herrn Behrendt weder Mobbing noch irgendwelche anderen arbeitsrechtlichen Übergriffe meines Mandanten gegeben hat.“
In Protokollen der Aufsichtsratssitzungen heißt es, Behrendt habe seine Mitarbeiterinnen „vor anderen zurechtgewiesen, kritisiert und systematisch fertig gemacht” und auch vor Kündigungsdrohungen keinen Halt gemacht. Intern ist gar von „psychischer Gewalt” und „strukturellen Mängeln im Führungsverhalten” die Rede. Zuletzt herrschte buchstäblich Eiszeit zwischen Mitarbeiterinnen und Chef. Der Führungsstil schwankte zwischen umfangreichem Freiraum bis hin zu kleinlicher Kritik, die auch vor Kunden und Kollegen wiederholt geäußert wurde.
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Doch so verzwickt war die Situation in der Wirtschaftsförderung nicht immer. Zumindest zu Beginn seiner Amtszeit pflegt Behrendt nach WP-Recherchen einen kollegialen Umgang. Von Wertschätzung und Interesse an den Menschen ist die Rede. Irgendwann 2021 kippt die Stimmung jedoch. Teammeetings seien zusehends unorganisierter abgelaufen, klare Arbeitsanweisungen hätten gänzlich gefehlt. Die Einarbeitung neuer Mitarbeiter habe im Grunde nie stattgefunden; stattdessen hätten sie sich selbst Aufgabenfelder suchen müssen. Schikane, Kündigungsdrohungen und Respektlosigkeiten hätten sich gehäuft. „Es sind immer mehr Grenzen überschritten worden”, berichten mehrere Personen aus dem WSG-Umfeld. In der Belegschaft gibt es sogar den Verdacht, dass Behrendt Gespräche über die hauseigene Telefonanlage belauscht haben könnte.
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Zu den Vorwürfen äußert sich Tim Behrendt über einen Anwalt derweil nicht im Detail. Man sei „im Rahmen der ihm gegebenen tatsächlichen und rechtlichen Möglichkeiten gerne bereit, an der Aufklärung des Sachverhalts mitzuwirken”. Doch mit Blick auf die einvernehmliche Beendigung des Dienstverhältnisses könne und dürfe man keine Auskunft geben – es sei denn Stadt und WSG entbünden Behrendt und seinen Anwalt von der Schweigepflicht. „Versichern darf ich Ihnen allerdings, dass es während des Dienstverhältnisses von Herrn Behrendt weder Mobbing noch irgendwelche anderen arbeitsrechtlichen Übergriffe meines Mandanten gegeben hat”, erklärt Josef Wegener dazu. Behrendt habe sich „nichts zuschulden kommen lassen”. Sitzungsprotokolle, die der Redaktion vorliegen, belegen: Vor dem Aufsichtsrat hat Behrendt die Vorwürfe zumindest in Teilen eingeräumt, „aber keine Schuld eingestanden”. Die Begründung: Alles Teil des Führungsstils.
Kapitel III: Rechnungsprüfungsamt wirft viele Fragen auf
Parallel zu einer zusehends angespannten Stimmung innerhalb der WSG soll auch der Austausch zwischen Peter Maywald und WSG-Chef Tim Behrendt deutlich zugenommen haben. Von täglich mehreren Anrufen ist die Rede. Dass ein Aufsichtsratsvorsitzender im engen Austausch zum Geschäftsführer steht, ist zwar einerseits nichts Ungewöhnliches; in dieser Häufigkeit allerdings längst kein Usus. Erst recht, wenn es dabei oft auch um Nichtigkeiten gegangen sein soll, wie mehrere Personen aus dem WSG-Umfeld berichten. In Branchenkreisen stimmen sich Geschäftsführung und Aufsichtsratsvorsitz zwar regelmäßig ab, dabei werden jedoch in der Regel nur grobe Projekte und Termine der kommenden Tage angesprochen. Ein bisschen Small-Talk gehört in diesem Rahmen ebenso dazu.
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Um den Aufsichtsrat als Gremium ist innerhalb der WSG derweil ein großes Geheimnis gemacht worden. Tenor: Das sind die Bösen, mit denen redet man nicht. Je näher Sitzungen des Gremiums rückten, desto dünnhäutiger soll Tim Behrendt reagiert haben. Offene und transparente Kommunikation zu Projekten habe es intern zuletzt überhaupt nicht mehr gegeben. Der Arbeitsrhythmus: von Aufsichtsratssitzung zu Aufsichtsratssitzung.
