Hagen. Das Chaos in Berlin schlägt durch bis auf die lokale Ebene nach Hagen. Die Parteien und Mandatsträger reagieren. Bei der AfD ist die Freude groß.
Chaos in Berlin: Am späten Mittwochabend überschlagen sich die Nachrichten. Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) entlässt Bundesfinanzminister Christian Lindner (FDP). Der Ruf nach Neuwahlen wird laut. Kurz danach verkündet Volker Wissing, dass er aus der FDP austritt und Verkehrsminister bleibt. Die Ereignisse schlagen bis auf die lokale Ebene in Hagen durch. Die Stadtredaktion gibt die Reaktionen wieder.
Katja Graf, Kreisvorsitzende der Hagener FDP
„Für mich war absehbar, dass etwas kommen musste, weil es so ja einfach nicht weitergehen konnte“, berichtet die Hagener FDP-Kreisvorsitzende Katja Graf, dass sie die Nacht der Berliner Entscheidung daheim am Laptop bei „ntv“ verfolgt habe. „Der Kanzler hat überreagiert“, betrachtet sie die Lindner-Vorschläge als gutes Papier, das die wirtschaftlichen Notwendigkeiten rund um Bürokratieabbau, Steuerentlastungen sowie Migration auf „völlig legitime Weise“ angesprochen habe: „Schulden auf nächste Generationen zu verlagern, ist einfach keine Lösung.“ Eine florierende Wirtschaft sei eben die entscheidende Basis für jegliches staatliches Handeln.
„Schulden auf nächste Generationen zu verlagern, ist einfach keine Lösung.“
Ansonsten blickt Graf vor allem angesichts der Jahreszeit mit Respekt auf den bevorstehenden, eisigen Straßenwahlkampf: „Wir sind zwar in die Planung schon eingestiegen, müssen jetzt jedoch auf zielgerichtete Arbeitsamkeit umschalten.“ Dabei signalisiert sie Optimismus, dass die liberale Spitzenkandidatin Katrin Helling-Plahr es über einen aussichtsreichen Listenplatz erneut für Hagen in den Bundestag schaffen werde – vorausgesetzt, die Fünf-Prozent-Schwelle wird für die FDP nicht zur unüberwindbaren Hürde. „Wir müssen die Menschen einfach davon überzeugen, dass wir nicht die Verhinderer sind.“
Katrin Helling-Plahr, FDP-Bundestagsabgeordnete aus Hagen
Die Hagener FDP-Politikerin Katrin Helling-Plahr, die ihre Heimatstadt seit 2017 im Bundestag vertritt, unterstützt den Kurs von Christian Lindner: „In wirklich jedem Gespräch mit Bürgerinnen, Bürgern und auch Unternehmen, auch hier bei uns in Hagen, wurde in den letzten Wochen und Monaten überdeutlich, dass es so nicht weitergehen kann. Mir liegt meine Heimat am Herzen.“
An der Frage, ob unsere Unternehmen erfolgreich wirtschaften könnten, würden Arbeitsplätze und die Zukunftsfähigkeit unserer Stadt hängen, so die Mutter von zwei Kindern: „Wir brauchen eine Wirtschaftswende. Wir müssen unser Land wieder auf Erfolgskurs bringen.“ Dazu brauche es weniger Bürokratie, weniger Steuerlast und eine vernünftige Klima- und Energiepolitik. „Leistung muss sich lohnen“, so Helling-Plahr. Und: „Wir müssen mehr Ordnung in der Migrationspolitik schaffen.“
Die FDP sei zu dem Schluss gekommen, dass SPD und Grüne das offenbar nicht so sehen: „Sie verharmlosen die Sorgen der Bürgerinnen und Bürger.“
„Meine Fraktion und ich habe klare Prinzipien und Überzeugungen. Wir haben dennoch stets große Kompromissbereitschaft gezeigt.“
