Oberhausen. In Oberhausen gibt es einen neuen Audiowalk. Er führt zu den Schauplätzen der Romane von Ralf Rothmann. Was Besucher erwartet.
Die höchste Erhebung in Oberhausen ist, so wie in den meisten Kohle-und-Stahl-Städten des Ruhrgebiets, eine Abraumhalde, gerade mal von dreistelliger Höhe. Auf dem Tackenberg im Stadtteil Sterkrade geht es lediglich bis 72 Meter über Normalnull, und es ist nicht einmal die höchste natürliche Erhebung in Oberhausen.
Als Schauplatz der vier grandiosen Revier-Romane und vieler damit verwobener Kurzgeschichten von Ralf Rothmann nimmt das Viertel an der Tackenbergstraße jedoch eine Spitzenposition in der Ruhrgebiets-Literatur ein. Ein am vergangenen Sonntag erstmals begangener „Audio-Walk“ verknüpft sehr gelungen die literarische Welt von Rothmann mit den Orten des Geschehens.
„Overhausen“: Sechs Passagen aus Ralf Rothmanns Romanen vertont
Stadtführerei im klassischen Sinne darf man also von Till Beckmann und den „Spielkindern“ nicht erwarten, die im Auftrag des Literaturhauses Oberhausen die Audio-Tour „Overhausen – Ralf-Rothmann-Wege“ realisiert haben.
Sechs prägnante Passagen aus den Romanen „Milch und Kohle“ (2002), „Wäldernacht“ (1994) und „Junges Licht“ (2006) hat die (eigentlich aus Essen kommende) „Spielkinder-Truppe“ in sehr professioneller Hörspiel-Manier vertont.
Ralf-Rothmann-Audiowalk Oberhausen: Charly Hübner als Sprecher
Die Beckmann-Geschwister sind bekennende „Rothmannisten“. Till Beckmann hat das Drehbuch zur Kinoverfilmung von „Junges Licht“ mitgeschrieben, die Ruhrgebietsfilm-Regisseur Adolf Winkelmann („Jede Menge Kohle“) 2016 verfilmt hat mit Charly Hübner in der Hauptrolle des Bergmann-Vaters, und eben dieser Charly Hübner spricht auch im Audio-Walk mit.
Nicht zu übersehende lilafarbene Schilder zeigen an allen Stationen des „Walk“ einen QR-Code, per Smartphone geht es von der Kardinal-von-Galen-Grundschule am Tackenberg einmal um den Block – verlaufen dank der Beschreibung ausgeschlossen.
Besondere Entdeckungstour durch Oberhausen für „Rothmannisten“
Am Ende steht der „Siedlerkrug“ an der Siedlerstraße, letzte Kneipe des in seinen Grundzügen seit Rothmanns Zeiten unveränderten Viertels, die Till Beckmann noch in geöffnetem Zustand entdecken konnte.
Die sechs Episoden umfassen zwischen sechs und 14 Minuten und sind zu lang, um sie an dieser Stelle auch nur ansatzweise wiederzugeben. Man muss die Rothmann-Bücher nicht im Kopf haben, um Gefallen an der Vertonung zu finden. „Rothmannisten“ dagegen dürfte auffallen, dass die Hörspielfassung an vielen Stellen eine unverhoffte, das Absurde bloßstellende Komik in die Schilderung hineinträgt, die beim ohrenlosen Lesen unentdeckt bleibt.
Ralf Rothmann: deutlich autobiografisch gefärbte Geschichten
Schließlich gibt es in den deutlich autobiografisch gefärbten Geschichten von Ralf Rothmann nie eine Erlösung für seine Figuren, kein dauerhaftes Glück, nur lebenslanges Leiden. Vater und Mutter kommen als von Maschinen ersetzte Melker aus Norddeutschland ins Land von „Milch und Kohle“. Er erlebte als SS-Mann wider Willen das Kriegsgrauen und musste seinen Freund an der Front erschießen, sie wurde auf der Flucht vor den Russen mehrfach vergewaltigt.
Die Kinder wachsen in der Sprachlosigkeit ihrer Eltern auf, er arbeitet und trinkt bis zum sozialen Autismus, sie arbeitet und trinkt und lässt ihre Wut brutal an den Kindern aus, flieht in Affären, er in Seitensprünge.
Ralf Rothmann: Ausbruch aus der Kleinbürgerlichkeit
Den überall drangsalierten und in jedem Sinne armen Kindern bleibt als Alternative nur der Ausbruch aus der Kleinbürgerlichkeit, erst als Jugendliche über die Stadtgrenze nach Essen zu Discos und Drogen wie in „Stier“ (von 1991), später ganz weg vom Ruhrgebiet wie Rothmann, Jahrgang 1953, selbst. Er ging 1976 nach West-Berlin und kam nur ganz selten wieder.
In seinen Romanen ist der Tackenberg und die unheile Welt der Bergarbeiterviertel nie nur reine Kulisse wie in so vielen Heimatromanen oder -krimis, sondern bestimmt die Handlung mit. Zum Projekt der „Spielkinder“ äußerte sich der zurückhaltende Schriftsteller zumindest schriftlich sehr angetan.
Literatour in Oberhausen
Beim ersten von drei geplanten Audiowalks zu Rothmann in – Achtung, Wortspielkinder – „Overhausen“ finden sich nur noch selten unverstellte Ansichten aus den 60er-Jahren. Buntrahmige Isolierfenster und energiegedämmte Schulfassaden, hinter denen früher mit dem Stahllineal geprügelt wurde; aufgeständerte Stahlbalkone mit Milchglasscheiben vor sauber verputzten Mehrfamilienhäusern, wo Kochlöffel oder Teppichklopfer eingesetzt wurden, bis Blut floss. Oder Urin.
Nur an der St. Jakobus Kirche mit der an eine Kaufhausverkleidung erinnernden Fassade scheint die Zeit stehengeblieben zu sein. Wer es in den Innenraum schafft, hält unwillkürlich Ausschau nach dem ebenfalls prügelnden Pfarrer mit dem gelben Raucherdaumen.
Und wer nicht auf den zweiten (im Frühjahr) und dritten Walk warten will: Die Tackenbergstraße weiter hinauf laufen bis zu ihrem Höhepunkt und weiter noch bis zu den nach Flözen benannten Straßen und der Taunusstraße mit ihren Hufeisen-förmigen Abzweigen, noch nicht durchsaniert und mit den eingesackten Holzgaragenreihen im Mittelpunkt. Und wenn dann Rothmanns Schläger Racko Fetzer aus „Wäldernacht“ um die Ecke kommen sollte, daran denken: Es ist nur Literatour.
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