Dass das Bild des eifrigen und umtriebigen Geschäftsführers über Jahre Bestand hat, soll vor allem seiner einnehmenden Art geschuldet gewesen sein. In Gesprächen soll er sein Gegenüber schnell von absolut gegenteiligen Positionen überzeugt haben können. Als Vertriebler, so ist zu hören, sei Behrendt wirklich gut gewesen. Alles eine Frage des Auftretens. Und genau das soll Behrendt äußerst wichtig gewesen sein. Hinter den Kulissen sollen Tim Behrendt, Peter Maywald und Kämmerer Uwe Siemonsmeier daran gearbeitet haben, eine Holding für sämtliche städtische Tochterunternehmen auf den Weg zu bringen. Mit der Bündelung etwa der Stadtwerke, der WSG, des Stadtmarketings und der Mendigital unter einem Dach sollte ein gemeinsamer Aufsichtsrat in Zukunft die Weichen für alle Unternehmen stellen. Zudem sollen die Pläne vorgesehen haben, die 108-Millionen-Euro aus der Kanalnetz-Übertragung an den Ruhrverband in die Holding zu überführen. Ob und wie das vorbei am Stadtrat hätte geschehen sollen – unklar. Teil der Holding-Geschäftsführung wären dann wohl auch Tim Behrendt und Peter Maywald selbst geworden, heißt es nach WP-Informationen. Auf Anfrage wollen sich beide dazu nicht äußern. Nur so viel will Maywald feststellen: „Ich wollte mich nicht an der Stadt bereichern.” Kämmerer Uwe Siemonsmeier bestreitet auf WP-Anfrage, in die Holding-Planungen involviert gewesen zu sein; allerdings sei die Idee an ihn herangetragen worden - von wem: unklar. Hintergrund war Siemonsmeier zufolge die Frage, ob die Kanalnetz-Millionen eine Teilnahme am Altschulden-Programm des Landes gefährden würden. Die Lösung dafür: die Einlage des Ablösebetrags in eine Holding. „Ich habe die Idee der Holdingstruktur zur Kenntnis genommen. Weitere Gespräche zur Ausgestaltung der Holding haben mit mir nicht mehr stattgefunden”, so Siemonsmeier.
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Nach Interviews, die es mit dem Verwaltungsvorstand zur Aufklärung der WSG-Affäre gegeben hat, kommt das Rechnungsprüfungsamt zu dem Schluss, dass der Kämmerer Peter Maywald als Mehrheitsbeschaffer für die Kanalnetz-Übertragung und den Haushaltsbeschluss gebraucht habe - und deswegen im Aufsichtsrat Informationen über den Beratervertrag Maywalds verschwieg. „Peter Maywald galt unstreitig als Befürworter der Kanalnetzübertragung. Da hat er weder mir gegenüber noch in der Fraktion einen Hehl daraus gemacht. Ob er auch dem Haushalt zustimmen würde, war für mich im Vorfeld nicht erkennbar. Ich habe keine Kenntnis darüber, ob Peter Maywald in der Lage war, Mehrheiten zu beschaffen”, erklärt Siemonsmeier dazu auf WP-Anfrage. Letztendlich scheiterte der Deal mit dem Ruhrverband am Veto des Rates im April 2024 hauchdünn.
Kapitel IV: Was wusste der Aufsichtsrat?
Rückblick. Vertreter des Aufsichtsrats konfrontierten Tim Behrendt mit den Mitarbeitervorwürfen am 6. September 2023. Einige Vorwürfe bestätigt Behrendt dabei auch in Teilen, Schuld sei er allerdings nicht. Das Band zwischen Geschäftsführer und Mitarbeiterinnen ist zerschnitten. Die Folge: Der WSG-Chef sollte die Räume an der Bahnhofstraße nicht mehr betreten. Stattdessen schlugen der inzwischen zurückgetretene Aufsichtsratsvorsitzende Peter Maywald und Stellvertreter Jörg Kötter vor, dass der WSG-Chef selbst kündigt - und weitere sechs Monate Geld von der WSG bekommt. Das Ziel: Der Aufsichtsratvorsitzende wollte den Abgang nach außen „mit einer gezogenen Kündigungsoption in Verbindung mit einem Konkurrenzangebot” verkaufen. Ein Vorgehen, das sich am Ende durchsetzt. Der frühere WSG-Chef wird bis Ende Mai 2024 von der WSG bezahlt, inklusive Dienstwagen. Doch auch hier bringt das Rechnungsprüfungsamt nun einen Stein ins Rollen. Die Mai-Zahlung an Behrendt wird derzeit einbehalten – weitere Prüfungen sollen zeigen, ob angesichts der Umstände nicht sogar Rückforderungen geltend gemacht werden können.
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Selbst schriftliche Aussagen von Mitarbeiterinnen reichten demnach rechtlich nicht aus, um Behrendt fristlos zu kündigen. Dabei bestand im Aufsichtsrat Einigkeit, dass es für den WSG-Chef besser gewesen wäre, selbst zu gehen, um zumindest „mit einem guten Ruf aus dem Unternehmen auszuscheiden”. Allerdings lässt das Fragen offen. Eine Möglichkeit: Im Zweifel hätte der Aufsichtsrat der WSG es auf eine Entscheidung am Arbeitsgericht ankommen lassen können; eine Abfindung wäre so oder so fällig geworden. Geschäftsführer-Verträge sind im Grunde beiseitig unkündbar – es sei denn es gibt „außerordentliche Gründe”. Doch ein solcher Rechtsstreit hätte die Zustände innerhalb des städtischen Tochterunternehmens öffentlich werden lassen können. Eine „gezogene Kündigungsoption in Verbindung mit einem Konkurrenzangebot” lässt sich zudem besser vermarkten.
Die Verhandlungen für die in Augen des Rechnungsprüfungsamtes überzogene Abfindung führte dabei Peter Maywald. Zwar mit einem Mandat des Aufsichtsrates, allerdings wusste dieser dabei noch längst nicht, wie schlimm es wirklich um die WSG bestellt war – erst nachdem die Tinte unter dem Vertrag bereits trocken war. Dabei informierte Maywald Bürgermeister Dr. Roland Schröder bereits am 8. September - zwei Tage nach der Krisensitzung mit Behrendt - über Schwierigkeiten in der WSG-Geschäftsführung; unter anderem darüber, dass wichtige Informationen rund um Hämmer II fehlten. Tatsachen, von denen der Aufsichtsrat bis Ende Oktober zunächst nichts wusste. Das Schreiben bildet gleichzeitig die Grundlage für den Beratervertrag Maywalds (WP berichtete).