Darüber hinaus habe Bundeskanzler Olaf Scholz den Bruch der Koalition kalkuliert provoziert, indem er von Christian Lindner verlangt habe, Verfassungsbruch zu begehen und die Schuldenbremse zu ignorieren. Dass Sozialdemokratie und solide Haushaltspolitik nicht zusammengehen, hätte die SPD auch in Hagen lange bewiesen: „Meine Fraktion und ich habe klare Prinzipien und Überzeugungen. Wir haben dennoch stets große Kompromissbereitschaft gezeigt. Das gilt auch für mich persönlich in vielen Verhandlungsstunden und -tagen mit den Koalitionspartnern. Am Ende aber muss es immer um unser Land gehen.“
Weitere spannende Themen aus Hagen
- 40 Jahre im Job: Hagener hat nicht nur schöne Dinge erlebt
- Neue Großtagespflegestelle in Wehringhausen eröffnet
- Weihnachtsmärchen in Hagen: Kinder sind ein unberechenbares Publikum
- Pyro-Vorfall in Trier: Harte Strafe für Phoenix Hagen
- Josefs-Hospital: Kritik an Shuttle-Service und Chefparkplatz
- Krise bei Bilstein: Wie der Betriebsrat Jobs retten will
- Geld: Diese Stadt bleibt weiter ohne Schulden
- Hagen-Boele: Ein kleines Deko-Lädchen erobert die Nachbarschaft
- Sturm auf den Reichstag: AfD-Politiker erstattet Anzeige
Scholz täte gut daran, die Vertrauensfrage jetzt möglichst zügig zu stellen, so Helling-Plahr, die im Falle von Neuwahlen gerne wieder für den Bundestag kandidieren würde: „Wenn die FDP in meinem Wahlkreis mich wieder unterstützt.“ Sie stehe persönlich auch in Zukunft dafür bereit, Verantwortung in diesem Land zu tragen.
Timo Schisanowski, SPD-Bundestagsabgeordneter und Parteivorsitzender in Hagen
Ex-Finanziminster Christian Lindner habe die Regierungsarbeit in Berlin schon seit geraumer Zeit mit viel Streit und wenig Sacharbeit belastet, findet Timo Schisanowski: „Bis an die Schmerzgrenzen und völlig verantwortungslos. Unser Land hat lange genug mitansehen und aushalten müssen, dass Lindner immer wieder Streit in die Regierungsarbeit getragen hat.“ Dem FDP-Vorsitzenden sei es zunehmend um seine eigene Profilierung und das politische Überleben der FDP gegangen, aber nicht mehr um seriöse Regierungsarbeit zum Wohle unseres Landes.
Daher sei es richtig weil notwendig gewesen, dass Bundeskanzler Olaf Scholz aus Verantwortung für das Land eine Richtungsentscheidung getroffen habe, indem er den Bundespräsidenten um die Entlassung von Finanzminister Lindner gebeten habe, so Schisanowski, der bei einer Neuwahl erneut für den Bundestag kandidieren wird: „Jetzt braucht Deutschland Klarheit und Stabilität: Deshalb streben wir richtigerweise einen geordneten Übergang zu vorgezogenen Neuwahlen im Frühjahr 2025 an.“
Gemeinsam mit der SPD und Olaf Scholz werbe er für eine Politik, welche die richtigen Antworten auf die drängenden Herausforderungen bereithalte, betont der Hagener: „Neue Impulse für die Wirtschaft und sichere Arbeitsplätze, zusätzliche Investitionen in unsere Infrastruktur und Kommunen, einen klaren Fokus auf unsere innere und äußere Sicherheit sowie einen starken, gerechten Sozialstaat.“
Dr. Janosch Dahmen, Bundestagsabgeordneter der Grünen
„Wir erleben hier im politischen Berlin gerade außerordentliche Tage in einer wiederum außerordentlich krisenhaften Gesamtlage in der Welt“, erklärt der Grünen-Bundestagsabgeordneter für Hagen, Dr. Janosch Dahmen. „Nicht nur der Krieg in der Ukraine und Nah-Ost, sondern auch die Verantwortung, die nach der Wahlentscheidung in den USA auf Deutschland lastet, ist größer denn je.“ Leider habe sich Christian Lindner entschieden, dieser Verantwortung nicht gerecht werden zu wollen. Kanzler Scholz und Vizekanzler Habeck seien sich deshalb einig gewesen, dass eine weitere verantwortungsvolle Zusammenarbeit mit Christian Lindner und der FDP so nicht mehr weiter möglich ist. „Und ich teile diese Einschätzung.“
