Dortmund. Zwischen Jugendstil und Graffiti: Die bunte Mischung macht das Unionviertel in Dortmund besonders. Ein Rundgang.

Dortmunderinnen sind hart im Nehmen. Von gefühlten fünf Grad Celsius, Dauerregen und einem schneidigen Wind lassen sich die Frauen doch nicht ihre Nachmittagslaune verderben. Die Tour „Jugendstil im Unionviertel“ ist gebucht, also wird sie gemacht! In Regenjacke und Gummistiefeln, mit Schirm und (westfälischem) Charme geht’s los. Ausgerechnet am Westpark, fast genau an der Stelle, wo jüngst im Dortmund-Tatort noch die Leichen im Gully und dann im Tiefstollen verschwanden…

Gästeführer Wolfgang Kienast, wind- und wasserdicht mit dem Fahrrad angerollt, ist ein bisschen überrascht und irgendwie auch beeindruckt, dass die Zahl der Mitläuferinnen und Mitläufer bei diesem Wetter die Zweistelligkeit erreicht. Seine Architektur-Führungen finden aber nun mal im Winter statt, erklärt er, weil klares Licht und kahle Bäume den besten Blick auf Häuser und Fassaden freigeben.

Dortmunder Unionviertel: Einst Arbeiterquartier für Bier und Stahl

Das dicht bebaute Unionviertel, nur durch die Lindemannstraße vom hippen Kreuzviertel getrennt, war nie so schick wie sein bevorzugtes Nachbarquartier, wo einst das Bürgertum baute und heute die akademische Mittelschicht hohe Altbau-Wohnungen heizt.

Im Unionviertel wohnten die Arbeiter, die Anfang des 20. Jahrhunderts im Quartier in acht (!) Brauereien und auf zwei Stahlwerken schafften. Hier war damals noch nichts schick. Im Gegenteil, die Wohnverhältnisse waren prekär, das „Schlafgängertum“ war gang und gäbe. Betten – nicht Zimmer – wurden stundenweise vermietet und teils an mehrere müde Mieter immer warm weitergegeben. Bis der Wohnungsinhaber selbst schlafen ging. Für viele Familien war das ein guter Nebenverdienst.

„Spar- und Bauverein eG Dortmund“ prägt Unionviertel

Je mehr Arbeiter kamen, desto größer wurde der Wohnungsdruck. Um der Not in Dortmund entgegenzuwirken und Arbeitern sowie Angestellten „bezahlbares und gesundes Wohnen in solidarischer Selbsthilfe zu ermöglichen“, gründeten Dortmunder Bürger vor 130 Jahren die „Spar- und Bauverein eG Dortmund“, die heute 12.000 Wohnungen quasi in jeder Größe in Dortmund unterhält.

In allen Jahrzehnten ihres Bestehens hat die Genossenschaft qualitativ hochwertigen Wohnraum geschaffen und instandgehalten. Spar- und Bau-Mieter wissen das zu schätzen, die Wartelisten für Wohnungen sind lang, 21.000 Genossen freuen sich nach wie vor über eine attraktive jährliche Dividende – immerhin noch vier Prozent. Nachhaltiger geht Wohnungswirtschaft nicht.

Stuckornamente zieren eine Jugendstilfassade im Dortmunder Unionviertel.
Stuckornamente zieren eine Jugendstilfassade im Dortmunder Unionviertel. © FUNKE Foto Services | Svenja Hanusch

Wie der Jugendstil nach Dortmund kam

So wird der Jugendstil-Spaziergang im Unionviertel auch zu einer Leistungsschau von Spar- und Bau, die bereits 1894 hier die ersten 48 Wohnungen fertiggestellte, später ganze Zeilen und komplette Quartiere errichtete: schlossartige Wohnanlagen für Arbeiter mit prachtvollen Fassaden, schönen Türen, vielen schmuckvollen Details und großzügigen Höfen – alle tipptopp saniert.

Es war Albert Baum, der damalige Direktor des Museums für Kunst und Kulturgeschichte, der den Jugendstil nach Dortmund brachte. 1900 hatte er den Zug zur Weltausstellung in Paris genommen, war begeistert und mit ein paar Musterbüchern im Gepäck nach Westfalen zurückgekehrt. Die verteilte er an Architekten und Handwerker wie Fliesenleger, Putzer oder Stuckateure.

Es waren die ersten Berührungen von Reformbewegung mit Biertrinkern. Dortmund fand seinen eigenen Stil. So etwas wie „Straßenköter-Jugendstil“ sei entstanden, erzählt Wolfgang Kienast, meint das aber überhaupt nicht despektierlich. Kienast, freier Autor, der auch Führungen zur Brauereigeschichte anbietet, ergänzt: „Wir hatten hier eben keinen Mäzen wie Karl-Ernst Osthaus in Hagen, keine berühmten Künstler und waren nicht reich.“

So entstand reiner Jugendstil, aber öfter noch ein Mix aus Jugend- und Heimatstil neben Neo-Barock und Renaissance-Anleihen. Die Mischung macht’s, und Wolfgang Kienast zeigt viele gelungene Beispiele: florale Elemente in Barock-Formaten, Girlanden an Renaissance-Giebeln, sehr beliebt bei Bauherren als Fassadenschmuck waren auch Fratzen, Masken, Köpfe und Tiere aus Stein.

Familienwohnungen mit Schlafplätzen für Ledige

Dann geht’s noch vorbei an einem Highlight: der Kaserne der Paulinenhütte, eine der letzten „Arbeiterkasernen“ des Ruhrgebiets. Die Wohnanlage stammt aus dem Jahre 1857, hatte einst 16 Familienwohnungen und 100 Schlafplätze für Ledige.

Der Vorteil des Zusammenwohnens: Die Mütter und Töchter der Arbeiter konnten für die ledigen Männer mit putzen, waschen und kochen. So hatte es sich zumindest die Werksleitung der ehemaligen Eisenhütte gedacht. Der dreigeschossige Riegel mit verbindenden Turmbauten steht natürlich unter Denkmalschutz.

Nach eineinhalb Stunden sind das Notizbuch durchnässt, die Aufzeichnungen verwischt, die Finger eiskalt, und der Kuli gibt seinen Geist auf. Schön war’s trotzdem. Finden auch die anderen Spaziergänger. Vorfreude auf die Sitzheizung im Auto und später ‘ne warme Wanne sei trotzdem erlaubt.

Zwischen Jugendstil und Graffiti: die Fassaden im Dortmunder Union-Viertel.
Zwischen Jugendstil und Graffiti: die Fassaden im Dortmunder Union-Viertel. © FUNKE Foto Services | Svenja Hanusch

Alle Infos zur Tour durch Dortmunds Unionviertel

Der geführte Spaziergang zeigt eine eher unbekannte Seite des Unionviertels, dauert 90 Minuten und kostet acht Euro, ermäßigt vier Euro. Tickets gibt es an der Kasse des Museums für Kunst und Kulturgeschichte, Hansastraße 3 oder online: dortmunder-museen.de/kunst-im-oeffentlichen-raum

Die Dortmunder Spaziergänge zur Kunst im öffentlichen Raum können auch separat gebucht werden; zum Beispiel für eine Geburtstagsfeier, den Betriebsausflug oder für externe Gästegruppen. Anfragen an kior@stadtdo.de.