Essen. Ralf Rothmanns neuer Roman „Die Nacht unterm Schnee“ erzählt von den Wunden, Narben und Traumata der Nachkriegszeit. Das Ende einer Trilogie.

Einmal mehr ließ sich Ralf Rothmann für seinem neuen, gerade erschienenen Roman „Die Nacht unterm Schnee“ vom Werdegang seiner Eltern inspirieren, zusammen mit den Vorgängern „Im Frühling sterben“ (2015) und „Der Gott jenes Sommers“ (2018) ergibt sich gar eine Trilogie sehr unterschiedlicher Romane mit gewissen Überschneidungen, die freilich nicht nur einzeln gelesen werden können, sondern es auch sollten.

„Im Frühling sterben“ umkreiste den profunden, dramatischen Entscheidungskonflikt des Jünglings Walter, der zur Waffen-SS zwangsrekrutiert wurde und im Erschießungskommando seines besten Freundes steckt, der Fahnenflucht begangen hat.

„Der Gott jenes Sommers“ erzählt von den Schrecken des Nazi-Regimes in Auflösung

„Der Gott jenes Sommers“, ebenfalls in den letzten Monaten des Zweiten Weltkriegs spielend, macht jenen Walter zur Randfigur – erzählt wird von den Schrecken des Nazi-Regimes in Auflösung aus der Perspektive einer Zwölfjährigen, deren leidenschaftliche Lektüre kontrastiert mit der hedonistischen bis panischen Endzeit-Stimmung um sie herum.

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Und nun erzählt eine pensionierte Bibliothekarin diesseits der Jahrtausendwende im Rückblick die Geschichte eines Ehepaars, das wiederum deutlich Ralf Rothmanns Eltern nachempfunden ist, vom harten Melker- und Kellnerinnen-Dasein im Schleswig-Holstein der unmittelbaren Nachkriegsjahre bis zum Tod der beiden vom Leben hoffnungslos Verbrauchten im Oberhausen der Kohle-Zeit.

Eine emanzipierte und selbstbestimmte Frau der 1950er-Jahre

Diese Bibliothekarin wirkt für eine junge Frau der 50er-Jahre sehr emanzipiert und selbstbestimmt, auch beim körperlichen Zugriff auf Männer. Aber wahrscheinlich brauchte es diese Perspektive für den vorurteilsfreien Blick auf die eigentliche weibliche Zentralfigur Elisabeth, die selbst in der Todesanzeige noch Liesel heißen wird, weil sie es so wollte.

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Eingeschoben in die Geschichte vom Nachkriegsaufstieg des Ehepaars sind Szenen von Flucht und Vergewaltigung der jungen Liesel im letzten Winter des Krieges durch russische Soldaten. Ohne es explizit zu machen, bietet der Roman dieses Trauma als Erklärung eines Lebens an, das mit lauter Arbeits-, Konsum- und Vergnügungssucht den blinden Fleck dieser Ungeheuerlichkeit zuzudecken versucht.

In seinem neuen Roman geht es Ralf Rothmann um die Menschen im Revier

Was Rothmann hier von den Menschen im Revier der 60er- und 70er-Jahre erzählt, ist unbedingt authentisch, lässt das Banale und Brutale dieser Zeit noch einmal ohne Nostalgie und Verklärung aufleben, ohne die Menschen mehr zu verurteilen als die Verhältnisse, in denen sie leben.

Dass aus dieser so nachhaltig kriegsversehrten Familie ein Schriftsteller namens Wolf hervorgeht, passt dazu wie das literarische Programm, das die Bibliothekarin gegen allen Erfindungsreichtum eines Schriftstellers ausgibt: „Vielmehr schreibt er, was nur er schreiben kann: seine eigene, von den Echos und Schatten der Vergangenheit und dem Vorschein der Zukunft umschwebte Geschichte.“

Dass wir das gleich zu Beginn dieses Romans lesen, mutet an wie Selbst-Rechtfertigung, die Ralf Rothmann allerdings nicht nötig gehabt hätte.