„Wir stehen weiter handlungsfähig und vollumfänglich zu unserer Verantwortung bis zur Wahl einer neuen Regierung.“
Dahmen legt aber Wert auf die Feststellung, dass in Berlin nun keine Übergangsregierung das Sagen habe. „Wir stehen weiter handlungsfähig und vollumfänglich zu unserer Verantwortung bis zur Wahl einer neuen Regierung“, so Dahmen. Für alle notwendigen Entscheidungen, die keinen Aufschub duldeten, werde man im Parlament für die notwendigen Mehrheiten werben. „Dazu gehört für mich mit Blick auf die Kommunen, dass es zeitnah einen Haushalt braucht, damit die Projektfinanzierungen aus dem Bund, die bei uns vor Ort und bei den Trägern in unseren Städten ankommen, beschlossen werden und wir Planungssicherheit und Stabilität bieten können.“
Als gesundheitspolitischer Sprecher werde er sich dafür einsetzen, dass so wichtige Gesetze wie die Notfallreform noch in dieser Legislatur vom Parlament abgeschlossen würden. „Es kommt jetzt darauf an, dass sich alle, insbesondere auch die Union, ihrer Verantwortung für unser Land, Europa und die Ukraine bewusst werden“, so Dahmen. „Jetzt ist keine Zeit, um zu Lasten der Bevölkerung politisch zu taktieren, es braucht jetzt Verantwortung, Verlässlichkeit und vor allem Taten.“
Dennis Rehbein, CDU-Kreisvorsitzender und OB-Kandidat für Hagen
Keineswegs überrascht reagiert der Hagener CDU-Vorsitzende Dennis Rehbein auf das Platzen der Ampel-Koalition in Berlin: „Ich hatte für die nächsten Tage eine Entscheidung erwartet. Das Lindner-Papier war faktisch eine Scheidungserklärung, zeugte von wenig politischem Stil und erinnerte am Ende ein wenig an Kindergarten“, interpretiert der lokale CDU-Chef die letzten Tage in Berlin als Ausdruck fehlender Verantwortungsbereitschaft für das Land.
„Das Lindner-Papier war faktisch eine Scheidungserklärung, zeugte von wenig politischem Stil und erinnerte am Ende ein wenig an Kindergarten.“
Zugleich zeigt sich Rehbein enttäuscht, dass der Bundeskanzler erst im Januar die Vertrauensfrage stellen wolle: „Entweder man glaubt an das Konstrukt einer Minderheitsregierung und zieht dieses dann auch bis zum Ende durch oder man muss sofort die Vertrauensfrage stellen.“ Zugleich betrachtet der Hagener OB-Kandidat die Scholz-Erklärung zum Finanzminister-Rauswurf als Sinnbild der gesamten Regierungsarbeit: „Man fragt sich allerdings, warum es erst jetzt passiert, wenn bis dahin alles schon so schlimm war.“
Dass der Wahlkampf jetzt ein halbes Jahr früher stattfinde, sei – obwohl die Kampagne in Berlin bereits gut vorbereitet werde – für den Hagener Kreisverband durchaus eine große Herausforderung: „Wir haben das Szenario zwar zuletzt durchaus mitgedacht, aber es gibt dennoch reichlich zu organisieren“, verweist Rehbein beispielhaft auf die Gestaltung und rechtzeitige Beschaffung von Fotos, Plakaten und Merchandising-Artikeln, die jetzt natürlich von allen Parteien plötzlich in der Kürze der Zeit und ohne große terminliche Puffer geordert würden.
Mit Blick auf die Kommunalwahl im September, die ursprünglich parallel zum Bundestagswahlkampf stattfinden sollte, sieht der CDU-Chef durchaus die Chance, jetzt die lokalen Themen wieder mehr in den Fokus zu rücken. Allerdings hätte er sich als Kandidat auch gewünscht, dass die Stichwahl zum OB-Amt, die am Tag der Bundestagswahl angestanden hätte, von einer hohen Wahlbeteiligung profitiert hätte.
Tobias Rödel, Kreisverbandssprecher der Grünen
Die Hagener Grünen saßen am Mittwochabend im Vorstand zusammen, als die Nachricht aus Berlin durchsickerte. „Wir hatten unmittelbar nicht damit gerechnet, aber ein Aus für die Ampel war zumindest eine Option, die wir in der Vergangenheit im Hinterkopf hatten“, so Kreisverbandssprecher Tobias Rödel.
„Wir hatten unmittelbar nicht damit gerechnet, aber ein Aus für die Ampel war zumindest eine Option, die wir in der Vergangenheit im Hinterkopf hatten.“
Da schon länger klar ist, dass der jetzige Grünen-Abgeordnete Janosch Dahmen den Wahlkreis wechselt, hatte sich die Kreispartei bereits vor einiger Zeit mit der Kandidatenfrage für die kommende Bundestagswahl beschäftigt. Der Hagener Dr. Thomas Jalili Tanha soll für die Grünen antreten. Aber: Dass er bei seiner ersten Bundestagswahl gleich einen aussichtsreichen Listenplatz ergattert, dürfte eher unwahrscheinlich sein. „Wir wollen auch perspektivisch einen Kandidaten aufbauen“, so Rödel. Auf jeden Fall sei eine vorgezogene Bundestagswahl herausfordernd.
Ansonsten blickt Rödel mit gemischten Gefühlen auf die jüngsten Ereignisse in Berlin. „Ich persönlich habe mir da noch keine abschließende Meinung gebildet“, so Rödel. Noch sei ja auch offen, wie ein mögliches Misstrauensvotum am Ende ausgehe.
Michael Eiche, Fraktionsvorsitzender der AFD in Hagen
„Wir sind in einer ähnlichen Situation wie die CDU und freuen uns, dass Neuwahlen kommen werden. Wir bangen ja nicht um irgendwelche Mandate, ganz im Gegenteil. Wir sind von den Umfragen und der politischen Stimmung her im Aufwind. Wir bereiten uns lokal deshalb nun auf eine kürzere Frist für die Bundestagswahl zunächst vor“, sagt Michael Eiche.
„Wir sind in einer ähnlichen Situation wie die CDU und freuen uns, dass Neuwahlen kommen werden. Wir bangen ja nicht um irgendwelche Mandate, ganz im Gegenteil. “
Vorbehaltlich einer offiziellen Nominierung durch den Hagener Kreisverband wirft der Hagener AfD-Fraktionschef sowohl für das Amt des Oberbürgermeisters als auch für den Bundestag seinen Hut in den Ring. Die OB-Kandidatur werde im Frühjahr nächsten Jahres bekanntgegeben. „Ich bin ganz bei Friedrich Merz und finde, es müssen sofortige Neuwahlen kommen. Eine zu lange Hängepartie wäre auch ein fatales Signal an unsere Wirtschaft. Ich sehe auch Probleme mit Blick auf unsere maroden Brücken in Hagen, wo wir ja auch von übergeordneten Stellen abhängig sind. Olaf Scholz wird das bis Januar nicht durchhalten. Der Haushalt ist ja auch noch nicht beschlossen.“
Die AfD ist in Hagen derweil dabei, ihre Liste für die Kommunalwahl aufzustellen, die nach hinten hin länger werden müsse, so Eiche. „Wir brauchen mehr Leute.“ Eine Verdopplung der Sitze im Rat hält Eiche aktuell für realistisch. Das wären dann zehn statt bislang fünf Sitze.
Mit Blick auf das OB-Amt hält Eiche den Einzug in die Stichwahl für mindestens realistisch. „Dann bin ich mal gespannt, ob man mir später zum Beispiel ein Bürgermeister-Amt anbietet. So ist das ja oft bei denen, die in der Stichwahl waren. Wenn ich aber sehe, was im Osten zuletzt alles unternommen wurde, AfD-Abgeordnete von Spitzenämtern auszuschließen, dann sieht man ja, warum Wähler immer frustrierter werden.“
Aktuell hat der Hagener Kreisverband der AfD rund 140 Mitglieder. In den vergangenen zwei Jahren sei die Zahl verdoppelt worden. Wöchentlich würden Aufnahmeanträge gestellt, so Eiche.